Leitsatz (amtlich)
1. Soweit AVG § 28 idF vor dem RRG zur Anrechnung einer Ersatzzeit eine Pflichtversicherung als Anschlußversicherung fordert und eine anschließende freiwillige Versicherung nicht genügen läßt, ist die Regelung verfassungsgemäß.
2. Soweit AVG § 36 idF vor dem RRG für die Anrechnung von Schul- und Hochschulausbildungen als Ausfallzeiten in Abs 1 Nr 4 eine Pflichtversicherung als Anschlußversicherung und in Abs 3 eine bestimmte Zahl von Pflichtbeiträgen (im Rahmen der Halbdeckung) fordert und hierfür freiwillige Beiträge eines Selbstversicherten nicht genügen läßt, ist die Regelung verfassungsgemäß.
Normenkette
RVO § 1251 Fassung: 1965-06-09; AVG § 28 Fassung: 1965-06-09, § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09, Abs. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09, Abs. 3 Fassung: 1965-06-09; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. Mai 1973 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger, der ... 1905 geboren und Rechtsanwalt ist, hat nur freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung (ab November 1945) entrichtet; er erhält von Dezember 1970 an Altersruhegeld (Bescheid vom 17. Mai 1971).
Seine Klage mit dem Begehren, dabei neun Jahre Schul- und Hochschulausbildung als Ausfallzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) sowie seinen Wehrdienst und die Gefangenschaft in den Jahren 1940 bis 1945 als Ersatzzeit i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu berücksichtigen, hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - Koblenz vom 30. November 1972 und des Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 10. Mai 1973). Das LSG hielt die Voraussetzungen für die Anrechnung der Zeiten in den §§ 36 Abs. 2 und 28 Abs. 2 AVG - in der hier anzuwendenden Fassung vor dem Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 - nicht für erfüllt; diese Vorschriften seien, soweit sie Pflichtbeiträge forderten, verfassungsgemäß.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides dazu zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung der Zeiten von 1921 bis 1930 und von September 1940 bis Oktober 1945 ein höheres Altersruhegeld zu gewähren.
Er rügt eine Verletzung materiellen Rechts, insbesondere des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Es sei der Wille des Gesetzgebers, in der Sozialversicherung die beruflich Selbständigen den Unselbständigen (Pflichtversicherten) gleichzustellen, zumal heute die große Mehrzahl der Selbständigen den Lebensunterhalt aus eigener Arbeitsleistung bestreiten müsse.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Auf den im November 1970 eingetretenen Versicherungsfall hat das LSG zutreffend die §§ 28, 36 AVG in der vor dem RRG geltenden Fassung angewandt (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG; Urteile des erkennenden Senats vom 25. Mai 1973 - 11 RA 236/72 - und des 12. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 27. Juni 1973 - 12 RJ 372/72). Danach muß die Anrechnung einer Ersatzzeit hier daran scheitern, daß nach ihrem Ende, also auch innerhalb der dreijährigen Frist des § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG, keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit von dem Kläger aufgenommen worden ist, für die Pflichtbeiträge entrichtet worden sind (SozR Nr. 6 zu § 1251 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Ebenso ist die Anrechnung einer Ausfallzeit mangels Pflichtbeiträgen aus doppeltem Grunde ausgeschlossen: Zum einen hat der Kläger nicht innerhalb der in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG (Fassung vor dem RRG) genannten Fünfjahresfrist eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen, für die - was hier ebenfalls zu verlangen ist - Pflichtbeiträge entrichtet worden wären; zum anderen ist das Erfordernis der sog. Halbbelegung (Halbdeckung) in § 36 Abs. 3 AVG nicht erfüllt, weil der Kläger die Zeit vom Eintritt in die Versicherung (1945) bis zum Eintritt des Versicherungsfalls nicht mit Pflichtbeiträgen und auch nicht mit ausnahmsweise gleichgestellten freiwilligen Beiträgen i. S. des Art. 2 § 54 a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) im erforderlichen Umfang belegen kann.
Zu Unrecht rügt der Kläger eine Verletzung des Gleichheitssatzes, weil das Gesetz die freiwilligen Beiträge, die er während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt entrichtet hat, nicht genügen lasse. Art. 3 Abs. 1 GG ist jedoch nicht verletzt, denn für die genannten Regelungen gibt es sachlich einleuchtende Gründe.
Die Rentenversicherung war und ist im Aufbau und in den Leistungen auf die Verhältnisse und auf das Schutzbedürfnis der Personen zugeschnitten, die unselbständige Arbeit leisten (BVerfG 14, 288, 301). Dieser Grundzug beherrschte die gesetzliche Rentenversicherung vor dem Erlaß des RRG in noch stärkerem Maße als heute. Er kam in vielen Bestimmungen der Rentenversicherungsgesetze zum Ausdruck, darunter in den Vorschriften über die Anrechnung beitragsloser Zeiten. Ihre Anrechnung als Ersatz- und Ausfallzeiten geht zu Lasten der Versichertengemeinschaft. Von daher leuchtet es ein, daß eine solche Vergünstigung grundsätzlich nur dem Personenkreis zugute kommen soll, für den die Rentenversicherung geschaffen worden ist. In der Regel tragen auch nur die Angehörigen dieses Personenkreises die mit der Rentenversicherung verbundenen Lasten; allein auf Grund ihrer Beschäftigung sind sie zur Beitragsleistung verpflichtet; sie können sich ihr nicht entziehen. Den freiwillig Versicherten war es dagegen überlassen, ob sie Beiträge leisten wollten, und wenn ja, zu welcher Zeit und in welcher Höhe.
Unter diesen Umständen durfte der Gesetzgeber die Anrechnung von Schul- und Hochschulausbildungen als Ausfallzeit denen vorbehalten, die innerhalb der in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG genannten Fünfjahresfrist Pflichtversicherte geworden und während ihres Arbeitslebens eine längere Zeit geblieben sind (§ 36 Abs. 3 AVG). Für die Halbbelegung in § 36 Abs. 3 AVG mußte er nicht die Entrichtung freiwilliger Beiträge genügen lassen. Die Verhältnisse der Selbstversicherten sind auch nicht den Verhältnissen derer gleich, die als Selbständige pflichtversichert gewesen sind (§ 2 Abs. 1 Nr 3 ff AVG) und als Selbständige Pflichtbeiträge entrichtet haben, oder die als unselbständig, aber versicherungsfrei Beschäftigte freiwillige Beiträge geleistet haben (Art. 2 § 54 a AnVNG).
Ersatzzeiten rechnet der Gesetzgeber allerdings auch den freiwillig Versicherten an, wenn vorher eine Versicherung bestand; insoweit behandelt er die freiwillig Versicherten und die Pflichtversicherten gleich. Dagegen differenziert er bei der Anschlußvorsicherung. Abgesehen davon, daß diese Differenzierung den oben dargelegten Grundgedanken entspricht, ist aber noch zu berücksichtigen, daß die Anrechnungsvoraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG auf generellen Vermutungen beruhen; der Gesetzgeber wollte nicht den Nachweis der Kausalität zwischen Ersatzzeit und Beitragsausfall in jedem Einzelfall fordern; er hat daher im Falle einer Vorversicherung die Fortsetzung der Versicherung ohne die Ersatzzeit vermutet und im Fall einer Anschlußversicherung, sofern diese innerhalb bestimmter Frist danach folgte, den früheren Beginn ohne die Ersatzzeit. Bei einer Pflichtversicherung als Anschlußversicherung läßt sich aber die generelle Vermutung ihres früheren Beginns ohne die Ersatzzeit eher rechtfertigen als bei einer freiwilligen Versicherung; bei ihr ist es nämlich dem Belieben des Berechtigten überlassen, ob und wann er von dieser Befugnis Gebrauch macht.
Die Revisionsbegründung des Klägers könnte annehmen lassen, er erblicke eine Verletzung des Gleichheitssatzes mehr darin, daß das RRG keine günstigeren Bestimmungen für die selbständig Tätigen erlassen habe. Das RRG hat die §§ 28, 36 AVG teils geändert, teils ergänzt (Art. 1 § 2 Nr. 8 und Nr. 13, Art. 2 § 2 Nrn. 4 und 5); es hat dabei die Fünfjahresfrist in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG entfallen lassen und in Art. 2 § 9 a Abs. 2 AnVNG die Anrechnung von Ersatzzeiten auch ohne die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG sowie in Art. 2 § 13 a AnVNG die Anrechnung von Ausfallzeiten auch ohne die Voraussetzungen des § 36 Abs. 3 AVG zugelassen; dies gilt nach Art. 2 § 9 a Abs. 2 i. V. m. § 13 a AnVNG für Personen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit von wenigstens fünf Jahren aufgeben und von der Nachentrichtungsmöglichkeit nach Art. 2 § 49 a Abs. 2 AnVNG nF Gebrauch machen. Diese Bestimmungen sind Auswirkungen des dem RRG unter anderem zugrunde liegenden Bestrebens, die Rentenversicherung für Selbständige zu "öffnen" und ihrem Sicherungsbedürfnis jetzt im Rahmen der Rentenversicherung stärker Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber war aber - abgesehen davon, daß die neuen gesetzlichen Voraussetzungen beim Kläger nicht erfüllt sind - nicht verpflichtet, neu eingeführte Vergünstigungen für Selbständige mit freiwilligen Beiträgen überhaupt für vor dem RRG schon eingetretene Versicherungsfälle gelten zu lassen (BSG 11, 278, 287).
Die Revision ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen