Entscheidungsstichwort (Thema)
Beratungs- und Betreuungspflicht eines Versicherungsträgers. konkreter Anlaß
Orientierungssatz
1. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch hat einen generellen Rechtssatz nicht aufgestellt, daß ein Versicherungsträger stets verpflichtet sei, bei jedem Bearbeitungsvorgang die Versicherungsakte dahin zu überprüfen, ob dem Versicherten dem Akteninhalt nach bisher nicht verwirklichte Rechte zustehen, die er offenbar aus Unkenntnis bisher noch nicht geltend gemacht hat (hier: Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG) Eine Hinweispflicht auf nicht beantragte Leistungen ist vom BSG bisher nur im Zusammenhang mit laufenden Verfahren angenommen worden (vgl BSG vom 1978-04-25 5 RJ 18/77 = BSGE 46, 124). Das bedeutet allerdings nicht, daß damit die Grenzen der Beratungs- und Betreuungspflicht gezogen sind, jenseits derer ein Versicherungsträger nicht mehr gehalten wäre, aus dem Akteninhalt klar erkennbare Gestaltungsmöglichkeiten dem Versicherten zur Kenntnis zu bringen, daß er sich also darauf beschränken dürfte, einen aufklärenden Hinweis nur dann zu geben, wenn dies in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Bearbeitungsvorgang steht. Ergibt sich im Einzelfall auch außerhalb eines solchen engen Sachzusammenhangs ohne aufwendiges Aktenstudium - sozusagen auf den ersten Blick - eine bisher nicht wahrgenommene rechtliche Gestaltungsmöglichkeit, dann ist das ebenfalls ein "konkreter Anlaß, tätig zu werden (vgl Urteil des BSG vom 1983-09-27 12 RK 44/82 = SozR 1200 § 14 Nr 15).
2. Bei Routinevorgängen, wie sie die Weitergewährung des Kinderzuschusses nach Vorlage der weiteren Studienbescheinigung, die Einheftung der jährlichen Lebensbescheinigung und die Berücksichtigung eines Wohnsitzwechsels des Rentenempfängers darstellen, kann schon aus zeitlichen und arbeitstechnischen Gründen von einem Versicherungsträger nicht verlangt werden, daß er über den konkreten Anlaß hinaus mit diesen Vorgängen nicht im Zusammenhang stehende Nachforschungen über etwaige weitere Rechte des Versicherten anstellt.
Normenkette
SGB 1 § 13 Fassung: 1975-12-11, § 14 Fassung: 1975-12-11
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als Witwe eines Verfolgten berechtigt ist, im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs Beiträge nach den §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) zur Anrechnung auf die Hinterbliebenenrente nachzuentrichten.
Die Klägerin ist die Witwe des am 30. Dezember 1899 in Kattowitz geborenen und am 24. April 1973 gestorbenen . K. , der zum Personenkreis der rassisch Verfolgten im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gehörte. Er hatte bis September 1938 Pflichtbeiträge zur deutschen Angestelltenversicherung entrichtet, war im Dezember 1938 von Breslau aus verfolgungsbedingten Gründen nach Peru ausgewandert und von dort im Jahre 1971 mit der Klägerin nach Israel übergesiedelt. Mit Bescheid vom 16. November 1961 gewährte ihm die Beklagte ab 1. Oktober 1960 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wobei sie die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis 31. Dezember 1949 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit (§ 28 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG-) anerkannte. Mit Bescheid vom 14. Januar 1965 wurde die Rente in Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres umgewandelt. In der Folgezeit übersandte der Ehemann der Klägerin regelmäßig die von der Beklagten geforderten Lebens- und Staatsangehörigkeitsbescheinigungen sowie die Nachweise über die Voraussetzungen zur Weitergewährung des Kinderzuschusses für das am 25. September 1951 geborene Kind Gaby. Letztmalig vor seinem Tode wandte er sich am 3. Januar 1973 mit der Mitteilung einer Wohnsitzänderung an die Beklagte.
Die Klägerin bezieht seit dem 1. Mai 1973 Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres Ehemannes. Sie gehört ebenfalls zum Personenkreis des § 1 BEG. Am 1. Juli 1981 beantragte sie die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 9, 10 WGSVG zur Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes mit Wirkung für die Hinterbliebenenrente und begründete dies damit, daß die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gegeben seien. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin habe als Hinterbliebene kein Nachentrichtungsrecht. Von ihrem verstorbenen Ehemann sei ein Antrag zu Lebzeiten nicht gestellt worden (Bescheid vom 11. August 1981). Widerspruch, Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 1981; Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 8. Dezember 1982; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 24. Juni 1983). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Ob der Klägerin als Witwe ein eigener Herstellungsanspruch zustehe oder ob mit dem Tode ihres Ehemannes der ihm zustehende Herstellungsanspruch im Wege der Rechtsnachfolge auf sie übergegangen sei, könne dahingestellt bleiben, denn die Voraussetzungen für einen solchen Anspruch lägen in jedem Fall nicht vor. Die Beklagte habe weder der Klägerin noch ihrem Ehemann gegenüber eine Beratungs- oder Betreuungspflicht verletzt. Es habe nämlich für sie kein konkreter Anlaß zum Tätigwerden bestanden. Der Ehemann der Klägerin habe die Beklagte nicht um eine Beratung gebeten, und eine solche Bitte habe sich auch nicht aus den Gesamtumständen des Falles mit hinreichender Deutlichkeit ergeben. Das Rentenverfahren sei im Zeitpunkt des Inkrafttretens des WGSVG am 1. Februar 1971 längst abgeschlossen gewesen. Der bis 1972 geführte Schriftverkehr zwischen dem Ehemann der Klägerin und der Beklagten habe nicht die Rentenberechnung, also die Höhe der Rente, sondern nur die regelmäßig einzureichenden Lebens- und Staatsangehörigkeitsbescheinigungen sowie den Kinderzuschuß für das Kind Gaby betroffen. Selbst im Hinblick darauf, daß das Vorliegen der Voraussetzungen für die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 9, 10 WGSVG für den Sachbearbeiter der Beklagten ohne weiteres erkennbar gewesen sein möge, habe für die Beklagte keine Pflicht bestanden, auf die Möglichkeit der Nachentrichtung hinzuweisen. Es würde zu einer Überspannung der Beratungs- und Betreuungspflichten führen, wenn der Versicherungsträger auch nach Abschluß des Rentenverfahrens gehalten wäre, den Versicherten in jedem Fall auf Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die für ihn im Hinblick auf die Höhe der Rente günstig seien. Dies gelte umso mehr in den Fällen, in denen diese Gestaltungsmöglichkeiten erst Jahre nach Abschluß des Rentenverfahrens durch neue Gesetze geschaffen würden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt die Klägerin weiterhin die Auffassung, daß unter Beachtung der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die Voraussetzungen für eine Beitragsnachentrichtung gemäß § 10 WGSVG gegeben seien. Dem Ehemann der Klägerin sei aufgrund seines jahrzehntelangen unfreiwilligen Auslandsaufenthalts und auch altersbedingt die Möglichkeit einer Beitragsnachentrichtung unbekannt gewesen. Es sei Sache der Beklagten gewesen, ihn auf die zu einer Rentenerhöhung führende Gestaltungsmöglichkeit durch eine Beitragsnachentrichtung nach dem WGSVG hinzuweisen, als sich die Sache von 1971 bis ungefähr August 1972 in Bearbeitung befunden habe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11. August 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 1981 zu verurteilen, ihr die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 9, 10 WGSVG mit Wirkung für ihre Hinterbliebenenrente zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie sieht darin, daß sie den Versicherten zu Lebzeiten nicht auf die durch das WGSVG geschaffenen Nachentrichtungsmöglichkeiten hingewiesen habe, keine Verletzung ihrer Pflichten zur Beratung und "verständnisvollen Förderung" seiner Interessen, woraus unter Umständen ein Herstellungsanspruch erwachsen könne. Da das gesamte Rentenverfahren bindend abgeschlossen gewesen sei und ein Überprüfungs- bzw Neufeststellungsverfahren offenkundig unbegründet gewesen wäre, habe es an der Voraussetzung gefehlt, daß eine für den Versicherten offenkundige günstige Gestaltungsmöglichkeit auf den ersten Blick erkennbar gewesen sei. Wollte man in Fällen der vorliegenden Art bei nach Abschluß des Rentenverfahrens erfolgten Gesetzesänderungen mit begünstigendem Charakter dem Versicherten über die Verletzung der Hinweispflicht den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zubilligen, so liefe das auf die Verpflichtung des Versicherungsträgers hinaus, den Versicherten bei jeder derartigen Gesetzesänderung von Amts wegen zu beraten und zu belehren. Indem der Gesetzgeber das Nachentrichtungsrecht auch für bereits eingetretene Versicherungsfälle an die Antragstellung und materielle Ausschlußfristen geknüpft habe, habe er aber zum Ausdruck gebracht, daß er eine generelle Aufnahme der bereits abgeschlossenen Rentenverfahren nicht gewollt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Mit dem LSG ist zunächst davon auszugehen, daß die Klägerin in ihrer eigenen Person als Hinterbliebene des verstorbenen Versicherten ein Nachentrichtungsrecht nicht erworben hat, weil ihr Ehemann nach dem 31. Januar 1972 gestorben ist (§ 10 Abs 3 iVm Abs 1 Satz 2 WGSVG; BSG SozR 5070 § 10 Nr 7).
Zu Recht hat das LSG auch die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in der Person des verstorbenen Ehemannes der Klägerin verneint. Es hat zutreffend darauf abgehoben, daß die Beklagte dadurch, daß sie anläßlich der Bearbeitungsvorgänge in den Jahren 1971 und 1972 den Versicherten nicht auf die Möglichkeit einer Beitragsnachentrichtung hingewiesen hatte, ihre Beratungs- oder Betreuungspflicht nicht verletzt hat. Ein konkreter Anlaß, auf günstige Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich der Höhe der Rente hinzuweisen, hat auch nach Ansicht des Senats nicht bestanden. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch hat einen generellen Rechtssatz nicht aufgestellt, daß ein Versicherungsträger stets verpflichtet sei, bei jedem Bearbeitungsvorgang die Versicherungsakte dahin zu überprüfen, ob dem Versicherten dem Akteninhalt nach bisher nicht verwirklichte Rechte zustehen, die er offenbar aus Unkenntnis bisher noch nicht geltend gemacht hat. Eine Hinweispflicht auf nicht beantragte Leistungen ist vom BSG bisher nur im Zusammenhang mit laufenden Verfahren angenommen worden (BSGE 41, 126; 46, 124, 126). Das bedeutet allerdings nicht, daß damit die Grenzen der Beratungs- und Betreuungspflicht gezogen sind, jenseits derer ein Versicherungsträger nicht mehr gehalten wäre, aus dem Akteninhalt klar erkennbare Gestaltungsmöglichkeiten dem Versicherten zur Kenntnis zu bringen, daß er sich also darauf beschränken dürfte, einen aufklärenden Hinweis nur dann zu geben, wenn dies in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Bearbeitungsvorgang steht. Ergibt sich im Einzelfall auch außerhalb eines solchen engen Sachzusammenhangs ohne aufwendiges Aktenstudium - sozusagen auf den ersten Blick - eine bisher nicht wahrgenommene rechtliche Gestaltungsmöglichkeit, dann ist das ebenfalls ein "konkreter Anlaß", tätig zu werden (vgl Urteil des Senats vom 27. September 1983 - 12 RK 44/82 -). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen des Versicherten für ein Nachentrichtungsrecht nach den §§ 9, 10 WGSVG - wie überhaupt die beitragsrechtlichen Voraussetzungen des bereits früher durch bindenden Bescheid festgestellten Rentenanspruchs - waren für die Bearbeitungsvorgänge in den fraglichen Jahren 1971 und 1972 ohne Belang. Sie lagen auch nicht so klar erkennbar jedem Sachbearbeiter, der die Akte zur Hand nehmen mußte, vor Augen, daß sie nicht hätten übersehen werden dürfen. Bei Routinevorgängen, wie sie die Weitergewährung des Kinderzuschusses nach Vorlage der weiteren Studienbescheinigung, die Einheftung der jährlichen Lebensbescheinigung und die Berücksichtigung eines Wohnsitzwechsels des Rentenempfängers darstellen, kann schon aus zeitlichen und arbeitstechnischen Gründen von einem Versicherungsträger nicht verlangt werden, daß er über den konkreten Anlaß hinaus mit diesen Vorgängen nicht im Zusammenhang stehende Nachforschungen über etwaige weitere Rechte des Versicherten anstellt.
Somit kann nicht angenommen werden, daß die Beklagte gegenüber dem Ehemann der Klägerin eine individuelle Beratungs- oder Betreuungspflicht verletzt hat. Eine Verletzung der generellen Aufklärungspflicht ist ebenfalls nicht erkennbar. Es ist zwar nicht fernliegend, die Beklagte dann für verpflichtet anzusehen, auch bei routinemäßigen Vorgängen den Verfolgten durch Beifügung von Merkblättern eine gezielte Aufklärung zukommen zu lassen, wenn sie in Gegenden wohnen, in denen eine breite und intensive Aufklärung sonst nicht erfolgt. Das ist hier aber nicht so; denn der Versicherte war bereits seit Januar 1971 in Israel wohnhaft, wo der für die Nachentrichtung nach dem WGSVG in Betracht kommende Personenkreis der Verfolgten durch einschlägige Publikation ausreichend unterrichtet worden war.
Bei dieser Sachlage kann es dahingestellt bleiben, ob in der Person des Versicherten, zu dessen Todeszeitpunkt der Nachentrichtungsantrag noch zulässig hätte gestellt werden können, überhaupt ein Herstellungsanspruch (der sich ja nur auf ein verlorenes Recht beziehen kann) entstehen konnte und ob dieser bejahendenfalls als höchstpersönlicher und damit auf Rechtsnachfolger nicht übertragbarer Anspruch angesehen werden müßte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen