Leitsatz (amtlich)
Eine nach den SGG §§ 144 bis 149 an sich unzulässige Berufung wird nach SGG § 150 Nr 2 durch die Rüge, daß das Verfahren des ersten Rechtszuges an einem wesentlichen Mangel leidet, nur dann zulässig, wenn diese Rüge spätestens im Berufungsverfahren vor der Entscheidung des Landessozialgerichts erhoben wird.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Heiratsabfindung nach BVG § 44 ist eine einmalige Leistung iS des SGG § 144 Abs 1 Nr 1.
2. SGG § 144 Abs 1 Nr 1 wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß mit der Klage auf Leistung der Heiratsabfindung auch die Aufhebung der diese Leistung ablehnenden Verwaltungsakte (Bescheid und Widerspruchsbescheid) begehrt wird. Die Leistungs-und Aufhebungsklage (SGG § 54 Abs 4) hängen in diesem Falle so eng miteinander zusammen, daß die Leistungsklage allein ihr Ziel überhaupt nicht erreichen könnte.
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 Nr. 1, § 150 Nr. 2, § 54 Abs. 4; BVG § 44; SGG §§ 145-149
Tenor
1.) Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 13. Mai 1955 wird zurückgewiesen.
2.) Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin, deren erster Ehemann im Jahre 1945 an den Folgen einer Kriegsverwundung gestorben ist, heiratete am 24. Februar 1951 in ... wieder und beantragte am 29. August 1951 die Gewährung einer Heiratsabfindung auf Grund des § 44 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Ihr Antrag wurde durch Bescheid vom 29. März 1952 und durch Einspruchsentscheidung vom 13. Februar 1953 abgelehnt, weil sie im Zeitpunkt der Antragstellung zum Bezug der Witwenrente nicht mehr berechtigt gewesen sei und damals den Antrag auf Heiratsabfindung nicht mehr rechtswirksam stellen konnte (§ 44 BVG in der ursprünglichen Fassung vom 20.12.1950).
Auf die Klage hob das Sozialgericht ( SGer .) ... durch Urteil vom 18. Mai 1954 die Verwaltungsentscheidungen auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin die Heiratsabfindung im Betrage von 1200,- DM zu zahlen. Die Entscheidung ist damit begründet, daß die Änderung des § 44 BVG durch die Novelle vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862) lediglich klarstellen wollte, was schon vorher rechtens war und daß daher auch schon vor dem Inkrafttreten der Novelle in allen Fällen, über die im Zeitpunkt des Inkrafttretens noch nicht rechtskräftig entschieden war, ein Anspruch auf Heiratsabfindung anzuerkennen sei, selbst wenn die Witwe vor ihrer Wiederverheiratung die Witwenrente noch nicht beantragt hatte.
Das SGer . ließ in seinem Urteil die Berufung nicht zu. In der Rechtsmittelbelehrung heißt es u.a.: "Gegen dieses Urteil findet nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nur die auf § 150 Nr. 2 SGG gestützte Berufung statt".
Die Berufung des Beklagten wurde durch Urteil des Landessozialgerichts (LSGer.) vom 13. Mai 1955 auf Grund des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG als unzulässig verworfen. Das LSGer. führte aus, daß die Zulässigkeit der Berufung auch nicht aus § 150 Nr. 2 SGG hergeleitet werden könne. Selbst wenn die Nichtzulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG ein wesentlicher Mangel des Verfahrens sei, beruhe die Entscheidung des SGer . nicht auf diesem Mangel. Das LSGer. hat in seinem Urteil die Revision zugelassen.
Gegen dieses, am 25. Juni 1955 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 14. Juli 1955 Revision eingelegt und sie zugleich begründet. Er beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen; hilfsweise beantragte er, die Sache an das LSGer. Berlin zurückzuverweisen. Der Beklagte rügt die Verletzung des § 150 Nr. 1 und 2 SGG und des § 44 BVG. Er führt zur Begründung der Revision aus, das SGer . habe die Berufung nicht zugelassen, obwohl es sich bei der Auslegung des § 44 BVG um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handle. Dadurch habe es § 150 Nr. 1 SGG verletzt. Trotz der Rüge dieses Mangels im Berufungsverfahren habe das LSGer. die Berufung als unzulässig verworfen. In der mündlichen Verhandlung rügte der Beklagte außerdem, diese Vorschrift sei auch deshalb verletzt, weil das SGer . in der Auslegung des § 44 BVG von einem Urteil des im Rechtszug übergeordneten LSGer. abgewichen sei und daher die Berufung hätte zulassen müssen. In der Nichtzulassung der Berufung liege ein wesentlicher Verfahrensmangel, der nach § 150 Nr. 2 SGG gerügt werden könne. In der Sache selbst ist der Beklagte der Auffassung, daß der Anspruch auf Heiratsabfindung unbegründet sei, weil die Klägerin im Heiratsmonat keinen Anspruch auf Witwenrente gehabt habe und § 44 BVG durch die Zweite Novelle nicht rückwirkend ab 1. Oktober 1950 geändert worden sei.
Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision. Sie ist der Ansicht, daß die Unterlassung der Zulassung der Berufung keinen Verfahrensmangel darstelle.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch durch Zulassung nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Sie ist hiernach zulässig, konnte jedoch keinen Erfolg haben.
Der Beklagte beanstandet zu Unrecht, daß das LSGer. nicht eine ihm günstige Sachentscheidung getroffen, sondern seine Berufung gegen das ihm ungünstige Urteil des SGer . als unzulässig verworfen hat. Das Urteil des LSGer. enthält keine Rechtsverletzung im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG.
Das LSGer. hat mit Recht angenommen, daß die Berufung des Beklagten nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht zulässig war und daß die Voraussetzungen, unter denen eine solche Berufung ausnahmsweise nach § 150 SGG zulässig ist, nicht erfüllt waren.
Nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist die Berufung nicht zulässig bei Ansprüchen auf einmalige Leistungen. Da die Klägerin mit der Klage die Zuerkennung einer Heiratsabfindung nach § 44 BVG, die in einem festen Geldbetrag besteht, begehrte und das Gericht des ersten Rechtszuges über diesen Anspruch entschieden hat, handelt es sich um einen Anspruch auf eine einmalige Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Klägerin mit der Klage nicht nur die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, sondern auch die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, nämlich des Bescheides vom 29. März 1952 und der Einspruchsentscheidung vom 13. Februar 1953, verlangt hatte. Die Leistungsklage und die Aufhebungsklage hängen in diesem Falle so eng miteinander zusammen, daß die Leistungsklage ihr Ziel überhaupt nicht erreichen könnte, wenn die Klage nicht zugleich auf die Aufhebung des Verwaltungsaktes, durch den die von der Klägerin beanspruchte Leistung abgelehnt wurde, gerichtet wäre (vgl. § 54 Abs. 4 SGG). Wäre die Anwendung des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG bei einer mit einer Leistungsklage verbundenen Aufhebungsklage ausgeschlossen, so blieben nur reine Parteistreitigkeiten (§ 54 Abs. 5 SGG) als einziges Anwendungsgebiet dieser Vorschrift übrig. Diese Folgerung kann aber im Hinblick auf den Zweck des § 144 SGG nicht gezogen werden, da die rechtspolitischen Gründe, die allgemeine Statthaftigkeit der Berufung (§ 143 SGG) einzuschränken, für Parteistreitigkeiten und Anfechtungsklagen in gleicher Weise zutreffen. Die Berufung war somit nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht zulässig.
Das LSGer. hat auch zutreffend entschieden, daß die nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG unzulässige Berufung nicht ausnahmsweise nach § 150 SGG zulässig war. Der Fall des § 150 Nr.3 SGG kam nach der Sachlage nicht in Betracht. Von der Möglichkeit, die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zuzulassen, hat das SGer . keinen Gebrauch gemacht und, wie die Rechtsmittelbelehrung erkennen läßt, offensichtlich auch keinen Gebrauch machen wollen. Die Berufung war also nicht zugelassen.
Mit Recht hat das LSGer. auch trotz der im Berufungsverfahren vorgebrachten Rüge, das SGer . hätte die Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zulassen müssen, die Berufung als unzulässig angesehen. Der Beklagte hatte nämlich mit seinem Vorbringen einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG nicht schlüssig gerügt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die beim SGer . anhängige Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hatte und ob das SGer . aus diesem Grunde nach § 150 Nr. 1 SGG verpflichtet war, die Berufung zuzulassen. Denn selbst wenn das SGer . darin irrte, daß es diese Fragen verneinte, so hatte es damit nicht gegen eine Vorschrift verstoßen die das Verfahren im ersten Rechtszuge regelt. Der erste Halbsatz des § 150 Nr. 1 SGG enthält zwar insoweit eine verfahrensrechtliche Vorschrift, als er das SGer . für die Entscheidung über die Zulassung der Berufung für zuständig erklärt. Gegen eine Verletzung dieser Vorschrift richtet sich die Revision nicht. Im zweiten Halbsatz sind die Voraussetzungen genannt, unter denen die Berufung zuzulassen ist. Er bezieht sich also auf den Inhalt der Zulassungsentscheidung.
Das SGer . hatte daher im vorliegenden Falle allenfalls eine den Inhalt seiner Entscheidung betreffende Vorschrift unrichtig angewendet. Diese Entscheidung konnte nicht auf Grund des § 150 nr. 2 SGG mit der Berufung angegriffen oder vom Berufungsgericht nachgeprüft werden (vgl. Urteil des BSG vom 1.3.1956 - 4 RJ 156/55 - und die dort angeführten Entscheidungen).
An die Nichtzulassung der Berufung hat sich das LSGer. mit Recht für gebunden gehalten. Seine Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Beschluß vom 29.2.1956 - 10 RV 330/54 -) und anderer Senate des Bundessozialgerichts (vgl. das angeführte Urteil vom 1.3.1956 - 4 RJ 156/55). Das SGG hat in dem § 150 die Entscheidung über die Zulassung der Berufung dem Gericht überlassen, dessen Urteil mit dem Rechtsmittel angefochten werden kann. Das Gesetz hat die Nichtzulassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung des Zulassungsgerichts - wie etwa in § 53 Abs. 3 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 (BGBl. I S. 625) - den Beteiligten bewußt nicht eingeräumt.
Durch die erst im Revisionsverfahren erhobene Rüge, das SGer . sei bei der Auslegung des § 44 BVG von einem Urteil des LSGer. Berlin abgewichen und habe damit gegen seine Pflicht, die Berufung zuzulassen, verstoßen, wird die Berufung, über die das LSGer. schon entschieden hat, nicht nachträglich zulässig. Die Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG muß spätestens im Berufungsverfahren vor der Entscheidung des LSGer. vorgebracht werden, wenn eine sonst unzulässige Berufung nur durch eine solche Rüge zulässig gemacht werden soll. Es liegt nicht im Sinne des SGG, daß der Revisionskläger das Revisionsverfahren dazu benutzen kann, um eine in der Berufungsinstanz versäumte Verfahrensrüge nachzuholen und dadurch den Zugang zum Berufungsgericht sich zu verschaffen, so daß über seinen Anspruch sachlich entschieden werden müßte. Unter diesen Umständen brauchte nicht erörtert zu werden, ob diese Rüge des Beklagten ebensowenig schlüssig ist wie seine Rüge, das SGer . habe seine Pflicht, die Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, verletzt.
Nach alledem ist die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SGer . mit Recht als unzulässig verworfen worden. Hiernach mußte die Revision des Beklagten zurückgewiesen werden,
Die Entscheidung im Kostenpunkt beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen