Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs (hier: Verweisung auf Tätigkeiten eines gehobenen Pförtners)
Orientierungssatz
Will das LSG von eigenen Vorstellungen tatsächlicher Art ausgehen, so ist es nach den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs gehalten, den Beteiligten zuvor Gelegenheit zu geben, hierzu ihre eigenen Auffassungen zu vertreten und gegebenenfalls Beweis anzubieten.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 22.04.1983; Aktenzeichen L 6 J 11/83) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 24.11.1982; Aktenzeichen S 9 J 102/82) |
Tatbestand
Der 1928 geborene Kläger war von 1941 bis 1982 berufstätig, darunter von 1950 bis 1952 als Dachdeckerlehrling. Die Lehre schloß er mit der Gesellenprüfung ab. Von 1962 an arbeitete er bei der Deutschen Bundespost. Vor Übernahme in das Beamtenverhältnis verrichtete er als Briefzusteller eine Tätigkeit, die der Besoldungsgruppe A 2 und der Lohngruppe IV des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost entsprach. Nach erfolgreichem Ablegen der Prüfung für den einfachen Postdienst wurde er auch lohnmäßig in diese Gruppe (IV) eingeordnet. Im März 1982 wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Den Rentenantrag des Klägers (März 1981) lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 29. Juli 1981; Widerspruchsbescheid vom 16. März 1982). Das Sozialgericht -SG- hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. November 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 22. April 1983 das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. März 1982 zu gewähren. Nach dem Lohngruppenverzeichnis seien die Tätigkeiten der Lohngruppen IV bis Ia den Facharbeiten zuzurechnen. Mit Rücksicht auf seine tarifliche Entlohnung und die von ihm langjährig verrichtete qualifizierte Tätigkeit vor Übernahme in das Beamtenverhältnis sei der Kläger als Facharbeiter anzusehen und genieße demzufolge entsprechenden Berufsschutz. Die bisher verrichtete Tätigkeit als Postfacharbeiter im Zustelldienst könne der Kläger nicht mehr ausüben. Unter dem Gebot der konkreten Benennung sei es nicht möglich, ihm eine sozial und gesundheitlich zumutbare Verweisungstätigkeit zu bezeichnen. Bei der Tätigkeit eines gehobenen Pförtners mit Telefondienst und Auskunfterteilung nach der Versorgungsgruppe IXb Nr 26 der Anlage 1a zum Bundesangestelltentarif handele es sich zwar um eine Arbeit, die der Kläger nach seiner körperlichen Leistungsfähigkeit ausführen könne. Doch sei er den sonstigen Belastungen dieses Berufes nicht gewachsen. Diese Tätigkeit sei nämlich mit nicht unerheblichen Nervenbelastungen verbunden und stelle beträchtliche Anforderungen an Konzentrationsvermögen, Merkfähigkeit und geistige Wendigkeit.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Zu der Frage, ob die Tätigkeit eines gehobenen Pförtners im öffentlichen Dienst mit nicht unerheblichen nervlichen Belastungen verbunden sei und beträchtliche Anforderungen an Konzentrationsvermögen, Merkfähigkeit und geistige Wendigkeit stelle, habe das LSG keine Ermittlungen angestellt. Grundlage dieser Feststellungen könne nur das Wissen des Gerichtes selbst sein. Auch zu Tatsachen, die als gerichtskundig angesehen würden, müßten sich die Beteiligten äußern können. Wenn ihr, der Beklagten, Gelegenheit zur Stellungnahme zu dieser Frage gegeben worden wäre, hätte sie unter Beweis gestellt, daß an die gehobene Pförtnertätigkeit keine besonderen geistigen Anforderungen zu stellen seien und daß eine durchschnittliche geistige Flexibilität ausreiche.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt worden ist, und insoweit die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, Die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 S 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Zutreffend hat das LSG den Kläger der Gruppe der Facharbeiter zugeordnet (vgl die Urteile des Senats vom 3. Oktober 1984 - 5b RJ 28/84 - SozR 2200 § 1246 Nr 129 und - 5b RJ 20/84 - SozR 2200 § 1246 Nr 122 mwN). Es unterliegt auch keinen Bedenken, wenn das LSG den gehobenen Pförtner im öffentlichen Dienst nach der Vergütungsgruppe IXb Nr 26 der Anlage 1a zum Bundesangestelltentarif als geeigneten Verweisungsberuf für einen Facharbeiter angesehen hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 86). Es handelt sich um die Pförtner bei großen kommunalen Verwaltungen und Betrieben in Verwaltungsgebäuden mit starkem Publikumsverkehr, die in größerem Umfang Auskünfte zu erteilen haben und für die die Kenntnis der Zuständigkeit nicht nur der Dienststelle (des Betriebes) bei dem sie beschäftigt sind, erforderlich ist. Als kommunale Einrichtungen und Betriebe gelten Einrichtungen und Betriebe des Landes Berlin, der Freien Hansestadt Bremen und der Freien und Hansestadt Hamburg, die kommunalen Zwecken dienen (Protokollnotiz Nr 7 in der Anlage 1a des Bundesangestelltentarifs, Vergütungsgruppe IXb Nr 26). Zutreffend hat das LSG auch die Anforderungen festgestellt, die der Verweisungsberuf stellt, und geprüft, ob der Kläger diesen Anforderungen gewachsen ist. Die von dem LSG getroffenen Feststellungen reichen aber für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Das LSG hat zwar festgestellt, daß die Tätigkeit des genannten Pförtners mit nicht unerheblichen nervlichen Belastungen verbunden ist und beträchtliche Anforderungen an Konzentrationsvermögen, Merkfähigkeit und geistige Wendigkeit stellt, denen der Kläger nicht mehr gewachsen ist. An diese Feststellungen ist das Revisionsgericht jedoch nicht gebunden, weil in bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG). Diese Feststellungen beruhen nämlich auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 Grundgesetz -GG-; §§ 62, 128 Abs 2 SGG).
Es ist nicht ersichtlich, daß das LSG sich bei den von der Revision beanstandeten Feststellungen auf irgendwelche Unterlagen oder Ermittlungen gestützt hat, zu denen die Beteiligten Zugang hatten. Vielmehr erscheinen sie erstmals im Urteil des LSG. Es ist zwar wahrscheinlich, daß an den gehobenen Pförtner auch gehobene Anforderungen gestellt werden, wie das LSG es ausführt. Denn die erhöhte Bezahlung und die darin zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung der Tätigkeit wird ihre Entsprechung in erhöhten Anforderungen haben.
Wenn aber das LSG von eigenen Vorstellungen tatsächlicher Art ausgehen will, so ist es nach den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs gehalten, den Beteiligten zuvor Gelegenheit zu geben, hierzu ihre eigenen Auffassungen zu vertreten und gegebenenfalls Beweis anzubieten.
Bei den Anforderungen, die an einen gehobenen Pförtner nach dem Bundesangestelltentarif gestellt werden, handelt es sich auch nicht um allgemeinkundige Tatsachen, die den Parteien mit Sicherheit gegenwärtig und bekannt waren (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 15). Mit seinem Gerichtswissen durfte das LSG die Beklagte nicht im Urteil überraschen. Es hätte seine Feststellungen nur treffen dürfen, wenn es den Beteiligten vorher Gelegenheit gegeben hätte, dazu Stellung zu nehmen (BSG SozR 1500 § 128 Nr 4 und § 62 Nr 3). Da das LSG insoweit vor seinen tatsächlichen Feststellungen die Beteiligten nicht gehört hat, ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß es durch hierzu von der Beklagten vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel eine andere Überzeugung erlangt hätte.
Da die Tatsachenfeststellungen des LSG somit wegen der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht verwertbar sind, es auf sie bei der Entscheidung jedoch ankommt, ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen, damit die notwendigen tatsächlichen Feststellungen nachgeholt werden können. Zu prüfen ist auch, ob wegen der Seltenheit der Stellen des gehobenen Pförtners dem Kläger insoweit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl BSG SozR § 1246 Nr 101; 110).
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens unter Einschluß der Kosten der Revisionsinstanz zu befinden haben.
Fundstellen