Leitsatz (amtlich)

Hat eine individuelle und konkrete Verfolgungsmaßnahme (hier: Nichtzulassung zur Gesellenprüfung) stattgefunden, so ist stets zu prüfen, ob eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung bestanden hat, für die Beiträge wegen dieser Verfolgungsmaßnahme nicht entrichtet worden sind.

 

Normenkette

WGSVG § 14 Abs 2 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 26.10.1978; Aktenzeichen L 4 J 70/78)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 10.02.1978; Aktenzeichen S 10 J 173/75)

 

Tatbestand

Streitig sind zwischen den Beteiligten Beitrags- und Ersatzzeiten.

Der im Jahre 1920 geborene Kläger ist jüdischer Abstammung. Am 1. September 1934 begann er eine Lehre bei einem Schreinermeister in Köln (K.). Dort war er bis zum 31. August 1938 tätig. Während dieser Zeit besuchte er bis zum 31. März 1938 die Berufsschule für Handwerkslehrlinge. Nach dem Ende der Tätigkeit in K. begab der Kläger sich nach Dänemark und von dort floh er 1943 nach Schweden. Die zuständige Entschädigungsbehörde erkannte ihn aus rassischen Gründen als Verfolgten iS des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) an und gewährte ihm eine Entschädigung für den erlittenen Ausbildungsschaden. Nach Beendigung seiner Lehre sei der Kläger aus verfolgungsbedingten Gründen nicht zur Gesellenprüfung zugelassen worden. Durch Verwaltungsakte vom 11. August 1970 und 7. Dezember 1973 lehnte die Beklagte Anträge des Klägers auf Ersatz der in Verlust geratenen Versicherungskarten für die Zeit vom 1. September 1934 bis zum 31. August 1938 ab. Mit Bescheid vom 8. April 1975 lehnte sie es ferner ab, Beitragszeiten nach § 14 Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) anzuerkennen.

Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 10. Februar und 26. Oktober 1978). Für die Zeit vom 1. September 1934 bis zum 31. August 1938 seien Beiträge nicht entrichtet worden und könnten auch nicht als entrichtet gelten, weil eine Beitragszahlung nicht aus Verfolgungsgründen unterblieben sei.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 14 WGSVG. Er trägt vor, offensichtlich sei infolge der Verfolgungssituation die Lehrzeit bei ihm verlängert worden. Mindestens nach Abschluß der normalen Lehrzeit hätte die Beitragspflicht eingesetzt. An die fiktive Beitragszeit schließe sich dann die Ersatzzeit an.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Beklagte zu verurteilen, eine Beitragszeit vom 1. September 1934 bis zum 31. August 1938, hilfsweise ab März 1936 anzurechnen und die Verfolgungsjahre vom 1. September 1938 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und sieht das Lehrverhältnis des Klägers als der Norm entsprechend an.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Eine Beitragsleistung zur deutschen Rentenversicherung ist nach dem Inhalt des angefochtenen Urteils für den Kläger weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Ob eine Beitragsleistung nach § 14 WGSVG fingiert wird, läßt sich nach den festgestellten Tatsachen nicht beurteilen. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger vom 1. September 1934 bis zum 31. August 1938 bei einem Schreinermeister in K. beschäftigt war und dort bis zum 31. März 1938 die Berufsschule für Handwerkslehrlinge besucht hat. Die Frage, ob es sich damals um eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung gehandelt hat, ist vom LSG offen gelassen worden, weil jedenfalls die Beitragszahlung nicht aus Verfolgungsgründen unterblieben sei. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (BSG SozR 5070 § 14 Nr 1) ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß aus Verfolgungsgründen nur dann keine Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit entrichtet worden sind, wenn die Beitragsleistung wegen individueller und konkreter Verfolgungsmaßnahmen gegen den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer unterblieben sind.

Das LSG hat zwar angenommen, irgendwelche Verfolgungsmaßnahmen, die sich gegen den Kläger oder den ihn beschäftigenden Tischlermeister gerichtet oder beiden auch nur gedroht hätten, seien nicht zu erkennen. Andererseits hat das LSG aber festgestellt, daß der Kläger aus verfolgungsbedingten Gründen nicht zur Gesellenprüfung zugelassen worden ist. Deshalb ist bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 14 Abs 2 WGSVG erfüllt sind, zwischen zwei Zeiträumen zu unterscheiden. Zunächst handelt es sich um die Zeit der Lehre bis zur Nichtzulassung zur Gesellenprüfung, sodann möglicherweise um eine Zeit danach. Mögen auch für die eigentliche Lehrzeit keine individuellen und konkreten Verfolgungsmaßnahmen iS der oben angeführten Rechtsprechung des BSG glaubhaft gemacht worden sein, so gilt das nicht unbedingt für die Zeit nach der verfolgungsbedingten Nichtzulassung zur Prüfung. Insoweit lag auch nach den Feststellungen des LSG eine gegen den Kläger gerichtete konkrete Verfolgungsmaßnahme vor. Ist aber eine individuelle und konkrete Verfolgungsmaßnahme wie die Nichtzulassung zur Prüfung glaubhaft gemacht, so ist stets zu prüfen, ob eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung bestanden hat, für die Beiträge nicht entrichtet worden sind und ob die Beitragsleistung wegen dieser Verfolgungsmaßnahme unterblieben ist. Die Entscheidung über die Anrechnung von Beiträgen nach § 14 Abs 2 WGSVG erfordert also Feststellungen darüber, wann der Kläger nicht zur Gesellenprüfung zugelassen worden ist. Sollte das vor dem 31.August 1938 geschehen sein und das Beschäftigungsverhältnis des Klägers bei dem Tischlermeister nach Beginn der Verfolgung noch fortgedauert haben, so ist die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Verfolgung und unterbliebener Beitragsleistung zu entscheiden. Die Möglichkeit ist dann nicht auszuschließen, daß sich das Lehrverhältnis des Klägers nach der verfolgungsbedingten Nichtzulassung zur Gesellenprüfung in ein anderes, versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gewandelt hat. Auch wenn die Gründe für die fehlende Beitragszahlung während der echten Lehrzeit möglicherweise in einer tatsächlich bestandenen oder in einer angenommenen Versicherungsfreiheit zu suchen sind, so kann sich das nach dem Einsetzen der Verfolgungsmaßnahmen geändert haben.

Ist die als Lehre deklarierte Zeit im Vergleich zur normalen Lehrzeit in diesem Handwerk übermäßig lang und fällt in diese Zeit die verfolgungsbedingte Nichtzulassung zur Gesellenprüfung, dann könnte die danach liegende Zeit nicht mehr als Lehre im engeren Sinne zu beurteilen sein, insbesondere, wenn mit Rücksicht auf die Nichtzulassung zur Prüfung eine weitere Ausbildung zwecklos geworden sein sollte. Für die Beurteilung der Beitragspflicht zur Rentenversicherung kann sich dann ergeben, daß nicht mehr von einem Ausbildungs-, sondern von einem auf produktive Arbeit gerichteten Beschäftigungsverhältnis auszugehen ist. Das Unterlassen der Beitragsleistung kann dann auf andere Gründe als während der Lehrzeit und insbesondere auf verfolgungsbedingte Gründe zurückzuführen sein. Aus der angefochtenen Entscheidung des LSG ergibt sich nicht, wann die Verfolgungsmaßnahme eingesetzt hat, ob das vor dem Ende des hier maßgebenden Beschäftigungsverhältnisses geschehen ist und ob sie sich deshalb noch auf die unterbliebene Beitragsleistung ausgewirkt hat. Die insoweit erforderlichen Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660566

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