Entscheidungsstichwort (Thema)

Liegenbleiben eines Blindgängers auf einem Fabrikgelände

 

Leitsatz (redaktionell)

Der kriegseigentümliche Gefahrenbereich wurde durch die örtliche Verlagerung des Geschosses nicht aufgehoben. Der Gefahrenbereich wurde auch nicht durch das Zerlegen des Geschosses beseitigt und ein neuer Gefahrenbereich geschaffen. Jedoch ist das eigene Verhalten des damals 15 1/2jährigen Klägers die wesentliche Bedingung für den Eintritt des schädigenden Ereignisses gewesen.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 1964 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der 1927 geborene Kläger begehrt Versorgung wegen Verlustes des linken Auges infolge einer Explosion, die sich ereignete, als er im Jahre 1943 - damals noch Werkzeugmacherlehrling in der Firma S in B - mit Teilen eines von einem Luftangriff stammenden Geschosses hantierte. Am Tage nach einem Luftangriff nahm der inzwischen verstorbene Lehrgeselle B einen im Fabrikgebäude gefundenen Blindgänger, der als ein Bordgeschoß erkannt wurde, an seinem Arbeitsplatz in Gegenwart des ihm zur Ausbildung zugewiesenen Klägers auseinander. Als dieser später mit Teilen des Geschosses hantierte, erfolgte eine Explosion, die zu einer Augenverletzung und zur Entfernung des linken Auges führte. Der im Jahre 1953 aus dem sowjetisch besetzten Sektor Berlins geflüchtete Kläger beantragte im Jahre 1958 Versorgung, wobei er den Unfall auf Leichtsinn und Unerfahrenheit des Lehrgesellen B zurückführte. Nach Einholung schriftlicher Auskünfte des früheren Inhabers der Firma S und früherer Angehöriger dieses Betriebs (B, F und J), ferner nach Beiziehung des Krankenblatts der Augenklinik der H-Universität und nach Einholung eines Gutachtens des Augenarztes Dr. W lehnte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 29. Juni 1959 den Anspruch des Klägers ab, weil die Anmeldefrist nach § 56 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) aF versäumt und der Unfall nicht durch eine kriegseigentümliche Gefahr, sondern durch die eigene Fahrlässigkeit des Klägers verursacht worden sei, der als Werkzeugmacherlehrling von damals 15 3/4 Jahren die Fahrlässigkeit seines Handelns habe erkennen können. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Im Berufungsverfahren holte das Landessozialgericht (LSG) schriftliche Auskünfte des früheren Betriebsinhabers und früherer Werksangehöriger über den Hergang des Unfalls und den damaligen Entwicklungsstand des Klägers ein. Es zog ferner die Akten der Berufsgenossenschaft und die Prozeßakten S 9 U 151/63 des Sozialgerichts (SG) Dortmund bei. In seinem Urteil vom 16. Dezember 1964 hat das LSG die Zulässigkeit der Berufung bejaht, weil der Kläger einen Ausnahmefall des § 57 BVG aF geltend gemacht und der Beklagte auch sachlich über den Versorgungsanspruch entschieden habe. Es hat den Versorgungsanspruch aber nicht als begründet angesehen. Zwar habe der aus dem Luftangriff stammende Blindgänger auch nach der Verlagerung in die Werkstatt noch einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich gebildet. B habe aber dadurch, daß er diesen zerlegt und die einzelnen Teile anderen Betriebsangehörigen, darunter dem Kläger, zugänglich gemacht habe, eine neue Gefahrenquelle geschaffen. Einerseits könne nach allgemeiner Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, daß der Kläger im Alter von damals 15 3/4 Jahren, der die Volksschule glatt durchlaufen hatte und nach den Angaben der Zeugen J und F ein durchschnittlicher Werkzeugmacherlehrling im zweiten Lehrjahr war, mit dem als Bordgeschoß erkannten Blindgänger vorsichtig umgegangen wäre, andererseits habe er aber auch glaubhaft erklärt, daß er die einzelnen Teile des Geschosses nicht mehr für gefährlich gehalten habe. Erfahrungsgemäß bildeten bekannte Munitions- und Sprengkörper eine geringere Gefahr als unbekannte. Die Zerlegung des Blindgängers durch B habe zu einer Beseitigung des kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs geführt und überwiege gegenüber der Herkunft des Geschosses aus einem Luftangriff derart, daß sie als die für den Eintritt der Schädigung wesentliche Bedingung gelten müsse. Unter diesen Umständen könne dahingestellt bleiben, inwieweit das Verhalten des Klägers als Ursache oder gleichwertige Mitursache zu betrachten sei. Die Revision ist zugelassen worden.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 16. Februar 1965, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 17. Februar 1965, Revision eingelegt.

Er beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Detmold vom 22. April 1963 sowie die Bescheide des Beklagten vom 29. Juni und 13. August 1959 aufzuheben, ferner festzustellen, daß der Verlust des linken Auges des Klägers Schädigungsfolge i. S. des BVG ist, und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. vom 1. Februar 1958 an zu gewähren,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung vom 30. April 1965, die innerhalb der bis zum 10. Mai 1965 verlängerten Begründungsfrist am 3. Mai 1965 beim BSG eingegangen ist und auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger eine unrichtige Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG. Er ist der Auffassung, der kriegseigentümliche Gefahrenbereich habe auch nach der Zerlegung des Geschosses durch einen Dritten in jedem Falle so lange bestanden, als die von dem Zünder ausgehende Gefahr nicht beseitigt gewesen sei.

Die schon im Verfahren vor dem SG beigeladene Berufsgenossenschaft der Maschinenbau- und Kleineisenindustrie hat mit Schriftsatz vom 4. Juni 1965, auf den gleichfalls Bezug genommen wird, erklärt, sie stelle keinen Antrag.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Nach seinen Ausführungen im Schriftsatz vom 13. Mai 1965, auf den Bezug genommen wird, ist der Entscheidung des LSG zuzustimmen.

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Die sonach zulässige Revision ist aber nicht begründet.

Nach § 1 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Buchst. a BVG erhält Versorgung, wer durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Als unmittelbare Kriegseinwirkung gelten gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Ein derartiger Gefahrenbereich lag aber bei der Explosion vor, der zu dem Verlust des Auges des Klägers geführt hat. Nach den Feststellungen des LSG hat ein kriegerischer Vorgang, nämlich ein Luftangriff, zu dem Liegenbleiben des Blindgängers auf dem Fabrikgelände geführt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Luftangriff als kriegerischer Vorgang insoweit auch einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hat, als das nicht explodierte Geschoß die Gefahr in sich barg, noch nachträglich zu explodieren (vgl. BSG 1, 72/75 und BSG 4, 230/232). Dieser Gefahrenbereich wurde nicht dadurch beseitigt, daß der Lehrgeselle B das Geschoß in den Arbeitsraum des Klägers brachte. Die örtliche Verlagerung des Geschosses hob den von ihm ausgehenden Gefahrenbereich nicht auf; denn es war damit weder die Möglichkeit der Explosion ausgeschlossen noch war dadurch der Zugang zu dem Geschoß verwehrt und damit der davon ausgehende Gefahrenbereich selbst beseitigt (vgl. BSG 6, 102/103 und 188/190; ferner BSG in SozR BVG § 5 Nr. 29). Der Gefahrenbereich wurde auch nicht, wie das LSG angenommen hat, durch das Zerlegen des Geschosses beseitigt und ein neuer Gefahrenbereich geschaffen. Durch das Zerlegen des Geschosses wurde nämlich nicht die Möglichkeit der Explosion eines Teiles des Geschosses beseitigt, wie gerade daraus hervorgeht, daß tatsächlich eine Explosion erfolgte. Es wurde auch mit der Zerlegung keine neue Gefahrenquelle geschaffen, weil nämlich nicht erst durch eine Veränderung oder Umgestaltung der Geschoßteile die Möglichkeit der Explosion entstand; vielmehr wohnte die Gefahrenquelle (Möglichkeit der Explosion) dem Geschoßteil, der später explodierte, von Anfang an inne. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von demjenigen, welcher der o. a. Entscheidung des BSG (BSG 6, 102 ff) zugrunde liegt.

Sonach war der in den explosiven Einzelteilen des Geschosses weiter bestehende kriegseigentümliche Gefahrenbereich Bedingung (conditio sine qua non) für den Eintritt des schädigenden Ereignisses, nämlich der Explosion, die zur gesundheitlichen Schädigung des Klägers geführt hat. Denn ohne diese Bedingung (kriegseigentümlicher Gefahrenbereich) ist der Eintritt des schädigenden Ereignisses nicht denkbar. Jedoch ist diese Bedingung nicht die wesentliche für den Eintritt des schädigenden Ereignisses gewesen.

Nach den Ausführungen des LSG ist vielmehr das eigene Verhalten des Klägers die wesentliche Bedingung für den Eintritt des schädigenden Ereignisses gewesen. Zwar hat das LSG das Verhalten des Klägers in seiner Bedeutung für die Entstehung der Explosion nicht ausdrücklich beurteilt, weil es schon das Vorhandensein eines kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs überhaupt verneint hat, sein Urteil enthält jedoch genügend Feststellungen, um die rechtliche Ursächlichkeit des Verhaltens des Klägers für den Eintritt des schädigenden Ereignisses beurteilen zu können. Vom LSG ist u. a. festgestellt worden, daß der Kläger zur Zeit des Unfalls 15 1/2 Jahre alt war, die Volksschule ohne Schwierigkeit bestanden hatte, sich damals im zweiten Lehrjahre befand und als durchschnittlicher Werkzeugmacherlehrling galt. Es ist ferner festgestellt worden, daß er bei der Zerlegung des Blindgänger durch B anwesend war und daß ihm auf Grund der dabei in der Werkstatt geführten Gespräche bekannt war, um welchen Sprengkörper es sich handelte. Der Kläger hat sonach mit explosiven Teilen eines noch nicht ganz unschädlich gemachten Sprengkörpers hantiert, obwohl er entsprechend seinem damaligen Lebensalter, dem Stand seiner persönlichen und beruflichen Entwicklung, der danach von ihm zu erwartenden Einsichtsfähigkeit und den Vorgängen unmittelbar vor der Hantierung mit Teilen des Sprengkörpers in der Lage gewesen ist, die Gefährlichkeit seines Tuns zu erkennen. Dabei ist es unerheblich, von welchen Vorstellungen er bei der Einschätzung der noch vorhandenen Gefahr ausgegangen ist, und ob bekannte Sprengkörper eine geringere Gefahr bilden als unbekannte. Die Kenntnis von der Art des Sprengkörpers und die ihm erkennbare Gefährlichkeit hätten den Kläger unter den im Urteil des LSG dargelegten Umständen davon abhalten müssen, mit Teilen des Sprengkörpers zu hantieren. Sonach traf sein eigenes Verhalten gegenüber dem noch vorhandenen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich als Bedingung für den Eintritt des schädigenden Ereignisses (Explosion) derart in den Vordergrund, daß nur noch dieses als die dafür wesentliche Bedingung und somit als ursächlich im Rechtssinne anzusehen ist. Dem Kläger steht mithin kein Versorgungsanspruch für die durch die Explosion entstandene gesundheitliche Schädigung zu. Das LSG hat somit die Berufung im Ergebnis zutreffend zurückgewiesen. Die Revision des Klägers ist daher nicht begründet und war zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2291013

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