Entscheidungsstichwort (Thema)
Letzter wirtschaftlicher Dauerzustand bei Krankheit der Versicherten
Leitsatz (redaktionell)
Nur vorübergehende Besonderheiten vor dem Tod sind ohne Bedeutung. Ein Krankheitszustand der Versicherten von 2 Jahren vor dem Tode ist daher als letzter wirtschaftlicher Dauerzustand zu betrachten. Abzuwägen ist in einem solchen Falle zwischen 2 Gesichtspunkten: Dauerzustand in der Unterhaltslage und zeitlicher Abstand zum Tode.
Normenkette
RVO § 1266 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. Februar 1973 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob der Kläger Witwerrente beanspruchen kann (§ 1266 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Versicherte, die Ehefrau des 1901 geborenen Klägers, ist im April 1970 gestorben. Sie war seit 1953 bei der Bundespost als Putzfrau beschäftigt. Sie gab die Tätigkeit im April 1968 wegen Krankheit auf; es wurde Krebs mit Metastasen festgestellt. Zur Haushaltsarbeit war sie seitdem nicht mehr in der Lage. Dauernd bettlägerig war sie seit September 1969. Die Eheleute führten einen gemeinsamen Haushalt in einer Zweizimmerwohnung. Seit April 1968 versorgte der Kläger den Haushalt allein.
Die Versicherte hatte 1967 ein Brutto-Arbeitsentgelt von 7.031 DM. Von Januar bis 19. April 1968 betrug es 2.371 DM. Von Mai 1968 an erhielt sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von monatlich 253,30 DM bis Ende 1969 und von monatlich 269,40 DM im Jahre 1970. Außerdem bezog sie seit Oktober 1968 eine Versorgungsrente von der Versorgungsanstalt der Deutschen Bundespost. Diese belief sich bis Ende März 1969 auf monatlich 179,10 DM, von April bis Dezember 1969 auf monatlich 205,10 DM und 1970 auf monatlich 246,40 DM.
Der Kläger gab im Mai 1966 wegen Vollendung des 65. Lebensjahres seine Beschäftigung auf. Seit Juni 1966 erhält er das Altersruhegeld. Es betrug monatlich bis jeweils Ende 1967 341,90 DM, 1968 369,40 DM, 1969 400,20 DM und 1970 425,60 DM.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Witwerrente ab: der maßgebende letzte wirtschaftliche Dauerzustand umfasse ein Jahr vor dem Tod der Versicherten; zusätzlich zu den Bareinkünften sei der Wert der Haushaltsarbeit des Klägers mit monatlich mindestens 200 DM zu berücksichtigen; bei Gegenüberstellung der Einkünfte der Versicherten und des Klägers habe die Versicherte ihre Familie nicht überwiegend unterhalten (Bescheid vom 11. Dezember 1970).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung von Witwerrente verpflichtet (Urteil vom 17. Dezember 1971).
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 23. Februar 1973).
Maßgeblich war für das LSG die Bestimmung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tod der Versicherten. Es hat dafür drei Zeitabschnitte unterschieden und geprüft: die Zeit bis Mai 1966, die Zeit vom Beginn des Altersruhegeldes des Klägers bis zur Aufgabe der Beschäftigung durch die Versicherte und die Zeit seit der Aufgabe der Beschäftigung der Versicherten (April 1968) bis zu ihrem Tod (April 1970), in der beide Ehegatten nur Renten bezogen. Dieser letzte Abschnitt stelle - so das LSG - den maßgeblichen letzten wirtschaftlichen Dauerzustand dar. Eine Versicherte verliere ihre Ernährereigenschaft zwar nicht, wenn sie während einer verhältnismäßig kurzen Zeit den überwiegenden Familienunterhalt nicht gewährt habe. Eine Zeitspanne von mehr als zwei Jahren, wie hier, könne aber nicht außer acht gelassen werden. Als wesentlich komme hinzu, daß der Zeitabschnitt von April 1968 bis zum Tode durch eine erhebliche, auf Dauer bestimmte Änderung der Einkommensverhältnisse eingeleitet worden sei, indem nun beide Ehegatten Renten bezogen hätten, deren Entziehung nicht mehr in Betracht gekommen sei. Während dieser Zeit habe nicht die Versicherte, sondern der Kläger den Familienunterhalt überwiegend bestritten. Zwar sei das Renteneinkommen der Versicherten durchweg höher als das des Klägers gewesen; jedoch seien die Unterschiedsbeträge jeweils bei weitem geringer als der Wert der zum Familienunterhalt aufgewandten Hausarbeit des Klägers.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Er beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er meint, die Krankheitszeit der Versicherten von zwei Jahren müsse bei der Bestimmung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes ausgeklammert werden, weil seit der Feststellung des Krebsleidens festgestanden habe, daß die Krankheit fortschreitend zum Tode führen werde.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Die Revision des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat ohne Gesetzesverletzung einen Anspruch auf Witwerrente verneint.
Die Auslegung des § 1266 RVO - Witwerrente nur, wenn die Ehefrau vor ihrem Tod den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat - steht in Einklang mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. Juli 1963 (BVerfG 17, 1) und vom 12. März 1975 - 1 BvL 15/71 - über die Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Grundgesetz (GG) und entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Es kommt hier nicht darauf an, daß das BVerfG in seiner Entscheidung vom 12. März 1975 den Gesetzgeber verpflichtet hat, für die fernere Zukunft eine sachgerechtere Lösung für Hinterbliebenenrenten zu suchen, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG ausschließt; denn für die jetzige Zeit hat das BVerfG noch keine Verfassungswidrigkeit des § 1266 RVO festgestellt.
Das LSG hat zu Recht den Zeitraum seit Aufgabe der Beschäftigung der Versicherten bis zu ihrem Tod als letzten wirtschaftlichen Dauerzustand angesehen. Die Auffassung des LSG über die Merkmale, nach denen der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tod zu beschreiben ist, wird durch die nach dem Erlaß des angefochtenen Urteils ergangene Entscheidung des BSG vom 8. März 1973 - 11 RA 246/72 (SozR Nr. 13 zu § 1266 RVO) bestätigt.
Das BSG hat aus dem Sinn und Zweck des § 1266 RVO - Unterhaltsersatzfunktion dieser Rente - zur Vermeidung von Unbilligkeiten gefolgert, daß nicht die Unterhaltslage genau im Zeitpunkt des Todes der Versicherten maßgebend sein kann, sondern daß es auf das Bestreiten des Unterhalts während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustands vor dem Tod ankommen muß (siehe im einzelnen SozR Nr. 1, 2, 3, 4, 6, 11, 13, 14 zu § 1266 RVO). Das Gesetz macht die unbefristete Rentengewährung von einer bestimmten Unterhaltslage vor dem Tod der Frau abhängig. Es wird davon ausgegangen und unterstellt, daß diese Lage ohne den Tod der Versicherten fortbestanden hätte. Nur vorübergehende Besonderheiten vor dem Tod sind ohne Bedeutung. Was vorübergehende Besonderheiten sind, ist nach den Umständen des Falles zu bestimmen. Da die Unterhaltslage beim Tod der Versicherten durch die Witwerrente fortgesetzt werden soll, darf der als letzter wirtschaftlicher Dauerzustand zugrunde zu legende Zeitraum nicht zu weit vom Zeitpunkt des Todes entfernt liegen. Wenn dem Tode eine Krankheitszeit vorausgeht, sind für die Frage, ob diese Zeit eine auszuklammernde "vorübergehende Besonderheit" ist, die beiden Gesichtspunkte - Dauerzustand in der Unterhaltslage und zeitlicher Abstand zum Tode - abzuwägen. Dazu ist in der in SozR Nr. 13 zu § 1266 RVO veröffentlichten Entscheidung darauf hingewiesen, daß die Zeit der zum Tode führenden Krankheit häufig kein vorübergehender Zustand ist, sondern ohne den Eintritt des Todes in dem jeweiligen Zeitpunkt noch weiterbestanden hätte (vgl. SozR Nr. 67 zu § 1265 RVO). Ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der Krankheit und dem Tod besonders deutlich und die Zeit zwischen der ersten Auswirkung der Krankheit und dem Tode kurz, dann kann die Krankheitszeit außer Betracht bleiben, wenn dann ein wirtschaftlicher Dauerzustand zugrunde gelegt wird, der sich nicht allzuweit vom Todeszeitpunkt entfernt. Eine Krankheitszeit kann aber nicht schon deshalb außer Betracht bleiben, weil die Krankheit in weniger als einem Jahr zum Tode geführt hat; bei längerer Dauer darf jedenfalls die Krankheitszeit nicht ausgeklammert werden.
Der Entscheidung vom 8. März 1973 aaO lag, wie hier, ein inoperables Krebsleiden zugrunde; es wurde in jenem Fall im Oktober 1967 erkannt und führte im April 1968 zum Tode. Der Tod war absehbar, der ursächliche Zusammenhang deutlich und der zeitliche Zusammenhang noch eng. Deshalb wurde die Krankheitszeit als Vorstufe des Todes gewertet, und als wirtschaftlicher Dauerzustand wurde die Zeit vor der Feststellung des Leidens angenommen. - Jener Fall unterscheidet sich von dem vorliegenden durch die kurze Zeitspanne zwischen der Erkennung des Leidens und dem Tod. Auch der Verlauf des Leidens war dort anders. Zwar war hier seit der Feststellung des Leidens der Versicherten eine Besserung nicht zu erwarten, jedoch blieb der Befund bis September 1969 gleich. Erst dann schritt das Leiden rasch fort, die Versicherte war seitdem bettlägerig. Der Zeitraum von zwei Jahren zwischen der Erkennung des Leidens mit Aufgabe der Beschäftigung und dem Tode läßt es nicht zu, diese Zeit bei Feststellung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes außer Betracht zu lassen. Auch wenn die Zeit von September 1969 bis zum Tode als unmittelbare Vorstufe zum Tode unberücksichtigt bliebe, wäre die vorhergehende Zeit seit der Feststellung des Leidens im April 1968 bis September 1969 sowohl wegen der zeitlichen Dauer von anderthalb Jahren als auch wegen des Gleichbleibens des Krankheitszustandes als letzter wirtschaftlicher Dauerzustand anzusehen.
Die Bewertung der Haushaltsarbeit des Klägers durch das LSG und deren Hinzurechnung zum Bareinkommen des Klägers ist rechtmäßig. Das LSG hat die Hausarbeit des Klägers nicht mit einem bestimmten Geldbetrag bewertet, sondern dargelegt, daß ihr Wert auf jeden Fall höher ist als die Unterschiedsbeträge im Bareinkommen der Versicherten und des Klägers. Dieser Unterschied war im Jahre 1970 mit monatlich etwa 90 DM am höchsten. Dieser Unterschiedsbetrag liegt hier, wo der Kläger die gesamte. Hausarbeit verrichtet hat, jedenfalls unter dem Betrag, der für den Wert der Hausarbeit einzusetzen wäre. Somit hat die Versicherte den Familienunterhalt nicht überwiegend bestritten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen