Entscheidungsstichwort (Thema)
Bisheriger Beruf. tarifliche Gleichstellung eines Hilfsbahnwärters im Schrankenwärterdienst mit anderen Facharbeitertätigkeiten
Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn die Beteiligten nicht auf die vorhandene Gerichtskunde von den Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an das Leistungsvermögen hingewiesen werden.
Orientierungssatz
1. Für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit kommt es auf die Qualität des bisherigen Berufs an.
2. Unabhängig von der Dauer der Ausbildung ist ein wertvolles Indiz für die Qualität einer Berufstätigkeit deren Einstufung in das Tarifgefüge. Aus der tariflichen Eingruppierung kann allerdings dann nicht auf die Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe des Mehrstufenschemas geschlossen werden, wenn die Eingruppierung auf qualitätsfremden Merkmalen beruht, zB körperliche Schwere, Gefährlichkeit, besondere Beeinträchtigung durch Lärm und Schmutz, Nachtarbeit usw.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; SGG § 128 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 19.12.1980; Aktenzeichen L 6 J 294/79) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 12.10.1979; Aktenzeichen S 1 J 307/79) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO hat.
Der Kläger war nach einer Tätigkeit als Bahnunterhaltungsarbeiter und Hilfsbahnwärter von September 1960 bis zu seiner Übernahme in das Beamtenverhältnis am 1. April 1962 als Hilfsbahnwärter im Schrankendienst nach der Lohngruppe III des Tarifvertrags für Arbeiter der Deutschen Bundesbahn versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Ablauf des Monats Februar 1980 trat er als Beamter wegen Dienstunfähigkeit in den vorzeitigen Ruhestand. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag vom 29. Mai 1978 mit Bescheid vom 20. Juli 1978 ab, weil der Kläger weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig sei.
Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seines Urteils vom 19. Dezember 1980 im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Zwar sei ihm der Berufsschutz eines qualifizierten Facharbeiters zuzubilligen, weil seine letzte versicherungspflichtige Tätigkeit im Schrankenwärterdienst wegen der besonderen Anforderungen an Aufmerksamkeit und Zuverlässigkeit der entsprechenden Lohngruppe des Tarifvertrages angehört habe. Der Kläger sei aber noch in der Lage, einige Tätigkeiten zu verrichten, die auch einem Facharbeiter zumutbar seien. Dazu gehörten insbesondere einige Tätigkeiten der Lohngruppe IV als Bediener von Vollentsalzungsanlagen für Akku-Nachfüllwasser oder von Wasserbereitungsanlagen ohne Voll- oder Teilentsalzung an Hochdruckkesselanlagen sowie nach der Lohngruppe V die Facharbeitertätigkeit eines Ausgebers im Lagerdienst mit gründlichen Fachkenntnissen, zu der auch die Tätigkeit eines Ausgebers in Kleiderlagern der Deutschen Bundesbahn gehöre, sowie die Tätigkeit eines Druckereiarbeiters als Einleger an Druckmaschinen, als Papierstapler an Offsetmaschinen, als Bediener von automatischen Falz-, Schneide- oder Zusammentragmaschinen oder als Bediener von Vervielfältigungs-, Falt- oder Schneideautomaten in der Zentralplanei.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat durch Beschluß zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, das Berufungsurteil beruhe auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Feststellungen des LSG über die Anforderungen der genannten Verweisungstätigkeiten an die körperliche Leistungsfähigkeit und die erforderliche Einarbeitungszeit beruhten offenbar auf dem Erfahrungswissen des Gerichts. Das LSG habe den Beteiligten aber keine Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen. Hätte das Berufungsgericht dieser Pflicht genügt, so hätte er vorgetragen und unter Beweis gestellt, daß sein Leistungsvermögen zur Ausübung dieser Tätigkeiten nicht mehr ausreiche. Im übrigen hätte er auch darauf aufmerksam gemacht, daß es einen Teil der Verweisungstätigkeiten nicht mehr gebe.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz sowie den Bescheid vom 2O. Juli 1978 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 1979 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Juni 1978 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, zumindest wegen Berufsunfähigkeit, zu leisten; hilfweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, Berufsunfähigkeit des Klägers könne schon deshalb nicht angenommen werden, weil der Kläger nicht zur Gruppe der Tätigkeiten mit dem Leitberuf eines Facharbeiters gehöre. Zwar gehöre die Tätigkeit des Schrankenwärters zur Lohngruppe III, in die auch reguläre Facharbeiter eingestuft seien. Die Qualität der Tätigkeit eines Schrankenwärters entspreche aber allenfalls der eines sonstigen Anlernberufes. Die Verrichtung der Tätigkeit eines Schrankenwärters setze weder eine Lehre noch eine Anlernzeit voraus, sondern könne von jedem betriebstauglichen Versicherten schon nach einer nur zweiwöchigen Einweisung verrichtet werden. Der Kläger könne daher auch auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts verwiesen werden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Tatsachenfeststellungen des Berufungsurteils - soweit sie verfahrensfehlerfrei zustandegekommen sind - reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Bisheriger Beruf des Klägers iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ist die zuletzt versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit eines Hilfsbahnwärters im Schrankenwärterdienst nach der Lohngruppe III des Tarifvertrages für Arbeiter der Deutschen Bundesbahn. Diese Tätigkeit hat das LSG bei Zugrundelegung seiner Tatsachenfeststellungen ohne Rechtsirrtum der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), insbesondere des erkennenden Senats kommt es für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit auf die Qualität des bisherigen Berufs an. Normalerweise setzen qualitativ hochwertige Tätigkeiten eine längere Ausbildung voraus. Die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannte Dauer der Ausbildung hat jedoch keine eigenständige Bedeutung, sondern kennzeichnet lediglich den Weg, wie die Kenntnisse und Fähigkeiten für einen bestimmten Beruf normalerweise erlangt werden. Es gibt aber durchaus qualitativ hochwertige Tätigkeiten, für die eine bestimmte Ausbildungsdauer weder vorgeschrieben noch üblich ist. Das gilt insbesondere für solche Tätigkeiten, die wegen ihrer besonderen Eigenart (zB besondere Anforderungen an die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit, charakterliche Reife oder Gefährlichkeit) nicht schon nach Abschluß der Hauptschule erlernt, sondern erst in fortgeschrittenem Alter begonnen werden können. Da der Arbeitnehmer bei Beginn einer solchen Berufstätigkeit meist schon Erfahrungen in anderen Berufen und sonstige nützliche Qualitäten mitbringt, genügt in solchen Fällen oft schon eine kürzere Ausbildung oder Anlernung als in den typischen Ausbildungsberufen, denen sie qualitativ gleichwertig sein kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und insbesondere des erkennenden Senats ist - unabhängig von der Dauer der Ausbildung - ein wertvolles Indiz für die Qualität einer Berufstätigkeit deren Einstufung in das Tarifgefüge. Aus der tariflichen Eingruppierung kann allerdings dann nicht auf die Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe des Mehrstufenschemas geschlossen werden, wenn die Eingruppierung auf qualitätsfremden Merkmalen beruht, zB körperliche Schwere, Gefährlichkeit, besondere Beeinträchtigung durch Lärm und Schmutz, Nachtarbeit usw. Die Beklagte hat auch in der Revisionsinstanz nicht vorgetragen, daß die tarifliche Gleichstellung des Hilfsbahnwärters im Schrankenwärterdienst mit anderen Facharbeitertätigkeiten auf solchen qualitätsfremden Merkmalen beruht. Die von der Beklagten behauptete relativ kurze Dauer der Einweisung ist allein kein Grund, die durch die tarifliche Einstufung nahegelegte qualitative Gleichstellung mit dem Bahnfacharbeiter in Frage zu stellen und Beweis darüber zu erheben, welche anderen qualitätsfremde Merkmale die tarifliche Einstufung bewirkt haben könnten.
Das angefochtene Urteil leidet aber an einem anderen Rechtsfehler, nämlich an einem vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmangel. Die Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts, der Kläger könne die im Berufungsurteil näher bezeichneten Verweisungstätigkeiten verrichten, hätte das Berufungsgericht ohne Beweisaufnahme aufgrund eigener Gerichtskunde nur treffen dürfen, wenn es den Beteiligten vorher Gelegenheit gegeben hätte, dazu Stellung zu nehmen (vgl hierzu den die Revision zulassenden Beschluß des erkennenden Senats vom 15. Oktober 1981 - 5b BJ 58/81 -). Das LSG konnte die Fähigkeit des Klägers zur Verrichtung der Verweisungstätigkeiten nur dann feststellen, wenn es vorher die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit festgestellt und mit der vorhandenen Leistungsfähigkeit des Klägers verglichen hatte. Das folgt zwar nicht aus dem Gebot der konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 72, 75,86), dem mit der Benennung einer im Berufsleben vorkommenden, insbesondere mit der Bezeichnung einer im Tarifvertrag genannten Berufstätigkeit genügt ist. Vielmehr ist es eine denkgesetzliche Notwendigkeit, die vorhandene mit der für die Verweisungstätigkeit erforderlichen Leistungsfähigkeit zu vergleichen. Weder die vorhandene noch die für die Verweisungstätigkeit erforderliche Leistungsfähigkeit sind die Tatsachen, die unmittelbar unter § 1246 Abs 2 RVO zu subsumieren sind. Sie dienen vielmehr als Hilfstatsachen der Feststellung der für die Subsumtion erforderlichen Tatsache, ob der Versicherte noch in der Lage ist, die Verweisungstätigkeit zu verrichten. Diese Hilfstatsachen sind also notwendige Stationen auf dem Wege zur Feststellung der zu subsumierenden Tatsache. Das LSG hat über die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit keinen Beweis erhoben; seine Kenntnis davon konnte also nur auf der Gerichtskunde beruhen. Nach § 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) darf das Urteil aber nur auf solche Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Da die Gerichtskunde an die Stelle einer ohne sie erforderlichen Beweisaufnahme tritt, folgt aus § 128 Abs 2 SGG, daß die Tatsache und ihre Gerichtskundigkeit zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden müssen, damit die Beteiligten Gelegenheit haben, sich dazu zu äußern (vgl BSG SozR Nr 91 zu § 128 SGG und BSG SozR 1500 § 62 Nr 4 und § 128 Nr 15). Ist das nicht geschehen, so ist nicht nur § 128 Abs 2 SGG verletzt, sondern gleichzeitig auch der in Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes garantierte und in § 62 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör. Das LSG hat es unterlassen, die Beteiligten auf die Gerichtskunde von den Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit hinzuweisen, so daß sie keine Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen. Auch wenn die Behauptung der Beklagten zutreffen sollte, daß die im Urteil genannten Berufstätigkeiten in der mündlichen Verhandlung als in Betracht kommende zumutbare Verweisungstätigkeiten erwähnt worden sind, so ergibt sich daraus doch noch kein Hinweis auf die vorhandene Gerichtskunde über die Anforderungen dieser Tätigkeiten an die Leistungsfähigkeit. Der Kläger hatte also keine Gelegenheit, durch seinen Vortrag oder Beweismittel das Berufungsgericht davon zu überzeugen, daß die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit anders sind, als das LSG dies aufgrund der Gerichtskunde angenommen hat. Darauf kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn es ist durchaus möglich, daß der Kläger das LSG durch seine Stellungnahme zu einer Beweiserhebung und einer anderen Entscheidung veranlaßt hätte.
Der erkennende Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur verfahrensfehlerfreien Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG Gelegenheit haben, sich mit dem Vortrag des Klägers auseinanderzusetzen, die Verweisungstätigkeiten gebe es trotz ihrer Aufzählung im Tarifvertrag entweder nicht mehr oder nur in zu geringer Zahl.
Das LSG wird auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren nach § 193 SGG zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1652955 |
Breith. 1983, 749 |