Leitsatz (amtlich)
Leistungen, die nicht zu dem in der RVO (§ 182) abgesteckten Rahmen der Krankenhilfe gehören, begründen nur dann als Vor- oder Nebenleistungen Verpflichtungen der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn ohne sie eine vom Versicherungsträger geschuldete Leistung nicht erbracht werden könnte.
Die Ausbildung einer Mutter im Krankenhaus zur späteren sachgemäßen Überwachung der Übungsbehandlung ihres Kindes gehört daher nicht zur Krankenhilfe.
Leitsatz (redaktionell)
Die Übungsbehandlung eines Kindes mit angeborener Fehlbildung der Gliedmaßen (Dysmelie-Kind) durch seine Mutter ist eine selbstverantwortliche Betreuung im Rahmen der Familie und gehört daher nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Normenkette
RVO § 182 Fassung: 1911-07-19
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. März 1966 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Das am 23. August 1961 geborene Kind E des bei der beklagten Krankenkasse versicherten E-A D wurde auf Kosten der Beklagten vom 25. Juni bis zum 10. August 1963 wegen "Dysplasie der oberen Extremitäten mit fehlendem Daumen beiderseits, Synostosis radio ulnaris beiderseits und Dysplasie des Ellenbogengelenks" in der Orthopädischen Klinik des DRK-Krankenhauses "S" der Krankenanstalten W stationär behandelt. Am 8. August 1963 teilte die Klinik der Beklagten mit, daß die Mutter des Kindes am 5. August 1964 zum Erlernen der Übungsbehandlung in die Orthopädische Klinik aufgenommen worden sei, und bat um Abgabe einer Kostengarantie. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, eine Mütterschulung gehöre nicht zu den durch Gesetz oder Satzung vorgesehenen Kassenleistungen. Daraufhin übernahm der Kläger als Sozialhilfeträger die umstrittenen Kosten und machte am 24. Januar 1964 bei der Beklagten einen entsprechenden Ersatzanspruch geltend, da nach seiner Meinung der Heilerfolg der ärztlichen Behandlung des Kindes ohne die Unterweisung der Mutter und die erst dadurch ermöglichte Fortsetzung der Übungsbehandlung durch die Mutter unvollständig geblieben wäre. Die Beklagte lehnte die Forderung am 6. Februar 1964 ab.
Die Klage auf Zahlung von 84,60 DM hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 15. September 1965 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die - zugelassene - Berufung des Klägers durch Urteil vom 22. März 1966 zurückgewiesen. In seinen Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Einberufung der Frau D ins Krankenhaus sei zur Ausbildung und nicht zur therapeutischen Verrichtung an ihrem kranken Kind erfolgt. An dieser Beurteilung könnte auch die Tatsache nichts ändern, daß die Ausbildung darin bestanden habe, eine Übungsbehandlung am eigenen Kind zu erlernen, deren Ausführung für die gesundheitliche Weiterentwicklung des Kindes wesentlich gewesen sei. Deshalb könne die Aufnahme der Mutter nicht der Krankenhauspflege des Kindes zugerechnet werden. Unerheblich sei demgegenüber, daß die Fortsetzung der im Krankenhaus erlernten Übungsbehandlung durch die Mutter für die gesundheitliche Weiterentwicklung des Kindes entscheidend gewesen sei. Im übrigen umfaßten die Leistungspflichten der gesetzlichen Krankenkasse im Bereich der Krankenpflege grundsätzlich nur die Sachleistung bzw. ihre Vergütung, nicht aber die bei der qualifizierten Sachleistung vorausgesetzte Ausbildung und deren Kosten. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er meint, das LSG habe den Sinn der Mütterschulung verkannt, wenn es diese von der Heilbehandlung des Kindes trenne und auf dieser theoretischen Trennung seine Entscheidung aufbaue. Der Erfolg der im Krankenhaus durchgeführten Heilmaßnahmen werde nur durch eine weitere Behandlung nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gesichert. Dabei sei es im Interesse der seelischen Entwicklung der durch die Natur ihrer Erkrankung von gesunden Gespielen abgesonderten Kinder erforderlich, sie möglichst in der Familie aufwachsen zu lassen. Zu einer umfassenden Heilbehandlung von Dysmelie-Kindern gehöre es deshalb, während der stationären Behandlung der Kinder stationäre Mütterschulungen durchzuführen, die sich insbesondere auf die Unterweisung in Beschäftigungstherapie und Krankengymnastik, auf den Gebrauch der Prothesen und die Unterweisung in der Werkstatt wegen der technischen Dinge erstreckten. Vor allem bei einer prothetischen Versorgung sei es notwendig, der Mutter die funktionellen Möglichkeiten und die konkrete Bedienung der Prothesen aufzuzeigen. Nur wenn das Kind auch zu Hause die Prothesen ständig benutze, d. h. dazu angehalten werde, könne es mit der Zeit in die Lage kommen, diese Gebrauchsmöglichkeiten voll auszuschöpfen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Niedersachsen vom 22. März 1966 und des SG Hannover vom 15. September 1965 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger an Kosten stationärer Mütterschulung der Ehefrau I D 84,60 DM zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist nicht begründet.
Der Kläger als Sozialhilfeträger kann nach §§ 1531 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) von der beklagten Krankenkasse keinen Ersatz für die aus Anlaß der Ausbildung der Frau D entstandenen Krankenhauskosten verlangen, weil diese ihrerseits keinen Anspruch gegen die Krankenkasse auf Übernahme dieser Kosten hatte.
Die Aufnahme der Mutter des Kindes in das Krankenhaus erfolgte nicht, um ihr selbst Krankenhauspflege zuteil werden zu lassen. Sie diente auch nicht dazu, die Krankenhausbehandlung des Kindes erst durchführen zu können. Dies wäre z. B. dann geschehen, wenn die Mutter zur Stillung und Wartung ihres neu geborenen erkrankten Kindes mit in das Krankenhaus hätte aufgenommen werden müssen (vgl. Schreiben des früheren Reichsarbeitsministers vom 2. März und 25. Mai 1943, AN 1943, 106 und 231). Nach den Feststellungen des LSG war aber die Anwesenheit der Mutter im Krankenhaus zur Betreuung des Kindes nicht notwendig. Vielmehr sollte die Mutter für einen bestimmten Zweck ausgebildet werden; sie sollte nach der Entlassung des Kindes aus dem Krankenhaus die bisher dort durchgeführte Übungsbehandlung selbst anleiten und überwachen können. Bei dieser (späteren) Übungsbehandlung handelt es sich nicht um eine Leistung der Krankenhilfe; denn sie ist weder in der RVO vorgesehen (vgl. § 182 RVO), noch gehört sie sinngemäß dorthin.
Leistungen, die nicht zu dem in der RVO abgesteckten Rahmen der Krankenhilfe gehören, können aber Vor- oder Nebenleistungen sein; sie können dann Verpflichtungen der Krankenkasse begründen, wenn ohne sie eine vom Träger der Krankenversicherung geschuldete Leistung nicht erbracht werden könnte. Deshalb ist z. B. der Transport eines Kranken zum und vom Krankenhaus von der Krankenkasse zu entschädigen, weil ohne diesen Transport die - geschuldete - Krankenhausbehandlung nicht durchgeführt werden könnte (vgl. Urteil des BSG vom 16. Dezember 1965, SozR RVO § 184 Nr. 5). Im vorliegenden Falle ist daher für die Beurteilung, ob die Beklagte die Kosten für die Ausbildung der Mutter zu tragen hat, entscheidend, ob die aufgrund dieser Ausbildung im Kreise der Familie später durchzuführende Übungsbehandlung eine von der Beklagten zu erbringende Leistung ist, weil nur dann auch die Ausbildung der Mutter als vorbereitende Maßnahme von der Beklagten zu tragen wäre.
Die spätere Übungsbehandlung ist aber keine Leistung der Krankenkasse, sondern eine selbstverantwortliche Eigenleistung der Familie genau wie die Pflege, die eine Mutter ihrem erkrankten Kind zu Hause zukommen läßt. Denn es gehört zu den Pflichten eines Versicherten und seiner Familienangehörigen, das in ihren Kräften stehende Zumutbare zu tun, um neben den vorgesehenen Leistungen der Krankenkasse zur Behebung ihres eigenen Krankheitszustandes oder des ihrer Angehörigen beizutragen. Dazu gehört nicht nur die übliche Betreuung des Kranken zu Hause, sondern auch die hier vorgesehene Übungsbehandlung des Kindes durch die Mutter. Wie diese selbst begründet daher auch die Ausbildung der Mutter zu ihrer Überwachung keinen Anspruch gegen die Krankenkasse. Die Revision muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen