Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweislast in der gesetzlichen Unfallversicherung bei Unaufklärbarkeit des Unfallherganges
Leitsatz (redaktionell)
1. Beruht die Verletzung des Versicherten auf einer während der Arbeitszeit eingetretenen akuten Vergiftung, so kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen auf den beruflichen Umgang mit Gift zurückzuführen ist.
2. Ist nicht nachweisbar, ob der Tod durch betriebsbezogene Umstände verursacht oder vorsätzlich herbeigeführt worden ist (Selbsttötung), so geht die Ungewißheit darüber, ob der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem schadenstiftenden Ereignis noch besteht, zu Lasten des Leistungsbegehrenden.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. April 1975 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28. Mai 1973 werden aufgehoben, soweit sie den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente betreffen.
Die Klage auf Witwenrente wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Witwe des S K (K.), der bei der Bauabteilung der Schmuckwarenfabrik R & W in P als Bauhelfer beschäftigt war. Am 23. September 1969 arbeitete er im 2. Obergeschoß des Verwaltungsneubaus seines Arbeitgebers; er half beim Ausfugen von Mauerwerk. Gegen 10.15 Uhr wurde er im Kellergeschoß des Gebäudes im bewußtlosen Zustand aufgefunden. Der Boden des Kellergeschosses war etwa 2 bis 3 cm mit Wasser bedeckt; im Raum befanden sich die giftigen Gase des Lösungsmittels Dichloräthan, das in einem am Vortag auf dem Fußboden des Erdgeschosses aufgebrachten Haftgrund enthalten war. K. starb am 24. September 1969 an den Folgen einer Dichloräthanvergiftung. Durch Bescheid vom 27. Juli 1970 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche der Klägerin und ihrer drei Kinder ab. Die Arbeitsstelle des K. sei im 2. Stockwerk des Neubaus gewesen, und er habe keinen Auftrag gehabt, sich in den Keller zu begeben. Es seien auch keine erkennbaren Hinweise festzustellen, die ihn veranlaßt haben könnten, den Keller zu betreten. Die bei der Obduktion erhobenen Befunde hätten ergeben, daß das Dichloräthan über den Verdauungstrakt in den Körper aufgenommen und keine Dichloräthandämpfe eingeatmet worden seien. Nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft sei im Hinblick auf die Gestalt und die Bezeichnung der Dichloräthan enthaltenden Behälter eine irrtümliche Einnahme des Giftes auszuschließen. K. habe sich das Dichloräthan widerrechtlich beschafft und davon in selbstmörderischer Absicht getrunken. Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin und ihren drei Kindern für den Arbeitsunfall vom 23. September 1969 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren (Urteil vom 28. Mai 1973). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zurückgewiesen (Urteil vom 24. April 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Berufung sei unzulässig, soweit sie die Ansprüche auf Sterbegeld, Überbrückungshilfe und auf Waisenrente für abgelaufene Zeiträume betreffe. Hinsichtlich des Anspruchs der Klägerin auf Witwenrente sei die Berufung zwar zulässig, aber nicht begründet. Das SG habe zutreffend entschieden, daß K. am 23. September 1969 einen Arbeitsunfall erlitten habe. Es sei zwar ungeklärt und auch nicht mehr aufklärbar, zu welchem Zweck sich K. in das Kellergeschoß begeben habe. Jedoch stehe fest, daß er an einer Vergiftung mit Dichloräthan gestorben sei. Dieses Lösungsmittel sei am 22. September 1969 zur Vorbereitung des Fußbodens im Erdgeschoß aufgebracht worden, und die Dichloräthandämpfe seien infolge ihres im Vergleich zur Luft höheren spezifischen Gewichts auf den Boden des Kellergeschosses abgesunken. Für eine Einnahme von Dichloräthan in selbstmörderischer Absicht seien keine eindeutigen Anzeichen vorhanden. Die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid beruhten lediglich auf einer Vermutung. Werde ein Versicherter auf der Betriebsstätte tot oder bewußtlos aufgefunden und sei die haftungsbegründende Kausalität nicht feststellbar, so sei unter Berücksichtigung aller Tatumstände in freier Beweiswürdigung zu entscheiden, ob eine der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Ursache den Tod herbeigeführt habe (BSG 19, 52). Bei der Übertragung dieser Grundsätze auf den zu entscheidenden Fall sei der Senat aufgrund der Tatsache, daß sich der Unfall auf dem Betriebsgelände ereignet habe und K. durch die Fernwirkung (abgesunkene Giftgase) der im Betrieb aus baulichen Gründen auf den Fußboden (Betriebseinrichtung) aufgetragenen Chemikalien bewußtlos geworden und schließlich zu Tode gekommen sei, zu der Überzeugung gelangt, daß hier ein Arbeitsunfall im Sinne des § 548 RVO vorgelegen habe. Der Feststellung des vorhanden gewesenen Versicherungsschutzes stehe nicht der Umstand entgegen, daß durch die Beweisaufnahme nicht habe ermittelt werden können, warum sich K. in den verseuchten Kellerraum begeben habe. Da K. an den Folgen eines Arbeitsunfalls verstorben sei, habe die Klägerin Anspruch auf die sich aus §§ 589 ff. Reichsversicherungsordnung (RVO) ergebenden Leistungen.
Die Revision ist hinsichtlich des Anspruchs der Klägerin auf Witwenrente zugelassen worden (Beschluß vom 23. Oktober 1975 - 2 BU 69/75).
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Nach längst gefestigter Rechtsprechung bestehe keine Rechtsvermutung des Inhalts, daß ein Versicherter, der auf der Betriebsstätte tot aufgefunden werde und für dessen Tod eine Betriebseinrichtung in Betracht komme, einem Arbeitsunfall erlegen sei. Der Verunglückte müsse auch aus betrieblichen Gründen oder zumindest im Zusammenhang mit einer betrieblichen Tätigkeit an der Stelle gewesen sein, an der er der tödlichen Gefahr erlegen sei. Es müsse somit bei einem Tod auf der Betriebsstätte unter Mitwirkung einer Betriebseinrichtung ein unfallversicherungsrechtlich relevanter Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt des Versicherten an der Unfallstelle und dem versicherten Betrieb bestanden haben. Der Zweck des Aufenthalts des Verunglückten im Kellergeschoß habe nach den Ausführungen des LSG nicht geklärt werden können und sei auch nicht mehr klärbar. Die Klägerin sei daher hinsichtlich einer unabdingbaren Voraussetzung für ihr Rentenbegehren beweislos geblieben. Ihre Klage sei daher abzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 24. April 1975 und des SG Karlsruhe vom 28. Mai 1973 aufzuheben, soweit sie den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente betreffen, und die Klage der Klägerin auf Witwenrente abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten sei das LSG nicht davon ausgegangen, daß im vorliegenden Fall eine Rechtsvermutung für den Tod ihres Ehemannes durch einen Arbeitsunfall bestehe. Vielmehr habe das LSG dargelegt, daß unter Berücksichtigung aller Tatumstände in freier Beweiswürdigung zu entscheiden sei, ob eine der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Ursache den Tod herbeigeführt habe. Es sei unter Berücksichtigung der vorliegenden Zeugenaussagen zu dem Ergebnis gekommen, daß ihr Ehemann jedenfalls infolge einer Betriebstätigkeit das Opfer der Betriebseinrichtung geworden sei. Für die Bejahung des Anspruchs komme es auf die genauere Bestimmung der Betriebstätigkeit nicht an, denn der Versicherungsschutz wäre selbst dann noch begründet, wenn es sich um eine eigenwirtschaftliche Verrichtung ihres Ehemannes gehandelt hätte. Es wäre mit dem Willen des Gesetzgebers unvereinbar, im vorliegenden Fall den Versicherungsschutz nur deshalb zu versagen, weil wegen möglicher Gedächtnislücken der vernommenen Zeugen nicht mehr aufgeklärt werden könne, aus welchem bestimmten betrieblichen Anlaß ihr Ehemann den verseuchten Kellerraum an seiner Arbeitsstätte aufgesucht habe. Es könne zudem nicht ausgeschlossen werden, daß genauere Angaben nur deshalb nicht zu erlangen gewesen seien, weil die für den Auftrag Verantwortlichen aus Furcht vor Vorwürfen oder gar strafrechtlichen Folgen geschwiegen haben.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Nach den Ausführungen des LSG ist ungeklärt und auch nicht mehr aufklärbar, zu welchem Zweck K. das Kellergeschoß aufgesucht hatte. Einen betriebsbedingten Auftrag habe K. dazu offensichtlich nicht gehabt. Dennoch ist das LSG "zu der Überzeugung gelangt", daß K. einen Arbeitsunfall erlitten habe, weil er durch betriebliche Einwirkungen zu Tode gekommen sei. Diese Auffassung ist nicht frei von Rechtsirrtum.
Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO angeführten Tätigkeiten erleidet (§ 548 Abs. 1 Satz 1 RVO). Es muß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall bestehen. Als Ursache und Mitursache sind nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehungen zu dem Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSG 1, 72, 76; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 480 f). Da das LSG keine Feststellungen darüber hat treffen können, zu welchem Zweck K. das Kellergeschoß aufgesucht hatte, kann nicht davon ausgegangen werden, daß es sich dabei um eine mit dem Beschäftigungsverhältnis im ursächlichen Zusammenhang stehende Verrichtung gehandelt hat. Zwar ist der Unfall durch betriebliche Einflüsse verursacht worden. Das allein genügt jedoch nicht, um diese als eine wesentliche Bedingung für das Zustandekommen des Unfalls anzusehen. Denn in der allgemeiner gesetzlichen Unfallversicherung ist grundsätzlich kein Raum für die Annahme eines sog. Betriebsbannes, nach dem der Versicherungsschutz - im Falle besonderer, einem Betrieb eigentümlichen Gefahr - auch auf Tätigkeiten erstreckt wird, die sonst dem privaten Lebensbereich zugerechnet werden (vgl. BSG 14, 197, 200; Brackmann aaO S. 480 sI). Entscheidend ist, daß K., ohne daß dafür betriebliche Gründe festgestellt werden konnten, sich in das Kellergeschoß und damit in den Gefahrenbereich der betrieblichen Einwirkungen durch die abgesunkenen giftigen Dichloräthangase begeben hat, wodurch der Unfall herbeigeführt wurde. Bei seiner versicherten Tätigkeit als Bauhelfer wäre K. diesen gefährlichen betrieblichen Einwirkungen nicht ausgesetzt gewesen. Die versicherte Tätigkeit war keine Mitursache des Unfalls vom 23. September 1969, sie bot K. nur die Gelegenheit, sich aus ungeklärten Gründen in das Kellergeschoß zu begeben; sie war lediglich eine sog. Gelegenheitsursache (vgl. das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des erkennenden Senats vom 22. Januar 1976 - 2 RU 101/75 -).
Da das LSG aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht hat feststellen können, daß sich K. aus betrieblichen Gründen in das Kellergeschoß begeben hat, ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit des K. und dem Eintritt seines Todes, der den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente begründen könnte, nicht erwiesen. Die sich daraus ergebenden Nachteile trägt nach dem Grundsatz der objektiven oder materiellen Beweislast (Feststellungslast) die Klägerin als diejenige, die aus den feststellungsbedürftigen, aber nicht bewiesenen Tatsachen ein Recht herleitet (BSG 19, 52, 53; Brackmann aaO S. 480 oI). Die vorinstanzlichen Urteile waren daher aufzuheben, soweit sie den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente (§§ 589 Abs. 1 Nr. 3, 590 RVO) betreffen, und die Klage der Klägerin auf Witwenrente mußte abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen