Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwertung eines Sachverständigengutachtens ohne Entscheidung über die begründete Ablehnung eines Sachverständigen
Leitsatz (amtlich)
Verwertet das Berufungsgericht ein Sachverständigengutachten, ohne über die substantiiert begründete Ablehnung des Sachverständigen zu entscheiden, so liegt darin ein Verfahrensmangel, der bei Entscheidungserheblichkeit der betroffenen Tatsachenfeststellung zur Zurückverweisung führt.
Normenkette
SGG § 118 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, §§ 162, 170 Abs. 2; ZPO §§ 42, 406 Abs. 5
Verfahrensgang
SG für das Saarland (Entscheidung vom 20.10.1992; Aktenzeichen S 15 J 89/92) |
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 24.02.1994; Aktenzeichen L 1 J 15/93) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit (EU/BU) erfüllt.
Die im Jahre 1943 geborene Klägerin entrichtete im Mai 1968 ihren letzten Beitrag an die Rentenversicherung (RV). Bei Durchführung des Versorgungsausgleichs nach erster Ehescheidung wurden der Klägerin für die Ehezeit vom 1. Juli 1965 bis 31. August 1984 Rentenanwartschaften in der gesetzlichen RV übertragen. Während des zweiten Ehescheidungsverfahrens beantragte die Klägerin am 18. März 1991 die Gewährung der Versichertenrente wegen EU/BU. Nach medizinischer Sachaufklärung (ua Einholung eines Gutachtens von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. O. ≪Dr. O.≫) lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 6. September 1991 mit der Begründung ab, daß die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung nicht erfüllt seien. Die Klägerin habe nicht "zuletzt" eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt, weil von den letzten 60 Kalendermonaten nicht mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung belegt seien (§ 1247 Abs 1 und Abs 2a der Reichsversicherungsordnung). Es sei auch kein Anspruch unter Zugrundelegung von Art 2 § 6 Abs 2 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) gegeben. Im übrigen sei die Klägerin nach ärztlichen Untersuchungsergebnissen nicht wegen ihres Gesundheitszustandes berufs- oder erwerbsunfähig. Der hiergegen eingelegte Widerspruch war erfolglos. Im Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 1992 führte die Beklagte zusätzlich aus, es beständen keine Anhaltspunkte für einen Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 30. Juni 1984.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 20. Oktober 1992 abgewiesen und in den Entscheidungsgründen im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei zwar gegenwärtig erwerbsunfähig, ein Rentenanspruch scheitere aber daran, daß sie seit 1968 keine Beiträge zur RV mehr entrichtet und die EU nicht vor dem 1. Juli 1984 bestanden habe (Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG).
Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) über den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles der verminderten Erwerbsfähigkeit bei der Klägerin Beweis erhoben durch Einholung ärztlicher Behandlungsunterlagen und nervenärztlicher Gutachten. Hierbei hat das LSG zunächst den Arzt Dr. O. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Nachdem die Klägerin davon Kenntnis erhalten hatte, hat sie beim LSG beantragt, den Sachverständigen Dr. O. wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, weil er bereits im Verwaltungsverfahren im Auftrag der Beklagten ein für sie ungünstiges Gutachten erstattet habe. Auf Anfrage des LSG hat Dr. O. mitgeteilt, daß er das Gutachten schon erstellt habe und dem Gericht in den nächsten Tagen übersenden werde. Nach Eingang des für die Klägerin im Ergebnis negativen Gutachtens hat das LSG den Sachverständigen Dr. R. (Dr. R.) mit der Erstattung eines weiteren Gutachtens beauftragt. In diesem Gutachten hat Dr. R. ua das gerichtlich eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. O. für überzeugend gehalten.
Ohne über den Befangenheitsantrag der Klägerin zu entscheiden, hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß die Klägerin erst seit dem 1. Oktober 1991 erwerbsunfähig sei. Ein früherer Eintritt des Versicherungsfalles lasse sich ua aufgrund des von Dr. O. im Berufungsverfahren erstatteten Sachverständigengutachtens nicht feststellen. Da die Klägerin indessen den letzten Beitrag an die RV im Mai 1968 geleistet habe, sei ein Rentenanspruch nicht gegeben.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verfahrensmängel und macht ua geltend, das LSG habe sich im Urteil auf das gerichtlich eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. O. gestützt. Fehlerhaft sei, daß über ihren Ablehnungsantrag nicht entschieden und diesem auch nicht stattgegeben worden sei. Wenn eine solche Entscheidung vor dem Urteil ergangen wäre, hätte sie, die Klägerin, hierauf zB durch Stellung weiterer Beweisanträge reagieren können. Die Verfahrensweise des LSG stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs dar.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts für das Saarland vom 20. Oktober 1992 und des Landessozialgerichts für das Saarland vom 24. Februar 1994 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. September 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Rügen der Klägerin für unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch den erkennenden Senat statthafte Revision der Klägerin ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Das Urteil des LSG leidet an einem Verfahrensmangel. Die Rüge der Klägerin, das LSG habe über den Befangenheitsantrag nicht entschieden, stellt einen Verfahrensmangel dar.
Gemäß § 118 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm §§ 406, 42 der Zivilprozeßordnung (ZPO) kann ein gerichtlich bestellter Sachverständiger wegen Besorgnis der Befangenheit auf Antrag eines Prozeßbeteiligten abgelehnt werden. Einen derartigen Antrag hat die Klägerin während des Berufungsverfahrens gestellt. Hierüber mußte das LSG vor dem Urteil entscheiden. Diese Entscheidung hätte das LSG gemäß § 406 Abs 5 ZPO, auf den § 118 Abs 1 SGG für das sozialgerichtliche Verfahren ebenfalls Bezug nimmt, unmittelbar nach Anbringung des Ablehnungsgesuchs in einem von der Endentscheidung getrennten Beschluß - sogar nicht einmal erst in den Entscheidungsgründen der Endentscheidung - treffen müssen. Der Gesetzgeber hat die Frage, ob ein Ablehnungsgrund gegen einen Sachverständigen vorliegt, rasch und endgültig bereinigt sehen wollen und zu diesem Zweck ein besonderes Verfahren mit einer selbständigen Anfechtbarkeit der Entscheidung eingerichtet. Unterläßt das Gericht, welches das Gutachten verwertet hat, eine solche gesonderte, der Sachentscheidung vorausgehende Beschlußfassung, so ist dies rechtsfehlerhaft (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 31. Juli 1975 - SozR 1750 § 406 Nr 1 und Beschluß vom 29. April 1982 - SozR 1500 § 160 Nr 48; Bundesarbeitsgericht ≪BAG≫, Urteil vom 31. Mai 1960 - BB 1960, 606; Bundesfinanzhof ≪BFH≫, Urteil vom 17. Februar 1987 - BB 1987, 1592; Bundesgerichtshof ≪BGH≫, Urteile vom 6. November 1958 - BGHZ 28, 302, 306, vom 4. Dezember 1958 - NJW 1959, 293 und vom 14. November 1978 - MDR 1979, 398, jeweils mwN).
Der erkennende Senat kann die vom LSG unterlassene Entscheidung nicht nachholen, weil die Entscheidung in die ausschließliche Zuständigkeit des LSG fällt (§ 406 Abs 2 und 4 ZPO).
Der Senat hat auch davon abgesehen, dem LSG während des Revisionsverfahrens Gelegenheit zu geben, den unterlassenen Beschluß nachzuholen, was vereinzelt für zulässig gehalten wird (vgl Münchener Komm-Damrau, § 406 ZPO RdNr 8 mwN). Eine solche Verfahrensweise würde rechtsstaatlichen Grundsätzen eines ordnungsgemäßen Verfahrens jedenfalls in den Fällen widersprechen, in denen - wie hier - das Ablehnungsgesuch rechtzeitig und in zeitlich langem Abstand vor der Endentscheidung angebracht worden ist.
Der Senat vermochte sich schließlich nicht der Auffassung anzuschließen, in der Revisionsinstanz könne der hier vorliegende Verfahrensmangel nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz führen (vgl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 53. Aufl, 1995, § 406 ZPO RdNr 31). Die Klägerin wäre rechtlos gestellt, wenn sie in einem solchen Fall nicht mit der Revision rügen könnte, daß das Urteil auf einem Gutachten beruht, das möglicherweise, dh wenn dem Ablehnungsgesuch stattgegeben worden wäre, nicht hätte verwertet werden dürfen.
Unbeachtlich ist auch, daß ein die Ablehnung für unbegründet erklärender Beschluß des LSG nach § 177 SGG nicht anfechtbar gewesen wäre und infolgedessen nach § 202 SGG iVm § 548 ZPO nicht der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterlegen hätte. Abgesehen davon, daß von der Erfolglosigkeit des Ablehnungsgesuchs nicht ohne weiteres ausgegangen werden kann (vgl BSG, Beschluß vom 31. Mai 1958 - SozR Nr 1 zu § 42 ZPO und Urteil vom 11. Dezember 1992 - SozR 3-1500 § 128 Nr 7), wurde der Klägerin durch die Unterlassung des LSG, die Ablehnung für begründet oder unbegründet zu erklären, zumindest die Möglichkeit zu weiteren Beweisanträgen genommen.
Mit der vorliegenden Entscheidung hält sich der Senat im Rahmen der Rechtsprechung des BSG (SozR 1750 § 406 Nr 1) sowie des BAG und des BFH (jeweils aaO). Der Entscheidung steht auch der Beschluß des BSG vom 29. April 1982 (aaO) nicht entgegen, weil sich die dort vertretene abweichende Meinung ausdrücklich nur auf ein erst nach Einreichung des Gutachtens angebrachtes Ablehnungsgesuch bezieht und offenläßt, ob die Rechtslage anders zu beurteilen wäre, wenn das Ablehnungsgesuch - wie hier - vor der Einreichung des Gutachtens angebracht worden ist. Die Urteile des BGH vom 4. Dezember 1958 und 14. November 1978 (jeweils aaO) stehen nicht entgegen, weil in den dort zu beurteilenden Verfahren über das Ablehnungsgesuch jedenfalls in den Urteilsgründen entschieden worden war, während im vorliegenden Fall eine Entscheidung gänzlich fehlt. Gleiches gilt für das Urteil des BGH vom 6. November 1958 (aaO), das sich - anders als hier - mit den Rügen befaßt, ob ein erstinstanzlicher Beschluß, durch den ein Ablehnungsgesuch zurückgewiesen worden ist, und die Auswahl eines Sachverständigen durch das Berufungsgericht (ohne Ablehnungsgesuch) mit der Revision angegriffen werden können.
Eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (§ 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes) kommt daher nicht in Betracht.
Das angefochtene Urteil beruht auf dem bezeichneten Verfahrensmangel. Da das LSG sich in seiner Entscheidung an mehreren Stellen ausdrücklich (auch) dem Gutachten des Sachverständigen Dr. O. angeschlossen hat und dieser befangen sein kann, besteht die Möglichkeit, daß die Entscheidung des LSG anders ausgefallen wäre, wenn das LSG ordnungsgemäß verfahren hätte.
Die fehlerhafte Behandlung des Ablehnungsgesuchs durch das LSG führt deshalb zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob weitere von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmängel vorliegen und zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führen würden.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1049522 |
Breith. 1996, 446 |