Leitsatz (amtlich)
1. Auch soweit das Jugendamt ein nichteheliches Kind als Vermögenspfleger nach § 1690 BGB gesetzlich vertritt, bedarf es zur Einlegung einer Revision für das Kind keines Prozeßbevollmächtigten nach § 166 Abs 2 SGG (Ergänzung zu BSG 1956-06-07 4 RJ 99/55 = BSGE 3, 121).
2. Das Beitragsprivileg der Waisen nach § 381 Abs 3 S 2 Nr 2 RVO gilt nicht für Kinder, die nach dem Tode des Großvaters aus dessen Versicherung eine Waisenrente beantragen (§§ 1267, 1262 Abs 2 Nr 8 RVO).
Leitsatz (redaktionell)
Befreiung von der Beitragspflicht nach RVO § 381 Abs 3 S 2 Nr 2 - Vertretungszwang vor dem Bundessozialgericht:
1. Die nach RVO § 1267 Abs 1 iVm § 1262 Abs 2 Nr 8 (AVG § 44 Abs 1 iVm § 39 Abs 2 Nr 8) rentenberechtigtem Enkelkinder gehören nicht zu den Waisen im Sinne des RVO § 381 Abs 3 S 2 Nr 2, so daß insoweit für die Dauer der Mitgliedschaft nach RVO § 315a eine Freistellung von der Beitragspflicht nicht in Betracht kommt.
2. Eine Behörde ist auch dann von dem Vertretungszwang nach SGG § 166 Abs 1 befreit, wenn sie als gesetzliche Vertreterin eines Beteiligten auftritt.
Normenkette
RVO § 381 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, § 1267 Abs. 1, § 1262 Abs. 2 Nr. 8, § 315a; SGG § 166 Abs. 1-2; BGB § 1690
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Februar 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung der Klägerin zur Zahlung von Beiträgen zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR).
Für die 1958 nichtehelich geborene Klägerin beantragte am 14. Mai 1968 das örtlich zuständige Jugendamt Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres Großvaters mütterlicherseits; dieser hatte seit 1955 Rente bezogen und war 1961 verstorben. Zugleich mit dem Rentenantrag wurde die Klägerin zur KVdR angemeldet; dabei wurde angegeben, ihre Mutter sei Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse. Der Rentenantrag wurde abgelehnt, die dagegen erhobene Klage am 15. November 1968 zurückgenommen. Schon einen Monat vorher hatte die beklagte Krankenkasse für die Klägerin Beiträge zur KVdR vom Zeitpunkt des Rentenantrages an gefordert. Die Klägerin hält sich dagegen als Waise i. S. des § 381 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für beitragsfrei.
Ihre Klage hat das Landessozialgericht (LSG), nachdem ihr das Sozialgericht (SG) zunächst stattgegeben hatte, als unbegründet abgewiesen und ausgeführt: Die von der Beklagten für die Zeit vom 14. Mai bis zum 30. November 1968 erhobene Beitragsforderung bestehe zu Recht. Die Klägerin sei keine Waise i. S. der genannten Vorschrift. Dazu gehörten nach allgemeinem Sprachgebrauch und nach dem Sinnzusammenhang des Gesetzes nur elternlose Kinder; denn nur bei ihnen sei der Anspruch auf Hinterbliebenenrente und damit die Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers zur Zahlung der KVdR-Beiträge in der Regel zweifelsfrei (Urteil vom 18. Februar 1972).
Für die Klägerin hat das Jugendamt die zugelassene Revision eingelegt und geltend gemacht: Entgegen der Ansicht des LSG sei die Klägerin als "Waise" i. S. der fraglichen Bestimmung anzusehen. Dieser Begriff dürfe aus Gründen der Rechtssicherheit und der Praktikabilität im Recht der Kranken- und der Rentenversicherung nicht verschieden ausgelegt werden. Waisen seien daher alle nach §§ 1262, 1267 RVO waisenrentenberechtigten Kinder, unter bestimmten Voraussetzungen auch Enkelkinder. Das LSG habe ferner nicht beachtet, daß nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO nur die zum Bezuge einer Rente Berechtigten krankenversichert seien; die Klägerin habe aber nach ihrem Großvater keinen Rentenanspruch erworben. Sie besitze auch kein Einkommen oder Vermögen, aus dem sie die KVdR-Beiträge zahlen könne. Eine Mitgliedschaft in der KVdR sei für sie im übrigen entbehrlich gewesen, da sie sowohl nach ihrer Mutter wie nach ihrem Vater Anspruch auf Familienhilfe gehabt habe. Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die vom Jugendamt eingelegte Revision ist zulässig. Das Jugendamt unterliegt als "Behörde" nicht dem Vertretungszwang nach § 166 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); das gilt auch dann, wenn es nicht selbst zu den Beteiligten des Gerichtsverfahrens (§ 69 SGG) gehört, sondern - wie hier - als gesetzlicher Vertreter eines Beteiligten auftritt (BSG 3, 121; 12, 288, 289). Die gegen diese Rechtsprechung erhobenen Bedenken (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 252 q) hält der Senat nicht für begründet. Das Privileg von Behörden, von Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, sich vor dem Bundessozialgericht (BSG) selbst zu vertreten (§ 166 Abs. 1 SGG), beruht auf der Erwägung, diese Stellen könnten und würden in sachgemäßer Weise darüber befinden, ob und gegebenenfalls durch wen sie sich vertreten lassen wollen, während eine solche Erwartung bei anderen Beteiligten nicht allgemein gerechtfertigt sei (vgl. BSG 2, 159, 160 unter Hinweis auf die Begründung des Gesetzes). Das Selbstvertretungsrecht der in § 166 Abs. 1 SGG genannten Institutionen erklärt sich mithin aus ihrem besonderen Status als Träger öffentlicher Verwaltung. Es hat nichts zu tun mit ihrer im gerichtlichen Verfahren jeweils eingenommenen Stellung, sei es der eines Beteiligten, der eigene oder fremde Rechte (vgl. § 1538 RVO) wahrnimmt, sei es der eines Vertreters eines Beteiligten.
Auch im letzteren Fall ist deshalb das Jugendamt - jedenfalls in seiner Eigenschaft als gesetzlicher Vertreter eines Beteiligten - von der Verpflichtung zur Bestellung eines Prozeßbevollmächtigten nach § 166 Abs. 2 SGG befreit, wie übrigens im Zivilprozeß ein Rechtsanwalt sich auch dann selbst vertreten kann (§ 78 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung), wenn er den Rechtsstreit als gesetzlicher Vertreter einer Partei führt (vgl. Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 30. Aufl, § 78 Anm. 3). Ob die Befreiung vom Vertretungszwang ausnahmsweise nicht gilt, wenn das Jugendamt nicht aufgrund gesetzlicher Vertretungsmacht, sondern mit rechtsgeschäftlicher Vollmacht handelt (so SozR Nr. 34 zu § 166 SGG für einen Jugendlichen, der das 16. Lebensjahr vollendet hatte und deshalb nach § 71 Abs. 2 SGG in eigener Sache prozeßfähig war), braucht der Senat nicht zu entscheiden, da ein solcher Sachverhalt hier nicht vorliegt.
Die ursprüngliche Amtsvormundschaft des Jugendamts über die Klägerin ist zwar mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (NEhelG) vom 19. August 1969 (BGBl I 1243), d. h. mit dem 1. Juli 1970, erloschen. An ihre Stelle ist vom gleichen Zeitpunkt an eine gesetzliche Pflegschaft des Jugendamts getreten (Art. 12 § 7 NEhelG). Diese umfaßt nicht die Vertretung des Kindes in Angelegenheiten der hier streitigen Art (§ 1706 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB - nF). Das Jugendamt ist jedoch auf Antrag der Mutter der Klägerin vom Vormundschaftsgericht zum Beistand bestellt worden (§ 1685 BGB nF). In dieser Eigenschaft ist dem Jugendamt die "Geltendmachung von Rentnerkrankenversicherungs-Beiträgen aus der Versicherung des Großvaters" der Klägerin, also ein Teil der Vermögenssorge für sie, übertragen worden (§ 1690 Abs. 1 BGB nF). Damit hat das Jugendamt insoweit die Rechte und Pflichten eines Pflegers erlangt (1690 Abs. 2 Satz 1 BGB nF), der - unter Ausschluß der Mutter - das Kind gesetzlich vertritt (§§ 1630, 1793, 1915 BGB; Staudinger, Komm. zum BGB, 10./11. Aufl., § 1690 Rdnrn. 10 u. 11; Palandt, BGB, 30. Aufl., § 1690 Anm. 2). Als (gegenständlich beschränkter) gesetzlicher Vertreter der Klägerin hat das Jugendamt die Revision somit ohne einen nach § 166 Abs. 2 SGG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten wirksam einlegen können.
Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die streitigen KVdR-Beiträge von der Klägerin zu zahlen sind.
Die Klägerin ist mit der Stellung des Rentenantrages am 14. Mai 1968 Mitglied der Beklagten geworden, obwohl ihr, wie sich später herausgestellt hat, kein Rentenanspruch zustand (§ 315 a RVO). Diese sog. Formalmitgliedschaft tritt, was die Klägerin übersieht, gerade in den Fällen ein, in denen die Voraussetzungen für eine Versicherung nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO mangels einer Berechtigung zum Rentenbezug nicht vorliegen. Die Mitgliedschaft nach § 315 a RVO bezweckt, die Rentenantragsteller auch während der Zeit bis zur Entscheidung über den Rentenantrag in den Schutz der Krankenversicherung einzubeziehen. Sie endet daher erst mit dem Ablauf desjenigen Monats, in dem die Ablehnung des Rentenantrags endgültig geworden ist, hier also mit dem 30. November 1968 (§ 315 a Abs. 2 RVO).
Die auf die Zeit ihrer Mitgliedschaft bei der Beklagten entfallenden Beiträge hat die Klägerin nach § 381 Abs. 3 RVO allein zu tragen, es sei denn, sie hätte als Waise eines in § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO bezeichneten Versicherten, der bereits Rente bezogen hat, vor Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente beantragt (§ 381 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 RVO). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.
Die Klägerin hat zwar noch vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach ihrem (1961 verstorbenen) Großvater, der bereits eine Rente bezogen hatte, Waisenrente nach §§ 1267, 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO beantragt. Sie hat dies jedoch nicht als "Waise" ihres Großvaters getan. Ob dem schon der Wortlaut des Gesetzes entgegensteht, wie das LSG meint, läßt der Senat offen; der allgemeine Sprachgebrauch rechnet Enkel (und die in den angeführten Vorschriften mitgenannten Geschwister) allerdings nicht zu den Waisen, sondern behält diesen Begriff den elternlosen Kindern vor. Wie aber das Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen Enkel und Geschwister im Rechtssinne als Kinder ansieht, könnte an sich auch der Waisenbegriff im Versicherungsrecht kraft gesetzlicher Fiktion einen anderen Inhalt haben als im allgemeinen Sprachgebrauch (vgl. § 45 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes).
Gegen die von der Klägerin erstrebte Einbeziehung von Enkelkindern in den Waisenbegriff des § 381 Abs. 3 Satz 2 RVO sprechen indessen entscheidend die Entstehungsgeschichte und der Zweck dieser Vorschrift. Bevor § 381 Abs. 3 Satz 2 RVO durch das Finanzänderungsgesetz vom 21. Dezember 1967 (in Kraft seit dem 1. Januar 1968) ergänzt wurde, hatten alle Rentenantragsteller bis zum Beginn der Rente, bei erfolglosem Rentenantrag also für die gesamte Zeit ihrer Kassenmitgliedschaft, die KVdR-Beiträge selbst zu tragen. Das galt auch für Hinterbliebene eines Versicherten, der schon eine Rente bezogen hatte, bei denen der Anspruch auf Hinterbliebenenrente daher in der Regel keinem Zweifel unterlag (vgl. SozR Nr. 16 zu § 381 RVO). Dieses - nach dem früheren Wortlaut des Gesetzes nicht zu vermeidende - Ergebnis hielt der Gesetzgeber jedoch nicht für angemessen: "Beantragt die Witwe eines Versicherten, der bereits Rente bezogen hat, Witwenrente oder die Waisen eines Versicherten, der bereits Rente bezogen hat, vor Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente, so ist sicher, daß die beantragte Rente gewährt wird. In derartigen Fällen kann daher davon abgesehen werden, daß die Rentenantragsteller bis zur Zustellung des Rentenbescheides Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner zahlen. Dementsprechend wird § 381 Abs. 3 Satz 2 der RVO geändert" (Begründung zur Neufassung des § 381 Abs. 3 Satz 2 RVO, zu BT-Drucks. V/2341, S. 6 f zu Nr. 5 Buchst. a).
Wie diese Begründung zeigt, hat der Gesetzgeber von der eigenen Beitragspflicht in der KVdR nur solche Versicherten befreien wollen, deren Anspruch auf die beantragte Hinterbliebenenrente von vornherein "sicher" erscheint, bei denen also für die Krankenkasse im Ergebnis kein Beitragsausfall entsteht, weil die Beiträge später - nach Bewilligung der Rente - vom Rentenversicherungsträger nachgezahlt werden. Diese Absicht des Gesetzgebers hat auch im Gesetz einen hinreichend deutlichen Ausdruck gefunden. Die Freistellung von der Beitragspflicht ist nämlich nicht auf alle Hinterbliebenen ausgedehnt, sondern auf Witwen und auf solche Waisen beschränkt worden, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente beantragen. Ausgeschlossen geblieben sind damit Hinterbliebene, deren Rentenanspruch außer von der in der Regel unzweifelhaften Hinterbliebeneneigenschaft von bestimmten weiteren, häufig weniger leicht zu klärenden Voraussetzungen abhängt. Dazu gehören neben Witwern und geschiedenen Ehefrauen ... (§§ 1265 f RVO) auch Waisen nach Vollendung des 18. Lebensjahres; ihnen wird eine Rente nur gewährt, wenn die besonderen Voraussetzungen der Sätze 2 und 3 des § 1267 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Dazu gehören ferner Enkel und Geschwister i. S. des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO, denen Waisenrente nur zusteht, wenn der Berechtigte, aus dessen Versicherung sie ihren Anspruch ableiten, sie in seinen Haushalt aufgenommen oder sie überwiegend unterhalten hatte. Wäre auch dieser Personenkreis von der Beitragspflicht in der KVdR freigestellt, so hätte in allen Fällen, in denen sich der Rentenantrag - wie bei der Klägerin - später als unbegründet erweist, die Krankenkasse und damit die Versichertengemeinschaft einen kostenlosen Krankenversicherungsschutz für häufig nicht unerhebliche Zeiträume zu gewähren. Eine solche Belastung hat der Gesetzgeber den Krankenkassen nach der Entstehungsgeschichte und dem erkennbaren Zweck des Gesetzes nicht auferlegen wollen. Das Beitragsprivileg von Waisen nach § 381 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 RVO umfaßt deshalb nicht Enkel i. S. des § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO, wenn diese Waisenrente aus der Versicherung eines verstorbenen Großelternteils beantragen.
Daß die Klägerin hier eines Versicherungsschutzes aus der KVdR nicht bedurfte, weil für sie Ansprüche auf Familienhilfe (§ 205 RVO) bestanden, ändert an ihrer Beitragspflicht nichts. Für Fälle dieser Art hat der Gesetzgeber erst durch Anfügung einer neuen Nr. 3 in § 381 Abs. 3 Satz 2 RVO Vorsorge getroffen. Die Gesetzesänderung ist am 1. August 1969 in Kraft getreten (Art. 2 Nr. 16, Art. 4 § 3 des Gesetzes vom 27. Juli 1969, BGBl I 946); sie erfaßt deshalb den vorliegenden Sachverhalt noch nicht. Sollte die Klägerin, wie sie vorgetragen hat, die streitigen Beiträge aus ihrem Vermögen oder Einkommen nicht zahlen können, hätten dafür in erster Linie ihre Eltern, subsidiär die Sozialhilfe einzutreten.
Da sich das angefochtene Urteil somit als richtig erweist, hat der Senat die Revision zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen