Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 09.12.1993) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Dezember 1993 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit in der Zeit vom 5. Juli bis 27. November 1990.
Die im September 1955 geborene Klägerin war polnische Staatsangehörige. Von 1977 bis 1982 war sie als Buchhändlerin und von 1982 bis zu ihrer Ausreise im Dezember 1988 in Polen als Grundschullehrerin beschäftigt. Ende 1988 reiste die Klägerin mit einem Touristenvisum in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie betrachtete sich als deutsche Volkszugehörige und beantragte im Januar 1989 die Ausstellung eines Vertriebenenausweises. Der Landkreis Emsland – Ausländeramt – duldete im Mai 1990 den Aufenthalt der Klägerin mit der Auflage „Arbeitsaufnahme nicht gestattet” bis zur Entscheidung über die Erteilung eines Vertriebenenausweises. Den Antrag auf Verlängerung der Duldung lehnte das Ausländeramt mit Bescheid vom 18. Juni 1990 ab, forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheids zu verlassen und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung an. Das gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung gerichtete Verwaltungsgerichtsverfahren erledigte sich, weil der Klägerin mit Bescheid vom 28. November 1990 der Vertriebenenausweis zuerkannt wurde.
Die Klägerin hatte sich am 16. Januar 1989 beim Arbeitsamt (ArbA) Leer arbeitslos gemeldet und die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) beantragt. Die Bearbeitung dieses Antrags wurde bis zur Entscheidung über den Vertriebenenausweis zurückgestellt. Vom 20. November 1989 bis 4. Juli 1990 nahm die Klägerin auf Kosten des Landkreises Emsland an einem Deutschsprachkurs teil. Nach dessen Beendigung meldete sie sich zunächst nicht arbeitslos. Eine persönliche Vorsprache erfolgte erst am 28. November 1990 mit dem Ziel der Leistungsbewilligung.
Die beklagte Bundesanstalt (BA) bewilligte der Klägerin nunmehr rückwirkend Alg vom 16. Januar bis 19. November 1989 und für die Dauer der Teilnahme am Deutschsprachkurs vom 20. November 1989 bis 4. Juli 1990 Unterhaltsgeld. Außerdem erkannte sie aus der ursprünglichen Anspruchsdauer von 312 Tagen mit Alg-Bewilligungs-Verfügung vom 12. März 1991 für die Zeit ab 28. November 1990 – dem Tag der erneuten Arbeitslosmeldung nach dem Sprachkurs – für 48 Tage Alg zu. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und machte Leistungen auch für die Zeit vom 4. Juli bis 27. November 1990 geltend. Den Rechtsbehelf wies die BA mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 1991 zurück, weil die Klägerin sich nach Abschluß des Deutschsprachkurses nicht persönlich arbeitslos gemeldet habe. Die fehlende Meldung könne nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ersetzt werden. Die Notwendigkeit einer unverzüglichen persönlichen Arbeitslosmeldung hätte die Klägerin dem ihr bei der erstmaligen Antragstellung am 16. Januar 1989 ausgehändigten Merkblatt für Arbeitslose entnehmen können. Mit Bewilligungs-Verfügung vom 20. März 1991 gewährte die BA der Klägerin Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 23. Januar 1991.
Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe den Deutschsprachkurs wegen ihres damals ungeklärten Bleiberechts aufgegeben. Sie habe die BA darüber informiert, die um weitere Unterlagen gebeten habe. Sie müsse deshalb so gestellt werden, als habe sie sich bereits am 5. Juli 1990 arbeitslos gemeldet.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. April 1993).
Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 9. Dezember 1993 zurückgewiesen. Das LSG hat ausgeführt, die Klägerin habe der Arbeitsvermittlung in der Zeit vom 5. Juli bis 27. November 1990 nicht zur Verfügung gestanden, weil die Ausreiseverpflichtung der Klägerin bis zum 28. November 1990 bestanden habe. Die Erteilung des Vertriebenenausweises enthalte zwar einen feststellenden Verwaltungsakt, durch den der kraft Gesetzes eintretende Vertriebenenstatus verbindlich bestätigt werde. Für die leistungsrechtliche Betrachtung nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sei dies aber ohne Folgen, denn die Verfügbarkeit nach § 103 AFG könne nicht im Nachhinein hergestellt werden. Verfügbar sei ein Arbeitssuchender nur, wenn er der Arbeitsvermittlung aktuell zur Verfügung stehe. Dies treffe für die Klägerin im genannten Zeitraum nicht zu. Auch im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei diese Leistungsvoraussetzung nicht zu begründen. Im übrigen hätten die Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen, insbesondere habe die Klägerin durch die Gleichstellungsvorschrift des § 107 Abs 1 Satz 1 Nr 4 (richtig:3) AFG in der bis zum 31. Dezember 1989 geltenden Fassung die Anwartschaftszeit erfüllt. Diese Gesetzesfassung sei nach § 242j Abs 2 AFG weiterhin auf Personen anwendbar, die vor dem 1. Januar 1990 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist seien.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung des § 100 Abs 1 AFG. Das LSG habe die Verfügbarkeit unrichtig beurteilt.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
- das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Dezember 1993 und das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 16. April 1993 aufzuheben sowie den Bescheid des Arbeitsamts Leer vom 12. März 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juni 1991 zu ändern,
- die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin auch für die Zeit vom 5. Juli bis 27. November 1990 Leistungen wegen Arbeitslosigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Klägerin im geltend gemachten Leistungszeitraum nicht für verfügbar.
Die BA hat der Klägerin mit Schriftsatz vom 3. März 1994 folgenden „Vergleichsvorschlag” unterbreitet:
- Die Beklagte verpflichtet sich, der Klägerin für die Zeit vom 5. Juli 1990 bis 22. Januar 1991 Leistungen in Höhe eines Differenzbetrages zu zahlen, der sich ergibt, wenn man für die Zeit vom 5. Juli 1990 bis 29. August 1990 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld und für die Zeit vom 30. August 1990 bis 22. Januar 1991 einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe zugrunde legt und darauf das in der Zeit vom 28. November 1990 bis 22. Januar 1991 tatsächlich gezahlte Arbeitslosengeld anrechnet.
- Die Beklagte ist bereit, die der Klägerin entstandenen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte dem Grunde nach zu übernehmen.
- Die Beteiligten erklären den Rechtsstreit für erledigt.
Die Klägerin hat sich zu dem Angebot – auch nach richterlichem Hinweis – nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.
1. Die Voraussetzungen für ein Sachurteil des Senats sind trotz des Angebots der BA gegeben.
1.1 Die vom LSG zugelassene Revision ist von dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin fristgemäß eingelegt und begründet worden. Die Revisionsbegründung enthält auch einen bestimmten Antrag (§ 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Allerdings läßt sich das Verfahrensziel nach dem Wortlaut des in der Revisionsbegründung angekündigten Antrags allein kaum bestimmen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist zur Bestimmung des Prozeßziels jedoch der Rückgriff auf das angefochtene Urteil zulässig. Aus dem Aufhebungsantrag läßt sich in Verbindung mit dem im Berufungsrechtszug gestellten Sachantrag das Prozeßziel noch ermitteln (BSGE 1, 98, 99; BSG SozR 1500 § 164 Nr 6). Es ist danach davon auszugehen, daß die Klägerin einen Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit für die Zeit vom 5. Juli bis 27. November 1990 verfolgt. Auch läßt die Revisionsbegründung noch erkennen, daß die Klägerin das Urteil des LSG für rechtswidrig hält, weil es eine rückwirkende Begründung der Verfügbarkeit durch die Erteilung des Vertriebenenausweises ausschließt.
1.2 Die Berufung der Klägerin ist statthaft, denn der geltend gemachte Anspruch übersteigt die „Beschwerdesumme” des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG idF des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I, 50).
1.3 Durch das Angebot der BA vom 3. März 1994 ist das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage nicht entfallen. Die BA hat ihren Bescheid nicht aufgehoben oder geändert, so daß die Klägerin weiterhin durch diesen Verwaltungsakt beschwert ist. Solange die Beschwer besteht, ist auch ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin zu bejahen (BVerwGE 62, 18, 19). Nach der Rechtsprechung des BSG besteht bei einer solchen Verfahrenslage ein Rechtsschutzbedürfnis, weil die Klägerin nicht über einen Vollstreckungstitel verfügt, mit dem sie das Angebot der BA vom 3. März 1994 durchsetzen könnte (BSG SozR 1750 § 307 Nr 2 mwN).
2. Das Angebot der BA enthielt, gemessen an dem im Sachantrag geltend gemachten prozessualen Anspruch, ein Vergleichsangebot, kein Anerkenntnis. Mit Annahme des Angebots hätte die Klägerin einer Verrechnung des bereits gewährten Alg zugestimmt und insoweit gegenüber der BA nachgegeben. Da die Klägerin sich zu dem Angebot nicht geäußert hat, hat sie es nicht angenommen. Das Verfahren ist damit nicht erledigt (§ 101 Abs 1 SGG). Die Begünstigung erstreckt sich auch nicht auf einen vom beschwerenden Angebot abgrenzbaren Teil des Anspruchs, so daß schon aus diesem Grund der Erlaß eines Teilanerkenntnisurteils ausscheidet (§§ 202 SGG, 301, 307 Zivilprozeßordnung). Über die Grenzen der Zulässigkeit von Anerkenntnisurteilen im sozialgerichtlichen Verfahren im übrigen ist danach nicht zu befinden.
3. Die Revision der Klägerin ist nicht begründet, denn das Urteil des LSG beruht nicht auf einer Gesetzesverletzung (§ 170 Abs 1 SGG). Der Klägerin stehen Leistungen wegen Arbeitslosigkeit nicht zu, weil sie bis zur Erteilung des Vertriebenenausweises wegen der ausländerrechtlichen Ausreiseverpflichtung eine Beschäftigung nicht ausüben durfte.
3.1 Die Klägerin stand in dem geltend gemachten Leistungszeitraum der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung, weil der Landkreis Emsland – Ausländeramt -den weiteren Aufenthalt der Klägerin nicht mehr duldete, indem er die weitere Duldung ablehnte und die Klägerin aufforderte, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Ausländische Staatsangehörige, die wie die Klägerin in der hier streitigen Zeit ohne Aufenthaltsbefugnis zur Ausreise verpflichtet sind, stehen der Arbeitsvermittlung objektiv nicht zur Verfügung, weil sie ohne Aufenthaltsbefugnis in Deutschland eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts nicht ausüben dürfen (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG; BSG SozR 4100 § 103 Nrn 14 und 29; BSGE 49, 287, 288 = SozR 4100 § 103 Nr 31; BSG InfAuslR 1988, 45, 46). Die Nichtverlängerung der Duldung brachte für die Klägerin insoweit übrigens keine Verschlechterung. Denn das Ausländeramt hatte schon die davor ausgesprochene Duldung mit der Auflage „Arbeitsaufnahme nicht gestattet” versehen. Schon aufgrund dieses Arbeitsverbots durfte die Klägerin eine Beschäftigung in Deutschland nicht aufnehmen. Die Entscheidungen der Ausländerbehörde entfalteten für die Arbeitsverwaltung Tatbestandswirkung, so daß der Klägerin, die als Polin in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, eine Arbeitserlaubnis nach § 19 Abs 2 AFG nicht hätte erteilt werden dürfen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Entscheidung der Ausländerbehörde der Sach- und Rechtslage entsprach (vgl dazu für den vergleichbaren Fall eines Asylbewerbers: BSG SozR 4100 § 103 Nr 44; ferner: BSGE 67, 176 = SozR 3-4100 § 103 Nr 1; sowie BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 3). Anhaltspunkte für die Nichtigkeit der ausländerbehördlichen Entscheidungen sind nicht ersichtlich.
Die nachträgliche Feststellung des Vertriebenenstatus am 28. November 1990 und der Wegfall der ausländerrechtlichen Aufenthaltsbeschränkungen sind leistungsrechtlich ohne Bedeutung. Der Arbeitsvermittlung steht nur zur Verfügung, wer im geltend gemachten Leistungszeitraum aktuell eine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt ausüben kann und darf. Diese Voraussetzung ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG nur erfüllt, wenn der Arbeitslose „ohne Verzug eine zumutbare Beschäftigung” aufzunehmen in der Lage ist (BSG SozR 4100 § 103 Nr 46 mwN). Dies traf für die Klägerin nicht zu.
Für eine vergleichbare Interessenlage hat das BSG schon entschieden, daß Asylberechtigte Anspruch auf Förderung von beruflichen Bildungsmaßnahmen oder auf eine von der Arbeitsmarktlage unabhängige Arbeitserlaubnis erst für die Zeit nach bestandskräftiger Anerkennung haben (SozR 4460 § 2 Nr 5; InfAuslR 1988, 6, 7; SozR 4100 § 103 Nr 44 S 117). Für das Erziehungsgeldrecht hat das BSG entschieden, daß eine rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht Ansprüche auf Erziehungsgeld rückwirkend begründet (BSG Urteil vom 9. Februar 1994 – 14/14b REg 9/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Dort ist auch entschieden, daß ein etwaiges Fehlverhalten der Ausländerbehörde, für das der Senat keinen Anhaltspunkt hat, jedenfalls nicht geeignet ist, sozialrechtliche Leistungsansprüche gegen die BA zu begründen, weil sich die BA Fehlverhalten von Ausländerbehörden nicht zurechnen lassen muß (BSG aaO mwN).
3.2 Bei dieser Rechtslage kann offenbleiben, ob die Klägerin ab 5. Juli 1990 ihrer Pflicht genügt hat, sich persönlich beim zuständigen ArbA arbeitslos zu melden (§ 105 Satz 1 AFG). Es erscheint zweifelhaft, daß die Arbeitslosmeldung vom 16. Januar 1989 noch für diesen Zeitraum wirkt. Während der Teilnahme an dem Deutschsprachkurs vom 20. November 1989 bis 4. Juli 1990 hätten Leistungen wegen Arbeitslosigkeit entzogen werden müssen, wenn die BA sie bereits zu diesem Zeitpunkt bewilligt gehabt hätte. Jedenfalls durch die Teilnahme an dem Deutschsprachkurs war die – im übrigen streitige – Verfügbarkeit der Klägerin aufgehoben. Erst eine erneute Arbeitslosmeldung nach Beendigung des Deutschsprachkurses hätte das ArbA in die Lage versetzt, die Vermittelbarkeit der Klägerin prüfen zu können (Gagel/Steinmeyer, AFG, § 105 RdNr 4 – Stand: August 1992 –; vgl auch: BSGE 42, 199, 202 = SozR 4100 § 151 Nr 5). Das ArbA hatte auch keinen Anlaß, die Klägerin auf die Notwendigkeit erneuter Arbeitslosmeldung hinzuweisen, als sie mitteilte, sie beende den Deutschsprachkurs wegen ihrer aufenthaltsrechtlichen Probleme. Bei einer solchen Mitteilung konnte das ArbA ohne Rechtsverstoß davon ausgehen, daß die Klägerin der zum damaligen Zeitpunkt noch bestehenden Abschiebeverfügung Rechnung tragen werde. Ein Mangel „verständnisvoller Förderung” durch die BA als Vorraussetzung eines Herstellungsanspruchs ist danach nicht ersichtlich.
Die Revision der Klägerin erweist sich danach als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen