Leitsatz (redaktionell)
1. Auch dann, wenn eine Tuberkulose schon bei Erlaß des Bescheides, mit dem Rente wegen dieses Leidens bewilligt worden ist, inaktiv gewesen ist, kann nach Ablauf eines längeren rückfallfreien Zeitraums, in der Regel nach 5 Jahren, eine wesentliche Änderung (Besserung) eintreten.
2. "Heilungsbewährung" einer schädigungsbedingten Lungentuberkulose als wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 Abs 1.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Januar 1961 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind dem Kläger nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger, geboren 12. Mai 1912, bezog seit 1. Juli 1946 Versehrtengeld nach Stufe II wegen einer Lungentuberkulose (Lungen-Tbc). Auf Grund eines lungenfachärztlichen Gutachtens des Dr. Sch vom Dezember 1951 erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) Freiburg mit Bescheid vom 16. Januar 1952 "produktivindurative Spitzenoberfeldtuberkulose rechts mit ganz geringfügigem basalem Pleuritisrest rechts und Verdacht auf Indurationsfeld im linken Oberteil, ruhender und nicht ansteckungsfähiger Prozeß" als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an, es gewährte vom 1. Oktober 1950 an Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H., vom 1. März 1952 an nach einer MdE um 30 v. H., da sich der gesamte Prozeß weiter konsolidiert habe. Nach einer erneuten Nachuntersuchung durch Dr. Sch im April 1957 entzog das VersorgA mit Bescheid vom 20 Juni 1957 die Rente mit Ende Juli 1957 wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse (§ 62 BVG), da der ruhende und geschlossene Prozeß seit 1951 stabil geblieben sei. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg. Auf die Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) Freiburg am 11. Februar 1958 den Beklagten, dem Kläger über den Monat Juli 1957 hinaus Rente nach einer MdE um 30 v. H. zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg am 27. Januar 1961 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Es führte aus: Zwar lasse ein Vergleich der Befunde von 1951 und 1957 eine wesentliche Besserung des Lungenleidens nicht ohne weiteres erkennen, der Lungenprozeß sei sowohl 1951 als auch 1957 als ruhend und nicht ansteckungsfähig bezeichnet worden; bei einer Lungen-Tbc sei aber eine wesentliche Besserung auch dann anzunehmen, wenn nach Ablauf eines längeren Zeitraumes feststehe, daß sich der Prozeß konsolidiert habe, Rückfälle also nicht mehr zu erwarten seien; erst der Befund von 1957 und die Tatsache, daß die Tbc in der Zwischenzeit inaktiv geblieben sei, habe endgültig den noch im Jahre 1951 vorhandenen Verdacht beseitigt, daß der Lungenprozeß noch nicht ganz zur Ruhe gekommen sei; der Kläger habe zwischen 1951 und 1957 auch um 3 kg an Gewicht zugenommen und die Blutsenkung sei nunmehr normal; die Lungen-Tbc sei Ende Juli 1957 mit Sicherheit ausgeheilt gewesen. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 15. Februar 1961 zugestellt.
Am 23. Februar 1961 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Freiburg vom 11. Februar 1958 zurückzuweisen.
Zur Begründung führte er aus: Das LSG habe § 62 Abs. 1 BVG unrichtig angewandt; die Befunde vom Jahre 1957 zeigten keine wesentliche Änderung gegenüber den Befunden vom Jahre 1951; eine Änderung könne nicht darin erblickt werden, daß sich der tuberkulöse Prozeß zeitlich von den letzten Aktivitätserscheinungen entfernt habe, die Tbc sei spätestens 1946 inaktiv geworden, seit 1947 sei der Lungenbefund im wesentlichen unverändert geblieben; das Gutachten von 1957 beruhe lediglich auf einer anderen Beurteilung eines unveränderten Zustandes; eine sogenannte "Heilungsbewährung" stelle keine objektive Änderung (Besserung) dar; auch die geringfügige Änderung der Blutsenkungswerte und des Röntgenbefundes und die Gewichtszunahme zwischen 1951 und 1957 reichten für die Annahme einer Besserung nicht aus.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.
II.
Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG), sie ist jedoch nicht begründet.
Mit dem Bescheid vom 16. Januar 1952 ist bei dem Kläger als Schädigungsfolge "produktiv-indurative Spitzenoberfeldtuberkulose rechts mit ganz geringfügigem basalem Pleuritisrest rechts und Verdacht auf Indurationsfeld im linken Oberteil, ruhender und nicht ansteckungsfähiger Prozeß" festgestellt und für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 29. Februar 1952 Rente nach einer MdE um 50 v. H., vom 1. März 1952 an nach einer MdE um 30 v. H. bewilligt worden. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20. Juni 1957 hat der Beklagte das Leiden als "alte vorwiegend indurative Spitzenoberfeldtuberkulose rechts, ruhender und geschlossener Prozeß, der seit 1951 stabil geblieben ist" bezeichnet und die Rente vom 1. August 1957 an entzogen. Soweit das LSG - stillschweigend - die Änderung der Leidensbezeichnung in dem Bescheid vom 20. Juni 1957 als zutreffend und damit die Neufeststellung der Schädigungsfolge als rechtmäßig angesehen hat, ist das Urteil des LSG richtig; die Neufeststellung der Schädigungsfolge beruht auf dem Ergebnis der Nachuntersuchung des Klägers durch Dr. Sch im April 1957, der Kläger hat insoweit Revisionsrügen nicht geltend gemacht. Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob der Beklagte zu Recht mit dem Bescheid vom 20. Juni 1957 wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung in dem Bescheid vom 16. Januar 1952 maßgebend gewesen sind, vom 1. August 1957 an die Rente entzogen hat. Das LSG hat auch insoweit § 62 Abs. 1 BVG richtig angewandt. Wie in den Urteilen BSG 7, 8 ff., 17, 63 ff. ausgeführt ist, liegt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG nur vor, wenn sich die Verhältnisse, die bei Erlaß des früheren Bescheides in Wirklichkeit - objektiv - vorgelegen haben, geändert haben, es kommt nicht darauf an, von welchen Verhältnissen die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, ausgegangen ist, was also subjektiv für sie bei Erlaß des früheren Bescheides maßgebend gewesen ist. Die "Verhältnisse" im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG sind die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente, die für die Feststellung dieses Anspruchs nach Grund und Höhe in dem früheren Bescheid maßgebend gewesen sind, zu den tatsächlichen Voraussetzungen für die Beurteilung des Anspruchs dem Grunde nach gehört - neben anderen - auch die Voraussetzung, daß gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen vorhanden sind, also ein "Schaden" (vgl. BSG 17, 114 ff.). Für das Ausmaß eines gesundheitlichen Schadens und für die Frage, ob sich ein früher festgestellter Schaden geändert (gebessert) hat, sind zwar weitgehend die ärztlichen Befunde maßgebend, die bei der Erteilung eines Bescheides zugrunde gelegt werden, es kommt jedoch für das Ausmaß des Schadens nicht allein auf die Befunde an, sondern auf den Gesamtzustand des Beschädigten und damit möglicherweise auch auf Umstände, die sich nicht in einer Änderung der Befunde ausdrücken, aber trotzdem nach ärztlicher Beurteilung eine - objektive - Änderung des Gesamtleidenszustandes bedeuten. Bei einer zur Ruhe gekommenen Lungen Tbc ist dies dann der Fall, wenn trotz im wesentlichen gleicher Befunde Aktivitätszeichen der Tbc für längere Zeit ausbleiben. Wie in dem Urteil BSG 17, 63 ff. dargelegt ist, wird bei einer zur Ruhe gekommenen Tbc - inaktiven Tbc - ein rückfallfreier Zeitraum von fünf Jahren als "Bewährungsfrist" zur Sicherstellung der Heilung ("Heilungsbewährung") vom Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tbc gefordert (vgl. auch Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Neuausgabe 1958 S. 82 zu b und h). Auch dann, wenn eine Tbc schon bei Erlaß des Bescheids, mit dem Rente wegen dieses Leidens bewilligt worden ist, inaktiv gewesen ist, kann nach Ablauf eines längeren rückfallfreien Zeitraums, in der Regel nach fünf Jahren, eine wesentliche Änderung (Besserung) eintreten; diese Besserung liegt nicht etwa nur in dem Zeitablauf, sondern darin, daß bei der Natur gerade dieses Leidens ein rückfallfreier Zeitraum von fünf Jahren nach medizinischer Erfahrung den Schluß zuläßt, trotz gleicher Befunde sei das Leiden nunmehr praktisch ausgeheilt, auch die Gefahr von Rückfällen bestehe nicht mehr, ein "Schaden" des Betroffenen, der auch in der Gefährdung durch eine schon einige Zeit inaktive Tbc noch liegen kann, sei jedenfalls nach Ablauf von fünf oder mehr Jahren nicht mehr vorhanden.
Für den vorliegenden Fall ist es damit nicht darauf angekommen, daß nach den Befunden, die im Jahre 1957 von Dr. Sch ermittelt worden sind, eine wesentliche Änderung gegenüber den Befunden im Jahre 1951 nicht zu erkennen ist, weil es sich schon damals um einen im wesentlichen ruhenden Prozeß gehandelt hat; es kann auch dahingestellt bleiben, ob eine wesentliche Besserung dadurch eingetreten ist, daß die Blutsenkung bei dem Kläger noch 1951, aber nicht mehr 1957 beschleunigt gewesen ist, daß eine zarte Fleckbildung im oberen Hiluspol links, die 1951 noch beobachtet worden ist, 1957 nicht mehr vorgelegen und daß das Gewicht des Klägers von 1951 bis 1957 um 3 kg zugenommen hat. Jedenfalls hat das LSG zutreffend festgestellt, nach dem Gutachten des Dr. Sch vom Dezember 1951 habe noch ein "Verdacht auf ein Indurationsfeld im linken Oberteil" bestanden, der ärztliche Dienst habe den Leidenszustand deshalb damals als "noch nicht ganz" zur Ruhe gekommen angesehen, die Untersuchung im April 1957 habe jedoch ergeben, daß dieser Verdacht nicht mehr bestehe, weil der Prozeß seit 1951 stabil geblieben ist und damit auch selbst eine Gefährdung für den Kläger von 1957 an nicht mehr besteht. Das LSG hat damit davon ausgehen dürfen, daß nach Ablauf von mehr als fünf Jahren, in denen die Tbc inaktiv geblieben ist, eine klinische Heilung dieses Leidens eingetreten ist, es hat hieraus zu Recht den Schluß gezogen, in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Rente in dem Bescheid vom 16. Januar 1952 maßgebend gewesen sind, sei damit eine wesentliche Änderung (Besserung) eingetreten, eine MdE in rentenberechtigendem Grade liege nicht mehr vor. Es hat zu Recht auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen