Leitsatz (amtlich)

Hat das SG in einer Rechtssache, in der nach den SGG §§ 144 - 149 die Berufung unzulässig ist, die durch die SGG §§ 136, 66 vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung irrigerweise dahin erteilt, daß die Berufung zulässig ist, so eröffnet diese Rechtsmittelbelehrung keine Anfechtungsmöglichkeit gemäß ihrem unrichtigen Inhalt.

 

Normenkette

SGG § 66 Fassung: 1953-09-03, § 136 Fassung: 1953-09-03, § 144 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 148 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, § 145 Fassung: 1953-09-03, § 146 Fassung: 1953-09-03, § 147 Fassung: 1953-09-03, § 149 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

1.) Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 20. Mai 1955 wird zurückgewiesen.

2.) Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Das Versorgungsamt ... bewilligte der Klägerin, deren Ehemann im Jahre 1947 an den Folgen einer Schädigung gestorben ist, auf ihren Antrag vom 22./23. April 1952 mit Bescheid vom 5. Dezember 1952 Witwenrente nach § 44 BVG ab 1. April 1952. Damit lehnte es zugleich die Gewährung der Witwenrente für einen früheren Zeitraum ab, da ein schriftlicher Antrag vom August 1950, auf den sich die Klägerin berief, nicht ermittelt werden konnte. Der im Einspruchsverfahren geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Witwenrente auch für die Zeit vom 1. Juli 1950 bis 31. März 1952 wurde mit Einspruchsentscheidung des Landesversorgungsamts Berlin vom 6. Juni 1953 wiederum abgelehnt.

Auf die Klage hat das Sozialgericht ... mit Urteil vom 15. November 1954 antragsgemäß unter Abänderung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen den Beklagten verurteilt, "der Klägerin für die Zeit vom 1. Juli 1950 bis 31. März 1952 Witwengebührnisse zu zahlen". Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt, deren Zulässigkeit zu Zweifeln Anlaß gab.

Die Rechtsmittelbelehrung, die der Begründung der Kostenentscheidung folgt, beginnt mit dem Satz: "Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig". Daran schließt sich die Belehrung darüber an, bei welcher Stelle, innerhalb welcher Frist und in welcher Form die Berufung einzulegen ist.

In der Sitzungsniederschrift des Sozialgerichts vom 15. November 1954 sind die vorgedruckten Worte "Die Berufung wird - nicht - zugelassen" gestrichen. Der vorgedruckte Satz "Rechtsmittelbelehrung wurde erteilt" ist unverändert geblieben.

Das Landessozialgericht ... hat durch Urteil vom 20. Mai 1955, zugestellt am 19. Juli 1955, die Berufung als unzulässig verworfen und die Revision zugelassen. In seiner Begründung führt es aus, daß nach § 148 Nr. 2 SGG die Berufung nicht zulässig sei, weil nur der Beginn der Versorgung streitig sei. In dem Satz: "Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig" sei nur die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung zu erblicken, wie sich aus der Fassung des Urteils zweifelsfrei ergebe. Die Zulässigkeit der Berufung könne auch nicht aus § 150 Nr. 2 SGG hergeleitet werden; denn die Nichtzulassung der Berufung und eine mißverständliche Rechtsmittelbelehrung seien kein wesentlicher Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruhe.

Der Beklagte hat hiergegen mit Schriftsatz vom 11. August 1955 - eingegangen beim Bundessozialgericht am 13. August 1955 - Revision eingelegt und in seinem Schriftsatz vom 9. September 1955 beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Mit diesem Schriftsatz - eingegangen beim Bundessozialgericht am 12. September 1955 - hat der Beklagte die Revision damit begründet, daß das Landessozialgericht den § 158 SGG verletzt habe, weil es die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen habe. Es sei die Frage, ob in dem Ausspruch des Sozialgerichts über die Zulässigkeit der Berufung eine Zulassung der Berufung im Sinne des § 150 Nr. 1 SGG zu erblicken sei. Liege keine Zulassung vor, so treffe die Rechtsmittelbelehrung nicht zu. Wenn auch eine falsche Rechtsmittelbelehrung das an sich nicht gegebene Rechtsmittel (§ 148 Nr. 2 SGG) nicht zulässig mache, so müsse doch in einer solchen Rechtsmittelbelehrung ein Verfahrensmangel erblickt werden, so daß in diesem Falle die Berufung mit Erfolg auf § 150 Nr. 2 SGG gestützt werden könne. Der Grundsatz der Rechtssicherheit erfordere es, daß sich die am Verfahren Beteiligten auf die Richtigkeit der Rechtsmittelbelehrung verlassen können.

Die Klägerin, der mit Beschluß des erkennenden Senats vom 17. November 1955 das Armenrecht bewilligt wurde, hat beantragt, die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen. Auf die Schriftsätze der Beteiligten vom 9. September 1955 und vom 19. Januar 1956 wird Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist zulässig (§ 169 Satz 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und ist durch Zulassung nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Sie konnte jedoch keinen Erfolg haben.

Das angefochtene Urteil enthält keine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG. Es hat die Berufung des Beklagten mit Recht verworfen. Die Berufung war nach § 148 Nr. 2 SGG ausgeschlossen; die Voraussetzungen, unter denen eine solche Berufung ausnahmsweise nach § 150 SGG zulässig ist, waren nicht erfüllt.

Nach § 148 Nr. 2 SGG können Urteile der Sozialgerichte mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie Beginn oder Ende der Versorgung oder nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Annahme des LSG richtig ist, die Entscheidung des SG betreffe den Beginn der Versorgung. Die Entscheidung des SG betraf jedenfalls nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume; denn das am 15. November 1954 erlassene Grundurteil spricht der Klägerin Witwenrente antragsgemäß nur für die Zeit vom 1. Juli 1950 bis 31. März 1952 zu (vgl. Urteil des BSG vom 22.9.1955 - 8 RV 171/54 - und vom 29.11.1955 - 1 RA 43/54 -). Das SG hat allerdings zugleich auch der Klage, die auf Abänderung des ablehnenden Verwaltungsakts gerichtet war, stattgegeben. Dies steht aber der Anwendung des § 148 Nr. 2 SGG nicht entgegen, wie der erkennende Senat hinsichtlich der Unzulässigkeit der Berufung bei Ansprüchen auf einmalige Leistungen (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG) näher dargelegt hat (vgl. Urt. v. 15.5.1956 - 10 RV 640/55).

Das LSG hat auch zutreffend entschieden, daß die nach § 148 Nr. 2 SGG unzulässige Berufung nicht ausnahmsweise nach § 150 SGG zulässig war. Der Fall des § 150 Nr. 3 SGG kam nach der Sachlage nicht in Betracht. Von der Möglichkeit, die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zuzulassen, hat das SG keinen Gebrauch gemacht. Der Satz: "Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig" enthält keine Zulassung der Berufung. Das Gericht des ersten Rechtszuges muß die Zulassung der Berufung im Urteil förmlich aussprechen, damit die Berufung im Sinne des § 150 Nr. 1 SGG zulässig ist. Das SG hat dies im vorliegenden Falle unterlassen. Der angeführte Satz über die Zulässigkeit der Berufung ist nach seiner Stellung in der Urteilsurkunde nur ein Teil der Rechtsmittelbelehrung, aus welcher hervorgeht, daß das SG der Ansicht war, die Berufung sei auch ohne Zulassung zulässig. Der Wille des SG, die Zulassung der Berufung auf Grund des § 150 Nr. 1 SGG nicht auszusprechen, ist aus der Sitzungsniederschrift erkennbar, da der vorgedruckte Satz über die Zulassung oder Nichtzulassung der Berufung gestrichen ist. An die Nichtzulassung der Berufung war das Berufungsgericht gebunden (Urt. des BSG vom 1.3.1956 - 4 RJ 156/55 - und vom 15.5.1956 - 10 RV 640/55 -).

Die Nichtzulassung der Berufung begründete entgegen der Ansicht des Beklagten keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG, selbst wenn das SG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Berufung hätte zulassen müssen. Für die Entscheidung dieser Frage sind die gleichen Grundsätze maßgebend, die das BSG für die Beurteilung der Nichtzulassung der Revision entwickelt hat. Hiernach liegt in der Nichtzulassung des Rechtsmittels durch das SG ein inhaltlicher Mangel des angefochtenen Urteils, nicht aber ein Mangel des Verfahrens (Urt. des BSG vom 15.5.1956 - 10 RV 640/55 - und die dort angeführten Entscheidungen).

Es kann dahingestellt bleiben, ob aus der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung darauf zu schließen ist, daß das SG über die Zulassung oder Nichtzulassung der Berufung überhaupt nicht Beschluß gefaßt hat. Selbst wenn eine solche Unterlassung einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG ergibt, so ist dies rechtlich unbeachtlich; denn der Beklagte hat diese Tatsache nicht als einen Mangel des Verfahrens gerügt.

Die Auffassung der Revision, daß in der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung des SG ein Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG zu erblicken war, ist ebenfalls unbegründet. Soweit die Rechtsmittelbelehrung unrichtig ist, liegt hierin nicht ein Verstoß gegen Vorschriften, die das Verfahren regeln, sondern ein inhaltlicher Irrtum. Die in § 66 SGG geregelten Folgen einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung beziehen sich nur auf die Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs. Im übrigen enthält das SGG keine ausdrückliche Vorschrift über die Folgen der Unrichtigkeit einer Rechtsmittelbelehrung. Eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung hat jedenfalls nicht die Wirkung, daß sie eine Anfechtungsmöglichkeit gemäß ihrem unrichtigen Inhalt eröffnet. Ein anderes Ergebnis kann nicht damit gerechtfertigt werden, daß die Beteiligten nach dem Zweck der Rechtsmittelbelehrung darauf sollen vertrauen dürfen, daß sie richtig ist. Die Auffassung des Senats steht nicht im Widerspruch zu dem Urteil des 3. Senats vom 21.12.1955 - 3 RK 21/55 -. Dort handelte es sich um den Schutz des Vertrauens in den Ausspruch der Zulassung der Berufung, soweit hiervon die Zulässigkeit der Sprungrevision abhing.

Das LSG hat daher mit Recht die Berufung des Beklagten verworfen. Die Revision des Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2296999

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