Leitsatz (redaktionell)
Zum Verhältnis von objektiven und subjektiven Einschränkungen der Verfügbarkeit.
1. Nach arbeitsamtsärztlicher Beurteilung war der Kläger noch in der Lage, 4-5 Stunden täglich eine sitzende Beschäftigung ohne wesentliche Hebe- und Tragearbeit zu verrichten.
Das LSG hat die Verfügbarkeit des Klägers zutreffend verneint und deshalb die Klage zu Recht abgewiesen.
2. Zur Frage der üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes iS des AVAVG § 76 Abs 1.
Normenkette
AVAVG § 76 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Juni 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Im Streit ist ein Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg).
Der am 21. März 1905 geborene, in M (Ruhr) wohnhafte Kläger bezog auf Grund eines am 20. Mai 1965 vor dem Sozialgericht (SG) Duisburg geschlossenen Vergleichs vom 1. Januar 1965 an die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit; vom 1. August 1966 an erhielt er das vorzeitige Knappschaftsruhegeld wegen Arbeitslosigkeit. Er war zuletzt bis zum 8. Juni 1965 außerhalb des Bergbaus als Kauenwärter beschäftigt. Am 5. August 1965 meldete er sich beim Arbeitsamt (ArbA) arbeitslos und beantragte Alg. Nach arbeitsamtsärztlicher Beurteilung war er noch in der Lage, vier bis fünf Stunden täglich eine sitzende Beschäftigung ohne wesentliche Hebe- und Tragearbeit zu verrichten. Sein Antrag auf Alg wurde mit der Begründung abgelehnt, er könne auf Grund seines geminderten Leistungsvermögens keine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben und stehe daher der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung (Bescheid vom 3. September 1965). In dem Bescheid vom 25. Oktober 1965, mit dem sein Widerspruch zurückgewiesen wurde, wird ausgeführt, Arbeitsplätze, für die er auf Grund seiner Leistungsminderung evtl. noch in Betracht käme, seien auf dem für ihn erreichbaren Arbeitsmarkt in nennenswertem Umfang nicht vorhanden.
Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das SG Duisburg die Beklagte am 14. März 1967 unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, dem Kläger Alg seit dem 5. August 1965 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Kläger sei ernstlich bereit und in der Lage, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Schon die beigezogene Sammlung von Stellenangeboten aus einer Tageszeitung für September und Oktober 1965 zeige, daß für Rentner zahlreiche Arbeitsplätze, namentlich in M, angeboten würden.
Nach weiterer Beweisaufnahme hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen unter Abänderung des sozialgerichtlichen Urteils die Klage abgewiesen. Es hat den Anspruch des Klägers auf Alg mit folgender Begründung verneint: Der Kläger habe der Arbeitsvermittlung in dem in Betracht kommenden Zeitraum von 156 Tagen nicht zur Verfügung gestanden. Zwar hätte er trotz seines eingeschränkten körperlichen Leistungsvermögens noch regelmäßig bis zu fünf Stunden täglich leichte Arbeiten im Sitzen verrichten und daher auch im Rahmen der 5-Tage-Woche mit insgesamt 25 Stunden die Geringfügigkeitsgrenze von 24 Stunden wöchentlich überschreiten können; auch sei er zur Überzeugung des Senats durchgehend ernstlich bereit gewesen, die ihm objektiv zumutbare leichte Teilzeitbeschäftigung von fünf Stunden täglich zu verrichten. Er stehe jedoch bei einer solchen Arbeitszeit dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den "üblichen Bedingungen", zu denen auch die Dauer der Arbeitszeit gehöre, nicht zur Verfügung. Zwar umfasse der "allgemeine Arbeitsmarkt" räumlich grundsätzlich das ganze Bundesgebiet, jedoch kämen für den Kläger, der nur noch leichte Halbtagsarbeit im Sitzen ohne schweres Heben und Tragen verrichten könne und dem daher auch längere Anmarschwege nicht zumutbar seien, nur Arbeitsplätze im Raum Mülheim und seiner engeren Umgebung in Betracht, weil er seinen dortigen Wohnsitz nicht aufzugeben beabsichtige. In diesem Raume seien in den Jahren 1965/1966 solche Halbtagsbeschäftigungen einfacher Art für Männer nicht üblich gewesen, wie die Vernehmung des als sachverständigen Zeugen gehörten Verwaltungsrats P, der auf Grund seiner seit 1957 überwiegend in M und O ausgeübten Tätigkeit in der Arbeitsvermittlung einen guten Überblick über die Arbeitsmarktlage in diesem Raum besitze, ergeben habe. Hiernach seien dort weder auf Grund von Repräsentativumfragen bei größeren Unternehmen noch im Wege von Kontakten zu kleineren Betrieben Teilzeitarbeitsplätze in nennenswertem Umfang feststellbar gewesen. Lediglich in einzelnen Fällen seien Männer in Teilzeitarbeit beschäftigt worden, meist ehemalige Vollbeschäftigte der Betriebe, und diese auch nur in geringfügigem Umfang. Auch die Auswertung der Einstellungs- und Entlassungsanzeigen habe keine Anhaltspunkte für eine nennenswerte Teilzeitbeschäftigung ergeben. Bei der üblichen Überprüfung von Stellenanzeigen in Zeitungen habe sich stets herausgestellt, daß es sich um Arbeiten von weniger als vier Stunden täglich gehandelt habe. Aus der statistischen Erfassung von Arbeitsuchenden, offenen Stellen und Vermittlungen für Teilzeitarbeit für die Jahre 1965 bis 1967 ergebe sich, daß in dieser Zeit nur ein einziger Arbeitsplatz für Männer gemeldet worden sei und männliche Arbeitskräfte überhaupt nicht hätten vermittelt werden können. Hiernach könnten vier- bis fünfstündige Teilzeitbeschäftigungen für Männer - zumal solche für leichte Arbeiten im Sitzen - in dem für den Kläger erreichbaren Raum nicht festgestellt werden.
Mit der -- vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger als mangelnde Sachaufklärung: Das LSG hätte seine Prüfung nicht auf die Einsatzmöglichkeiten im Raum M und Umgebung beschränken dürfen, vielmehr feststellen müssen, ob es nicht in anderen Gebieten der Bundesrepublik entsprechende Teilzeitarbeitsplätze gebe. Unter dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei räumlich der Geltungsbereich des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) auch dann zu verstehen, wenn die Ausgleichsfähigkeit des Arbeitslosen eingeschränkt sei. Außerdem wäre es noch erforderlich gewesen, Träger der Rentenversicherung zu der Frage zu hören, ob nicht nur in Einzel- und Ausnahmefällen, sondern in nennenswertem Umfang Arbeitsverhältnisse, wie sie für den Kläger in Betracht kämen, eingegangen würden; diese Stellen hätten entsprechende Teilzeitarbeitsplätze in nennenswerter Zahl angeben können.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14. März 1967 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
II
Die - vom LSG zugelassene - Revision ist nicht begründet. Der geltend gemachte Anspruch auf Alg, das unter Berücksichtigung der Wartezeit des § 92 AVAVG am 8. August 1965 begonnen hätte, würde zwar wegen der dem Kläger zuerkannten Leistungen aus der knappschaftlichen Rentenversicherung für die über 156 Tage hinausgehende Zeit geruht haben (§ 87 Abs. 5 AVAVG; BSG in SozR Nr. 2 zu § 87 AVAVG), im übrigen würde aber der Anspruch auf diese knappschaftlichen Leistungen dem Anspruch auf Alg nicht nach § 74 Abs. 3 AVAVG entgegenstehen, weil dieser auf beitragspflichtiger Beschäftigung außerhalb des Bergbaus beruhen würde.
Umstritten ist unter den Beteiligten nur die Frage, ob der Kläger während der hier in Betracht kommenden Zeit der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden hat; die übrigen in § 74 Abs. 1 AVAVG genannten Voraussetzungen des Anspruchs auf Alg sind im vorliegenden Fall zweifelsfrei erfüllt. Nach § 76 Abs. 1 AVAVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer ernstlich bereit (Nr. 1), ungeachtet der Lage des Arbeitsmarktes nach seinem Leistungsvermögen imstande (Nr. 2) sowie nicht durch sonstige Umstände daran gehindert (Nr. 3) ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Das LSG hat hierzu unangefochten festgestellt, daß der Kläger noch in der Lage war, täglich bis zu 5 Stunden leichte Arbeit im Sitzen mit gewissen funktionellen Einschränkungen zu verrichten, und daß er hierzu auch durchgehend ernstlich bereit gewesen ist. Eine hiernach für den Kläger in Betracht kommende Tätigkeit überschreitet auch den Rahmen einer nur geringfügigen Beschäftigung i. S. des § 66 AVAVG.
Es kommt demnach entscheidend darauf an, ob es sich bei einer solchen Beschäftigung, zu der der Kläger fähig und auch bereit war, um eine "Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" handelt. Zu den "üblichen Bedingungen" gehört nach ständiger Rechtsprechung des Senats bei in ihrem Leistungsvermögen beschränkten Arbeitslosen auch die Dauer der Arbeitszeit (s. BSG 11, 16, 20 ff; 12, 226; SozR Nr. 6 zu § 76 AVAVG). Der Senat sieht keinen Anlaß, von dieser Auslegung des hier allein maßgebenden alten, d. h. bis zum Inkrafttreten des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) geltenden Rechts abzugehen. Es war demnach zu prüfen, ob Beschäftigungsverhältnisse mit Teilzeitarbeit, wie sie für den Kläger in Betracht kamen, in den Jahren 1965/1966 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich waren.
Bei dieser Prüfung hat sich das LSG zu Recht auf den Raum M und dessen engere Umgebung beschränkt. Grundsätzlich umfaßt der allgemeine Arbeitsmarkt allerdings den gesamten Geltungsbereich des AVAVG; das Arbeitsamt kann, wenn es seine Vermittlungsaufgabe erfüllen soll, die Vermittlung nicht auf den Wohnort des Arbeitslosen beschränken, sondern muß darüber hinaus bis zum Ausgleich im ganzen Bundesgebiet gehen. Das gilt aber nicht, wenn die Ausgleichsfähigkeit des Arbeitslosen, d. h. seine "Fähigkeit, überörtlich, überbezirklich oder wo auch immer im Bundesgebiet vermittelt zu werden", nicht gegeben ist. In diesen Fällen schrumpft der allgemeine Arbeitsmarkt räumlich auf das für den Arbeitslosen erreichbare Gebiet zusammen (vgl. BSG 11, 16, 19; SozR Nr. 12 zu § 76 AVAVG). Die Ausgleichsfähigkeit ist für den räumlichen Umfang des allgemeinen Arbeitsmarktes maßgebend, weil Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur zu gewähren sind, wenn überhaupt die Möglichkeit besteht, den Arbeitslosen wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern; diese Möglichkeit ist bei fehlender Ausgleichsfähigkeit aber nur in dem für den Arbeitslosen erreichbaren Raum gegeben. Im Falle des Klägers hat das LSG unangefochten festgestellt, ihm seien aus den sein Leistungsvermögen einschränkenden gesundheitlichen Gründen längere Anmarschwege nicht zumutbar. Hierdurch entfällt allerdings seine Ausgleichsfähigkeit nur hinsichtlich der Möglichkeit des sogenannten "Pendelns". Im übrigen hat das LSG sich mit der Feststellung begnügt, der Kläger beabsichtige nicht, seinen Wohnsitz in Mülheim aufzugeben; es hat nicht dargelegt, ob die fehlende Umzugsbereitschaft objektiv gerechtfertigt war. Wenn auch die vorliegenden tatsächlichen Feststellungen zur Beurteilung dieser Frage nicht ausreichen, so bedarf es doch hierzu keiner weiteren Ermittlungen, da es aus Rechtsgründen nicht darauf ankommt. War nämlich der Kläger insoweit nicht ausgleichsfähig, so beschränkt sich der allgemeine Arbeitsmarkt auf das für ihn erreichbare Gebiet, also den Raum Mülheim und dessen engere Umgebung. War seine fehlende Umzugsbereitschaft aber objektiv unbegründet, so fehlte als Voraussetzung der Verfügbarkeit schon die ernstliche Arbeitsbereitschaft, die grundsätzlich auch die Bereitschaft zur Vermittlung an einem anderen Ort umfaßt. Jedenfalls aber kann er sich der Beklagten gegenüber nicht darauf berufen, daß der Prüfung seiner Verfügbarkeit der räumlich unbeschränkte Arbeitsmarkt der Bundesrepublik zu Grunde gelegt werden müsse, wenn er zu einer Vermittlung insoweit nicht bereit ist. Wer ohne das Vorliegen objektiver Hinderungsgründe nicht zum Zwecke der Arbeitsvermittlung umzugsbereit ist, kann nicht verlangen, besser gestellt zu werden als der tatsächlich Behinderte.
Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, daß in dem hiernach maßgebenden Raum von Mülheim und seiner näheren Umgebung Teilzeitbeschäftigungen von vier bis fünf Stunden für Männer, zumal für leichte Arbeiten im Sitzen, in den Jahren 1965/1966 nicht als üblich i. S. des § 76 Abs. 1 AVAVG angesehen werden könnten. Der Begriff "üblich" steht dabei, wie der erkennende Senat in BSG 11, 16, 20 ausgeführt hat, im Gegensatz zu Ausnahme- oder Einzelfällen, auch wenn diese häufiger sein sollten. Eine "Übung" ist hiernach dann anzunehmen, wenn Arbeitsverhältnisse unter diesen Bedingungen in nennenswertem Umfang eingegangen zu werden pflegen; sie müssen in einer beachtlichen Zahl gegeben sein, aus der eine entsprechende Übung entnommen werden kann. Da es nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG in dem genannten Raum damals allenfalls vereinzelt Teilzeitarbeitsplätze gab, die für den Kläger nach seinem eingeschränkten Leistungsvermögen in Betracht kamen, ist die rechtliche Würdigung des LSG nicht zu beanstanden. Seine tatsächlichen Feststellungen hierzu sind mit der Revision nicht wirksam angegriffen worden. Die Rüge, das LSG hätte zu der Frage, ob es für den Kläger geeignete Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gab, auch Rentenversicherungsträger hören müssen, soll offenbar nur in Verbindung mit der materiellrechtlichen Auffassung der Revision, es komme auch bei fehlender Ausgleichsfähigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt der Bundesrepublik an, verstanden werden. Sollte die angeführte Rüge aber auch als Verfahrensrüge mangelnder Sachaufklärung erhoben worden sein, so ist sie unbegründet. Nachdem das LSG aus dem Ergebnis der eingehenden Vernehmung des sachverständigen Zeugen I bereits die Überzeugung erlangt hatte, daß es für den Kläger geeignete Arbeitsplätze nicht gab, brauchte es sich nicht gedrängt zu fühlen, hierzu noch weitere Ermittlungen anzustellen.
Das LSG hat demnach die Verfügbarkeit des Klägers zutreffend verneint und deshalb die Klage zu Recht abgewiesen.
Die Revision ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen