Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes während einer Lebensrettungsaktion.
2. Um eine Rettung aus gegenwärtiger Lebensgefahr iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a handelt es sich nicht, wenn die Rettungshandlungen wesentlich der eigenen Rettung dienen.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. November 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger arbeitet seit dem Jahre 1964 in der Bundesrepublik Deutschland. Am 11. September 1971 besuchte er seinen Bruder in E. Er übernachtete bei diesem in dessen Zimmer in einem Barackenbau aus Holz mit massivem Untergeschoß. In der Nacht entstand in dieser Wohnbaracke ein Brand. Der Kläger hörte einen Knall und nahm Geräusche und Hitze vom Korridor her wahr. Er sprang aus dem Bett und weckte seinen Bruder durch Rufen und Rütteln mit der Hand. Dann öffnete er das Fenster, um sich zu orientieren. Daraufhin öffnete er die Tür zum Korridor, um festzustellen, ob ein Entkommen durch die in der Nähe liegende zentrale Ausgangstür noch möglich sei. Als er die Tür aufmachte, drang dichter Rauch ins Zimmer und Flammen schlugen herein. Seinem Bruder rief er sinngemäß zu, er solle kommen, sie müßten zum Fenster hinaus. Inzwischen waren die Flammen infolge des zwischen Tür und Fenster entstandenen Luftzugs ins Zimmer gezogen worden, wodurch der Kläger Verbrennungen 1. und 2. Grades im Bereich der linken Schulter und des linken Nackens erlitt. Der Kläger sprang als erster aus dem Fenster. Er zog sich dabei eine Kompressionsfraktur des 1. Lendenwirbelkörpers von erheblichem Ausmaß, verbunden mit Gefühlsstörungen und Bewegungsstörungen im Bereich des linken Beines zu.
Der Kläger beantragte bei dem Beklagten die Gewährung einer Rente. Er machte geltend, er sei nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a der Reichsversicherungsordnung (RVO) versichert gewesen, da er seinen Bruder und andere Barackenbewohner durch Rufen geweckt und zur Flucht veranlaßt habe. Dadurch sei seine eigene Flucht verzögert worden, so daß er nur überstürzt aus dem Fenster habe springen können.
Mit Bescheid vom 25. Oktober 1973 lehnte das beklagte Land die Gewährung einer Entschädigung aus Anlaß des Ereignisses vom 12. September 1971 ab, da der Kläger sich durch den Sprung selbst habe retten wollen.
Der Kläger hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 14. Mai 1974 den Bescheid des Beklagten vom 25. Oktober 1973 aufgehoben und das beklagte Land verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Ereignisses in der Nacht vom 11. zum 12. September 1971 Entschädigungsleistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren, da der Kläger seine Verletzungen als Lebensretter seines Bruders erlitten habe.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 27. November 1975 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Es könne davon ausgegangen werden, daß der Kläger es im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO unternommen habe, einen anderen aus gegenwärtiger Lebensgefahr zu retten. Die Rettung seines Bruders habe sich jedoch im Wecken durch Zurufen und Rütteln mit der Hand erschöpft. Das Öffnen des Fensters und der Tür und letztlich der Sprung aus dem Fenster hätten seiner eigenen Rettung gedient. Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger durch das Wecken seines Bruders Zeit verloren habe, dadurch seine eigene Rettung verzögert worden sei und eine solche Verzögerung seine Verletzungen herbeigeführt habe, seien nicht gegeben. Das Wachrütteln seines Bruders habe höchstens fünf Sekunden in Anspruch genommen. Es könne auch nicht angenommen werden, daß der Sprung aus dem Fenster überstürzt erfolgt sei, weil der Kläger seinen Bruder zur Nachahmung habe veranlassen und weil er möglichst rasch den Platz am Fenster habe freimachen wollen. Der Kläger und sein Bruder seien durch die hereinschlagenden Flammen unmittelbar bedroht worden. Sie hätten beide erhebliche Verbrennungen erlitten. Der Sprung aus dem Fenster sei offensichtlich aus elementarer Lebensangst erfolgt. Der Kläger wäre in derselben Weise gesprungen, wenn sein Bruder nicht anwesend gewesen wäre.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er trägt vor: Dem LSG sei darin zuzustimmen, daß die Verbrennungen auch bei der eigenen Rettung entstanden wären ohne Rücksicht auf die parallellaufende Rettungstätigkeit für den Bruder. Das könne jedoch nicht gelten bei der Kompressionsfraktur an der Wirbelsäule. Diese Verletzung hänge direkt mit der durch die Rettungsaktion verbundenen zeitlichen Verzögerung und dem durch die Verantwortung für den zu Rettenden gesteigerten psychischen Druck zusammen. Das LSG gehe zu Unrecht davon aus, daß die nach dem Wecken vorgenommenen weiteren Handlungen nicht als Rettungshandlungen anzusehen seien. Hier bleibe festzuhalten, daß er planmäßig den einzig möglichen Fluchtweg erkundet und durch sein Beispiel dem Bruder den Mut zum Sprung aus dem Fenster gegeben habe. Das LSG gehe fehl in der Annahme, daß die Rettungstätigkeit des Klägers zu keiner zeitlichen Verzögerung geführt habe. Der Kläger habe den Bruder mit der Hand geweckt. Es seien mehrere Sätze miteinander gewechselt worden und es sei schließlich die Aufforderung ergangen, dem Beispiel des Sprungs aus dem Fenster zu folgen. Diese Handlungen hinweggedacht, ergäben eine Zeitersparnis von einigen Sekunden. Zudem laufe die Rettung der eigenen Person in höchster Gefahrensituation wahrscheinlich in instinktiven Bahnen ab, während die verantwortungsbewußte Mit-Rettung des Bruders auf denkmäßiger Ebene mit langsamerer Handlungsweise geschehe. Selbst wenn man aber davon ausgehen wollte, daß die einzige Rettungshandlung im Wecken des Bruders bestanden habe, müßte man immerhin erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der vom LSG angewendeten Kausalitätstheorie haben, die der gesetzgeberischen Intention des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO widersprechen dürfte. Kausalität im Sinne dieser Vorschrift müsse man bereits annehmen, wenn bei einer nach außen sichtbar gewordenen subjektiven Hilfeleistungseinstellung in Gefahrensituationen Handlungen getätigt würden, die direkt oder indirekt im weiteren Verlauf Schaden zur Folge hätten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 27. November 1975 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 14. Mai 1974 zurückzuweisen.
Das Land Baden-Württemberg beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Es hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger nicht bei der Rettung einer anderen Person aus gegenwärtiger Lebensgefahr im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a i. V. m. § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO verunglückt ist.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger seinen Bruder durch Zurufen und Rütteln geweckt und dadurch vor dem Verbrennen gerettet hat. Ebenso wie bei den anderen in § 539 Abs. 1 RVO angeführten Tätigkeiten liegt ein Arbeitsunfall im Sinne des § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO jedoch nur vor, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall besteht. Als Ursache und Mitursache sind unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen der besonderen Beziehung zum Erfolg und dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSG 1, 72, 76; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 480 d ff.). Entgegen der Auffassung der Revision erfordern Sinn und Zweck des § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a RVO insoweit keine abweichende Auslegung. Auch dem Schutzgedanken dieser Vorschrift ist dadurch Rechnung getragen, daß Unfälle, die wesentlich durch Rettungshandlungen verursacht sind, als Arbeitsunfälle im Sinne der angeführten Vorschrift gelten.
Der Kläger ist nicht beim Wecken seines Bruders durch Rütteln und Zurufen verunglückt. Der Unfall beim Sprung aus dem Fenster steht auch nicht im ursächlichen Zusammenhang mit dem der Rettung des Bruders dienenden Wecken. Das Erkunden eines geeigneten Fluchtweges und vor allem der Sprung aus dem Fenster, bei dem sich der Kläger die als Unfallfolgen geltend gemachten Verletzungen zugezogen hat, haben der eigenen Rettung gedient. Auch das LSG ist jedoch nicht, wie die Revision meint, der Auffassung, daß ein Kausalzusammenhang zwischen den Rettungshandlungen des Klägers und den beim Sprung aus dem Fenster erlittenen Gesundheitsstörungen schon deshalb nicht gegeben sei, weil nicht alle Handlungen zwischen dem Wecken des Bruders und dem Unfall der Rettung des Bruders aus gegenwärtiger Lebensgefahr gedient haben. Das LSG hat jedoch festgestellt, daß das Wachrütteln des Bruders den Sprung des Klägers um höchstens fünf Sekunden verzögert hat. Den weiteren, von der Revision ebenfalls nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, daß der Unfall des Klägers durch diese zeitliche Verzögerung weder in der Entstehung noch in der Schwere der Folgen wesentlich mitbedingt worden ist. Es kann dahinstehen, ob der Kläger dadurch, daß er als erster aus dem Fenster gesprungen ist, seinem Bruder Mut für den Sprung aus dem brennenden Gebäude gegeben hat und wegen des noch im Zimmer befindlichen Bruders hat schnell abspringen müssen. Selbst wenn man dies zugunsten des Klägers unterstellt, war nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG wesentliche Ursache für den Unfall des Klägers allein der durch den fortgeschrittenen Brand zur eigenen Rettung notwendige Sprung aus dem Fenster. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß der Kläger wesentlich überlegter und unter wesentlich geringerem psychischen Druck hätte springen können, wenn nicht er als erster gesprungen wäre, sondern erst seinen Bruder hätte springen lassen und er ihm dann wegen des fortschreitenden Brandes in zumindest gleicher Eile nachgefolgt wäre.
Die Revision des Klägers ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen