Leitsatz (amtlich)
Zur Abgrenzung zwischen "psychiatrischen Krankenhäusern" und "psychiatrischen Abteilungen" iS des § 368n Abs 6 RVO.
Normenkette
RVO § 368n Abs 6 S 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) verpflichtet ist, mit der Klägerin einen Vertrag über die Erbringung ambulanter psychiatrischer Leistungen in deren Klinik abzuschließen.
Die Klägerin ist der Träger des Zentralkrankenhauses (ZKH). Die Klägerin hat von der Beklagten den Abschluß eines Vertrages "über die ambulante Erbringung ärztlicher Maßnahmen der psychiatrischen einschließlich der psychotherapeutischen Versorgung" (§ 368 Abs 6 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) begehrt. Sie brachte vor, daß es sich bei dem ZKH um ein psychiatrisches Krankenhaus iS des § 368n Abs 6 Satz 2 RVO handele; die drei somatischen Disziplinen Medizin, Chirurgie und Neurologie mit 415 Betten seien in den psychiatrischen Bereich mit 2116 Betten eingegliedert. Die Ambulanz solle vor allem der Versorgung solcher Patienten dienen, die nach der Entlassung nicht zu motivieren seien, einen niedergelassenen Arzt aufzusuchen, jedoch zu einer Nachbetreuung in der Klinik bereit seien. Außerdem würden die zur stationären Behandlung eingewiesenen Patienten bis zum Freiwerden eines Bettes schon durch die Ambulanz diagnostisch und therapeutisch versorgt werden. Bei weiterer ambulanter Behandlung im Rahmen der therapeutischen Maßnahmen der Klinik könnten Patienten auch früher entlassen werden. Die Beklagte (KÄV) sowie die Beigeladenen zu 1) und 2) haben dagegen den Standpunkt vertreten, daß im Sinne des § 368n Abs 6 Satz 2 RVO das ZKH kein "psychiatrisches Krankenhaus", sondern ein Krankenhaus "mit selbständigen psychiatrischen Abteilungen" sei, so daß es der Feststellung des Landesausschusses der Ärzte und Krankenkassen bedürfe, daß der Vertragsabschluß zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung erforderlich ist. Der daraufhin einberufene Landesausschuß kam in der Sitzung vom 4. Oktober 1979 zu der Ansicht, daß es sich bei dem ZKH um ein allgemeines Krankenhaus mit selbständigen psychiatrischen Abteilungen handele und daß ein Vertragsabschluß zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung nicht erforderlich sei. Die Beklagte hat hierauf mit Bescheid vom 22. November 1979 den begehrten Vertragsabschluß abgelehnt. In der Begründung hat sie ua ausgeführt, daß die ambulante Versorgung durch die niedergelassenen Nervenärzte gewährleistet sei, da bei einem Bedarf von einem Arzt für 50 000 Einwohner die vorhandenen 19 Nervenärzte ausreichen würden, auf 29 500 Einwohner einen Nervenarzt kommen zu lassen und darüberhinaus weitere 17 Ärzte zur Durchführung psychotherapeutischer Leistungen ermächtigt seien. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das sozialgerichtliche Urteil und den Bescheid der Beklagten (in der Fassung des Widerspruchsbescheides) aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verpflichtet. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts und beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 1. Juni 1983 - L 6 Ka 2/82 - aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 23. Juni 1982 - S 1 Ka 6/80 - zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen zu 3) und 4) haben sich den Ausführungen der Beklagten angeschlossen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
§ 368n Abs 6 RVO Satz 1 bis 3 in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der ambulanten und teilstationären Versorgung psychisch Kranker vom 26. Februar 1986 (BGBl I 324) lautet:
Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind verpflichtet, mit ärztlich geleiteten Einrichtungen, insbesondere Krankenhäusern, auf deren Verlangen Verträge über die ambulante Erbringung der in § 200f aufgeführten ärztlichen Leistungen zu schließen und diese Leistungen außerhalb des Verteilungsmaßstabes nach den zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenhäusern oder deren Verbänden vereinbarten Sätzen zu vergüten. Satz 1 gilt entsprechend für Verträge mit psychiatrischen Krankenhäusern und Allgemeinkrankenhäusern mit selbständigen, unter fachärztlicher Leitung stehenden psychiatrischen Abteilungen über die ambulante Erbringung ärztlicher Leistungen der psychiatrischen einschließlich der psychotherapeutischen Versorgung. Bei Verträgen mit Allgemeinkrankenhäusern bedarf es außerdem der Feststellung des Landesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, daß der Vertragsabschluß zur Sicherstellung dieser ambulanten Versorgung erforderlich ist.
Diese Fassung enthält gegenüber dem Wortlaut der durch das Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Dezember 1976 -KVWG- (BGBl I 3871) eingefügten Vorschrift des § 368 Abs 6 Satz 2 RVO, von der die bisherigen Entscheidungen auszugehen hatten, inhaltlich insoweit nur unwesentliche Änderungen.
Wie das LSG rügelos seinem Urteil zugrunde gelegt hat, wurde vom Landesausschuß der Ärzte und Krankenkassen festgestellt, daß der Vertragsabschluß zur Sicherstellung der ambulanten (psychiatrischen einschließlich der psychotherapeutischen) Versorgung nicht erforderlich sei. An diese Feststellung ist der Senat nach § 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG- gebunden. Sie beinhaltet nicht allein die Tatsache, daß der genannte Ausschuß die angeführte Meinung geäußert hat, sondern umgreift auch das tatsächliche Vorliegen der Nichterforderlichkeit. Das ergibt sich aus der Gesamtheit der Urteilsgründe und ist zwischen den Beteiligten auch gar nicht streitig.
Insofern kann es nicht dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem ZKH um die eine oder um die andere Art der in § 368n Abs 6 Satz 2 und 3 RVO genannten Krankenanstalten handelt. Ist das ZKH lediglich als "Krankenhaus mit selbständiger psychiatrischer Abteilung" zu klassifizieren, dann hat die klagende Stadt - weil es an der Feststellung der Erforderlichkeit fehlt - keinen Anspruch auf den begehrten Vertragsabschluß. Sie wäre nur anspruchsberechtigt, wenn das ZKH als "psychiatrisches Krankenhaus" iS der genannten Vorschrift anzusehen wäre. Bis dahin kann dem LSG ohne Einschränkung gefolgt werden.
Die vom LSG vorgenommene Zuordnung des ZKH ist jedoch nicht rechtsfehlerfrei erfolgt. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Der Begriff des "psychiatrischen Krankenhauses" iS der genannten Vorschrift kann nicht aus sich selbst heraus, sondern nur im Hinblick auf seinen Gegenbegriff ("Allgemein)krankenhaus mit selbständiger, unter fachärztlicher Leitung stehender psychiatrischer Abteilung" interpretiert werden; nur anhand dieser Gegenüberstellung läßt sich ein Abgrenzungsmerkmal gewinnen. Dies bedeutet, daß hier als "psychiatrisches Krankenhaus" nur angesprochen werden kann, was nicht als übergreifende klinische Institution einer (in sich selbständigen) psychiatrischen Abteilung anzusehen ist. Da es sich bei beiden (Gegen-)Begriffen um "Krankenhäuser" handelt, beide auch eine unter fachlicher Leitung stehende psychiatrische Versorgungseinrichtung unter insoweit selbständiger Leitung zum Inhalt haben, ist eine Abgrenzung nur in der Richtung zu gewinnen: der erstgenannten Art kann die Institution dann nicht angehören, wenn die Einrichtung innerhalb des Klinikganzen nur den Charakter einer gegenüber nichtpsychiatrischen Teilen sich abhebenden Abteilung hat. Mit anderen Worten: Zwar enthält auch eine unter fachlicher, insoweit selbständiger Leitung stehende klinisch-psychiatrische Versorgungseinrichtung, die organisatorisch als bloße Abteilung einem größeren Klinikganzen zugeordnet ist, alle Kriterien eines "Krankenhauses". Indem der Gesetzgeber aber an das einzige (Unterscheidungs-)Merkmal "Abteilung" eine andere Rechtsfolge anknüpft, kann die gesetzesinterpretatorische Frage nur so lauten, daß als "psychiatrisches Krankenhaus" (mit der Folge, daß es auf die "Erforderlichkeit" nicht ankommt) nur eine solche klinisch-psychiatrische Versorgungseinrichtung angesehen werden kann, die nicht den Charakter einer bloßen Abteilung in dem beschriebenen Sinne hat. Was solche Abteilungsmerkmale hat, entfällt als Anknüpfungspunkt der gegenteiligen Gesetzesfolge. Dieses spezifische Merkmal ist somit hier der eigentliche Abgrenzungsgesichtspunkt.
Bei dieser Gesetzeslage ist für eine andere Zuordnungssystematik - die trotz Vorliegens des Abteilungscharakters es erlauben würde, die von der Klägerin beanspruchte, voraussetzungsgeringere Gesetzesfolge eintreten zu lassen - kein Raum.
Bei der oben beschriebenen Identität beider Institutionen als klinisch-psychiatrische Krankenhäuser hat das Unterscheidungsmerkmal "Abteilung" als in diesem Zusammenhang bloß formale Kategorie keinen eigentlichen, materiellen, die unterschiedliche Gesetzesfolge tragenden Sinn. Insofern können auch keinerlei teleologische Gesichtspunkte eine unter Abweichung vom Wortlaut zu gewinnende Interpretation tragen. Da für die verschiedenartige Gesetzesfolge aber auch keine Gesetzesmotive ersichtlich sind, die eine andere als die vom Wortlaut getragene Auslegung nahelegen könnten, ist auch insoweit kein Raum für eine andere Zuordnung. Daß die psychiatrisch-klinischen Einrichtungen des ZKH nur einen Teil der Gesamtklinik ausmachen, ist unstreitig; das gilt somit rein quantitativ, aber auch qualitativ in dem Sinne, als es sich um einen zwar psychiatrisch selbständig geleiteten, aber doch organisatorisch in die Gesamtklinik integrierten Teil handelt. An dem Charakter dieses Teils als "Abteilung" des Ganzen ist daher nicht zu zweifeln. Als das organisatorische Ganze könnte der Teil - die Abteilung - zwar allenfalls dann angesehen werden, wenn er gegenüber dem Restteil derart im Vordergrund stünde, daß diesem Restteil innerhalb des klinischen Gesamtgefüges nur eine ganz untergeordnete Bedeutung zukäme. Davon kann jedoch bei der Struktur des ZKH, das nach den ungerügten Feststellungen des LSG über drei weitere außerpsychiatrische klinische Bereiche verfügt, nicht die Rede sein.
Entgegen der Ansicht des LSG sind die Voraussetzungen des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs daher nicht gegeben. Das LSG hat bei seinen Erwägungen im wesentlichen darauf abgestellt, daß im Schwerpunkt des ZKH die psychiatrische Versorgung liege. Darauf kommt es aber, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, deshalb nicht an, weil dieser Gesichtspunkt nicht über den Abteilungscharakter entscheidet. Eine Verlagerung des Abgrenzungsmerkmals "Abteilung" auf ein Merkmal "Schwerpunkt der Leistungen" ist nicht zulässig. Das LSG hat selbst ausgeführt, daß für die tatsächlich erfolgte Abgrenzung keine Motive des Gesetzgebers greifbar sind. Damit verbietet es sich aber, aus teleologischen Gründen, wie es das LSG im Ergebnis getan hat, das gesetzliche Abgrenzungsmerkmal unter Berufung auf den Gesetzeszweck auszutauschen. Zwar stand, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, hinter der durch das KVWG eingefügten Vorschrift des § 368n Abs 6 Satz 2 RVO ganz allgemein der Gedanke der Verbesserung der klinisch-psychiatrischen Ambulanzleistungen. Speziell für die hier streitige Abgrenzung kann dies aber nicht zum Tragen kommen.
Auf die Revision der Beklagten war daher das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen