Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob aus Berechnungsbeispielen in einer Aufklärungsschrift (Broschüre) des Versicherungsträgers ein Anspruch auf Höherberechnung einer Rente hergeleitet werden kann.
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch bei falscher individueller Auskunft oder Beratung entsteht keine Verpflichtung des Versicherungsträgers, sich künftig entsprechend der Falschinformation zu verhalten.
2. Die Bindung eines Versicherungsträgers an eine Zusage findet dort ihre Grenzen, wo er durch die Erfüllung der Zusage zu einem gesetzwidrigen Verhalten gezwungen würde.
Normenkette
AVG § 103 S. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1324 S. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. November 1974 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die im Juli 1907 geborene Klägerin hat im Dezember 1972 die Gewährung von Altersruhegeld beantragt und gleichzeitig für die Jahre 1956 bis 1972 gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge (insgesamt 40.800,- DM) nachentrichtet. Mit Bescheid vom 18. Mai 1973 hat die Beklagte dem Rentenantrag entsprochen; ausgehend vom Eintritt des Versicherungsfalles am 31. Dezember 1972 gewährte sie Rente in Höhe von 406,40 DM monatlich für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1973 und ab 1. Juli 1973 (Rentenanpassung nach dem 16. Rentenanpassungsgesetz - RAG -) in Höhe von monatlich 452,50 DM. Die Rente beruht allein auf den nachentrichteten Beiträgen.
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Zahlung eines Betrages von 446,24 DM (statt 406,40 DM) für die Zeit von Januar bis Juni 1973. Sie macht geltend, in einer ihr von der Beratungs- und Auskunftsstelle der Beklagten ausgehändigten Broschüre "Geld = Rente" sei ein Berechnungsbeispiel enthalten gewesen, wonach bei einer Einzahlung von 40.800,- DM für die Zeit von 1956 bis Dezember 1972 die Rente 1973 monatlich 446,24 DM betrage. Das sei ihr dort auch mündlich bestätigt worden.
Das Sozialgericht (SG) entschied im Sinne der Klägerin. Die Broschüre sei dahin auszulegen, daß in jenem Beispiel ein Rentenbeginn bereits mit Januar 1973 gemeint sei. Die Broschüre enthalte keinen Hinweis oder Zusatz, daß einer der Berechnungsfaktoren nur vorläufig angenommen sei. Mit dem einer Individualaussage gleichkommenden Berechnungsbeispiel habe die Beklagte eine Interessenlage geschaffen, die der einer konkreten Zusage nahezu identisch sei; sie habe deshalb hierfür einzustehen. Das SG hat die Berufung zugelassen.
Die Beklagte hat mit Zustimmung der Klägerin Sprungrevision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Sie rügt die Verletzung des § 103 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (§ 1324 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Klägerin habe alles bekommen, was ihr nach dem Gesetz zustand. Sie habe verkannt, daß dem in der Broschüre genannten Beispiel ein Versicherungsfall des Jahres 1973 zugrunde liege. Die Schrift sei erst gegen Ende des Jahres 1972 veröffentlicht worden, um vor allem die große Anzahl der für 1973 erwarteten Antragsteller zu beraten.
Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die noch unter der Geltung alten Rechts (§ 161 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - aF) eingelegte Sprungrevision der Beklagten ist zulässig und auch begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig.
Die Klägerin hat unstreitig im Dezember 1972 die Rente beantragt. Von ihrem Recht, den Versicherungsfall abweichend von der Feststellung der Beklagten zu bestimmen, hat sie keinen Gebrauch gemacht. Unter diesen Umständen hat die Beklagte die Rente der Klägerin richtig berechnet. Die Klägerin hat alles erhalten, was ihr nach den gesetzlichen Vorschriften zustand; ein versicherungsrechtlicher Schaden oder Nachteil ist ihr nicht entstanden. Sie macht einen solchen auch nicht geltend, obgleich sie in der Revisionserwiderung von "versicherungsrechtlichen Nachteilen" spricht. Die Klägerin verlangt, daß die Beklagte sich ihr gegenüber so verhält, wie sie (die Klägerin) aufgrund jenes Berechnungsbeispiels in der Broschüre habe erwarten müssen. Ein derartiger - auf Vornahme einer Amtshandlung, nämlich Höherfeststellung der Rente gerichteter - Anspruch besteht jedoch nicht.
Das in der Broschüre enthaltene Berechnungsbeispiel bedeutete - wovon auch das SG ausgeht - keine Zusage der Beklagten an die Klägerin, daß ihr im Jahre 1973 der dort genannte Rentenbetrag gezahlt werde. Dem steht nicht entgegen, daß das Berechnungsbeispiel keinen einschränkenden Zusatz oder Hinweis über eine nur vorläufige Annahme von Berechnungsfaktoren enthielt. Der Grad von Verbindlichkeit, der für das Vorliegen einer Zusicherung (Zusage, vgl. dazu jetzt § 38 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 25. Mai 1976, BGBl I 1253) entscheidend ist, war jedenfalls nicht erreicht. Im übrigen setzt eine Zusage eine Erklärung gegenüber einer Einzelperson voraus. Die Broschüre wendete sich an eine Vielzahl von Interessenten. Ihre Verbreitung war eine allgemein aufklärende Maßnahme der Beklagten. Die allgemeine Aufklärungspflicht ist in dem hier noch anzuwendenden § 103 AVG festgelegt, der inhaltlich dem seit 1. Januar 1976 geltenden § 13 des Sozialgesetzbuches entspricht. Aus Informationen im Rahmen der allgemeinen Aufklärung können aber keine Ansprüche auf Vornahme von Amtshandlungen entsprechend diesen Informationen hergeleitet werden (vgl. BSG 23, 248, 251 f).
Nach dem festgestellten Sachverhalt hat die Klägerin allerdings bei der Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten vorgesprochen, und dort ist sie offenbar bei der Aushändigung der Broschüre auf die darin genannte Rentenhöhe hingewiesen worden. Deshalb kommt (vgl. auch BSG aaO) neben Maßnahmen der allgemeinen Aufklärung hier noch eine davon zu unterscheidende, im Einzelfall erteilte Auskunft oder Beratung in Betracht (vgl. §§ 13, 14 des Sozialgesetzbuches). Am Ergebnis ändert sich dadurch indessen nichts. Denn auch bei falscher individueller Auskunft oder Beratung entsteht keine Verpflichtung des Versicherungsträgers, sich künftig entsprechend der Falschinformation zu verhalten (vgl. BSG 18, 270, 273; 23, 248, 252; 25, 219, 220).
Selbst wenn jedoch eine Zusicherung zu bejahen wäre, müßte diese hier als unverbindlich angesehen werden. Ein Versicherungsträger ist zwar nach Treu und Glauben grundsätzlich an Zusagen gebunden; dieser Grundsatz findet aber dort seine Grenze, wo er durch Erfüllung der Zusage zu einem gesetzwidrigen Verhalten genötigt wäre (vgl. BSG 14, 104, 108; 18, 270, 273 und 23, 248, 252). Das wäre hier der Fall. Ein schutzwürdiges Interesse der Klägerin an einer Erfüllung der "Zusage" wäre entgegen der Ansicht des SG nicht zu erkennen; allein ihre irrige Annahme, daß sie aufgrund jenes Berechnungsbeispiels in der Broschüre für das erste Halbjahr 1973 einen höheren Rentenbetrag zu erwarten habe, reicht dafür nicht aus (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Buchholz 315.4 Nr. 2, S. 12: Vertrauensschutz nur, wenn die Nichteinhaltung der Zusage zu nahezu untragbaren Verhältnissen führen würde). Andere für einen etwaigen Verstoß gegen Treu und Glauben bedeutsame Umstände sind nicht festgestellt. Was für eine Zusage gilt, müßte aber für eine vom SG angenommene ihr "nahezu identische Interessenlage" erst recht gelten.
Das "Vertrauen" der Klägerin wäre nur insoweit geschützt, als im Falle eines durch falsche Information eingetretenen Schadens die Grundsätze der Amtshaftung für Behördenauskünfte eingreifen würden (§ 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Einen solchen Schaden hat sie jedoch nicht geltend gemacht; die Entscheidung von Streitigkeiten hierüber obläge im übrigen den Zivilgerichten.
Auf die Sprungrevision der Beklagten muß somit das angefochtene Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen