Leitsatz (amtlich)
1. Bei "anderen Kriegsopfern", bei denen die sonstigen Voraussetzungen des BVG § 7 Abs 1 Nr 3 nicht gegeben sind, kommt die Anwendung des BVG § 8 nur in Betracht, wenn die Schädigung Folge eines der in BVG §§ 1 bis 5 geregelten oder nach BVG § 6 anzuerkennenden Versorgungstatbestände ist (Fortführung von BSG 1974-08-27 9 RV 406/73 = SozR 3100 § 8 Nr 1).
2. Eine Flucht iS BVG § 5 Abs 1 Buchst c setzt voraus, daß der Beschädigte seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt verloren oder zumindest faktisch - wenn auch möglicherweise nur vorübergehend - aufgegeben hat und der Grund hierfür in dem Zwang durch von außen einwirkende und dem Einfluß des Beschädigten entzogene Umstände und Verhältnisse liegt.
3. Behördliche Maßnahmen iS BVG § 5 Abs 1 Buchst b sind auch tatsächliche Handlungen, die der Durchsetzung oder Erzwingung einer behördlichen Anordnung zu dienen bestimmt oder in sonstiger Weise durch diese veranlaßt worden sind. Dabei ist es unerheblich, ob es sich im Einzelfall um rechtmäßige und zur Zweckerreichung geeignete oder um rechtswidrige oder sogar exzessive Maßnahmen handelt.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1953-08-07, Buchst. c Fassung: 1953-08-07, § 7 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1964-02-21, § 8 S. 1 Fassung: 1964-02-21
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.10.1975; Aktenzeichen L 8 V 212/74) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 06.06.1973; Aktenzeichen S 16 V 3363/70) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. Oktober 1975 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit geht um die Frage, ob dem Kläger aufgrund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) Versorgung zu gewähren ist.
Der am 27. Juli 1936 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und nach seinen Angaben auch nicht deutscher Volkszugehöriger. Er ist nach einem von ihm eingereichten Gutachten des Dr. W in L vom 5. März 1969 bei beiderseitiger Opticusatrophie und einer Netzhautablation des linken Auges seit der Kindheit blind.
Am 2. November 1966 beantragte er die Gewährung von Versorgung nach dem BVG wegen der Erblindung mit der Begründung, er habe am Abend des 1. September 1942 im Garten des väterlichen Grundstücks gespielt. Als ihn sein Vater in das Haus habe holen wollen, sei dieser vom benachbarten Grundstück aus, auf dem sich eine Dienststelle der Gestapo befunden habe, beschossen worden. Hierbei habe er - der Kläger - einen Kopfschuß erlitten.
Im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens reichte der Kläger neben dem Gutachten des Dr. W vom 5. März 1969 und der Ablichtung einer Bescheinigung des Krankenhauses "K" vom 22. September 1942 über eine vom 18. bis 23. September 1942 durchgeführte stationäre Behandlung auch schriftliche Erklärungen des Pawel W und der Elisabeth S in Lodz vom 28. Februar 1969 ein, wonach sich der Kläger am 1. September 1942 um 22.00 Uhr mit den Eltern und seiner Schwester wegen eines angekündigten Luftangriffes in einen Schutzraum am Ende des Gartens habe begeben wollen; hierbei seien aus dem benachbarten Gebäude der Gestapo-Dienststelle Schüsse gefallen, wovon der Kläger am Kopf getroffen worden sei. Mit Bescheid vom 20. Januar 1970 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) R die Gewährung von Versorgung ab, weil die Erblindung nicht in ursächlichem Zusammenhang mit einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG stehe. Die nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg vom 22. September 1970) erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) Stuttgart nach Einholung einer Auskunft des Bundesarchivs - Militärarchiv - Freiburg vom 29. Januar 1973 mit Urteil vom 6. Juni 1973 ab.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat Pawel W, Stefan M (Vater des Klägers) und Elisabeth Adele S im Wege der Rechtshilfe durch das Kreisgericht für die Stadt Lodz als Zeugen vernehmen lassen und die Bundesrepublik Deutschland zum Rechtsstreit beigeladen. Durch Urteil vom 24. Oktober 1975 hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Der Kläger gehöre nicht zu dem in § 7 BVG aufgeführten Kreis der anspruchsberechtigten Personen. Damit könne ihm nur nach § 8 BVG mit Zustimmung des Beigeladenen Versorgung gewährt werden. Der Beigeladene habe jedoch eine solche Zustimmung im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens abgelehnt. § 8 BVG ermögliche nur die Erweiterung des zu versorgenden Personenkreises, nicht hingegen die Einbeziehung zusätzlicher Tatbestände in den Schutz des BVG. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, daß der Kläger durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs 2 Buchst a) iVm § 5 Abs 1 BVG verletzt worden und erblindet sei. Durch Kampfhandlungen (§ 5 Abs 1 Buchst a BVG) seien die folgenschweren Schüsse insbesondere deshalb nicht veranlaßt worden, weil sie zur Abwehr feindlicher Flugzeuge weder bestimmt noch geeignet gewesen seien und nicht auszuschließen sei, daß sie aus bloßem Unmut über das Weinen des Klägers (vorsätzlich) oder aus Nervosität abgegeben worden seien. Der von den Zeugen geschilderte Luftalarm und der von einer Gestapo-Streife ausgeübte Zwang, Luftschutzgräben aufzusuchen, seien zwar behördliche Maßnahmen (§ 5 Abs 1 Buchst b BVG) gewesen. Jedoch hätten nicht diese Maßnahmen, sondern die davon unabhängigen Schüsse von Gestapo-Angehörigen, durch welche eine neue Kausalkette in Gang gesetzt worden sei, die Erblindung des Klägers verursacht. Diese Schüsse seien ferner nicht die Auswirkung der mit der Flucht vor einem mindestens subjektiv drohenden Fliegerangriff verbundenen Gefahr für Leib und Leben (§ 5 Abs 1 Buchst c BVG) gewesen. Ebenso seien die Voraussetzungen des § 5 Abs 1 Buchst d und e BVG nicht erfüllt. Der Beklagte und der Beigeladene hätten ohne Ermessensfehler auch über § 6 BVG das Vorliegen einer unmittelbaren Kriegseinwirkung nicht anerkannt. Ein besonders begründeter Fall im Sinne dieser Vorschrift liege nur dann vor, wenn er zwar nicht durch § 5 BVG gesetzlich geregelt, aber einem der dort geregelten Fälle für einzelne Gruppen ähnlich sei. Hingegen könnten mit Hilfe des § 6 BVG nicht fehlende Tatbestandsmerkmale ersetzt werden. Der Sachverhalt sei seiner Art nach bereits in § 5 Abs 1 Buchst a) BVG geregelt; diese Bestimmung könne jedoch wegen Fehlens des Tatbestandsmerkmals der "Kampfhandlungen" nicht angewendet werden. Schließlich könne ein Ausgleich nicht über § 89 BVG geschaffen werden; über diese Vorschrift dürfe nicht der Kreis der Versorgungsberechtigten erweitert werden. Der Anwendbarkeit der §§ 6 und 89 BVG stehe zusätzlich das Gesetz zur allgemeinen Regelung durch den Krieg und den Zusammenbruch des Deutschen Reiches entstandener Schäden (Allgemeines Kriegsfolgengesetz -AKG) vom 5. November 1957 (BGBl I S 1747) entgegen. Der dem Kläger zunächst gegen das Deutsche Reich zustehende Anspruch könne für die Nachkriegszeit ausschließlich auf § 5 AKG gestützt werden. Die unter diese Vorschrift fallenden Sachverhalte könnten selbst dann nicht unter Erweiterung der versorgungsrechtlich geschützten Tatbestände über § 6 BVG unmittelbaren Kriegseinwirkungen gleichgestellt werden, wenn Ansprüche nach dem AKG etwa wegen Ablaufs der Anmeldefristen nicht mehr durchsetzbar seien. Im übrigen würde wegen des Einkommens des Klägers § 64 c BVG einer Gewährung von Versorgungsbezügen entgegenstehen.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 5 Abs 1 BVG: Das LSG habe zu Unrecht festgestellt, daß er nicht durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung verletzt worden und erblindet sei. Der Zwang zum Aufsuchen des Luftschutzgrabens sei zunächst eine behördliche Maßnahme im Sinne des § 5 Abs 1 Buchst b) BVG gewesen. Diese Bedingung könne nicht hinweggedacht werden, ohne daß die Verletzung entfiele. Das LSG habe daher rechtsirrig angenommen, daß durch die Schüsse der Gestapo-Angehörigen eine neue Kausalkette in Gang gesetzt worden sei. Hierdurch trete der Gang zum Luftschutzgraben in seiner ursächlichen Bedeutung nicht zurück. Daß zu dieser Zeit feindliche Flugzeuge nicht mehr zu hören gewesen seien, sei unerheblich. Entscheidend sei, daß die Voraussetzungen für den Fliegeralarm von der Polizeieinheit noch als gegeben angesehen worden seien. Hierbei sei die Verletzung durch einen Karabinerschuß und damit durch ein eigenes Kampfmittel erfolgt. Dem LSG könne auch nicht darin gefolgt werden, daß die Schüsse nicht die Auswirkung einer mit der Flucht vor dem mindestens subjektiv drohenden Fliegerangriff verbundenen Gefahr für Leib und Leben gewesen seien. Denn der Flucht sei eigentümlich, daß im Kriegsgebiet bei Gefahr auf Flüchtende geschossen werde. Das Vorliegen allgemeiner Auflösungserscheinungen, wie gegen Kriegsende, sei nicht erforderlich. Auch im September 1942 habe es im besetzten Polen schon erhebliche Widerstände und eine Untergrundbewegung gegeben. Im übrigen liege ein besonders begründeter Fall im Sinne des § 6 BVG vor; unter Umständen hätten der Beklagte bzw der Beigeladene ermessensfehlerhaft das Vorliegen einer unmittelbaren Kriegseinwirkung über § 6 BVG nicht anerkannt.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des 8. Senats des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. Oktober 1975 nebst Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 6. Juni 1973 und den zugrundeliegenden Bescheiden vom 20. Januar und 22. September 1970 zu verurteilen, "beiderseitige Blindheit" als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihm - dem Kläger - Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH zu gewähren;
hilfsweise: den Rechtsstreit an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückzuverweisen.
Der Beklagte und der Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beklagte führt aus, ursprünglich sei angegeben worden, daß die Schußverletzung beim Spielen im Garten erfolgt sei; abgesehen davon habe die zur Erblindung des Klägers führende Verletzung nicht auf einer unmittelbaren Kriegseinwirkung beruht. Dies habe das LSG insbesondere unter Berücksichtigung dessen, daß sich die Ursache für die folgenschweren Schüsse nicht habe ermitteln lassen, ohne Verletzung des § 5 Abs 1 BVG festgestellt. Die Revision habe auch nicht aufgezeigt, inwiefern in der Ablehnung einer Versorgung nach § 6 BVG ein Ermessensfehler liege. Im übrigen könne die Versorgungsbehörde darüber, ob ein Fall des § 6 BVG gegeben sei, nicht in eigener Zuständigkeit entscheiden.
Der Beigeladene trägt vor, die Entscheidung des LSG enthalte keine Verletzung des § 5 Abs 1 BVG. § 6 BVG könne nach seinem Sinn und Zweck nicht dazu herangezogen werden, fehlende Tatbestandsmerkmale eines Anspruchs auf Versorgung zu ersetzen. Die Annahme eines besonders begründeten Falles im Sinne dieser Vorschrift sei auf solche im Gesetz nicht geregelten atypischen Fälle beschränkt, die nach Sachverhalt und Interessenlage den im Gesetz normierten Grundtatbeständen entsprächen und einen Versorgungsanspruch kraft Gesetzes nahelegten. Hingegen sei ein Ausweichen auf § 6 BVG nicht statthaft, wenn der Grundtatbestand als solcher im Gesetz geregelt und lediglich dessen Tatbestandsmerkmale im Einzelfall nicht voll erfüllt seien. Der vorliegende Sachverhalt (Einwirkung eines Kampfmittels) sei seiner Art nach bereits in § 5 Abs 1 Buchst a) BVG geregelt. Es fehle lediglich an der Voraussetzung, daß das Kampfmittel im Kampf eingesetzt worden sei. Das BSG habe bereits entschieden, daß bei Fehlen eines Tatbestandsmerkmales des Anspruchs aus § 5 Abs 2 Buchst b) BVG eine Anwendung des § 6 BVG nicht in Betracht komme. Dasselbe müsse gelten, wenn eine Voraussetzung des Anspruchs nach § 5 Abs 1 Buchst a) BVG fehle.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des von ihm gestellten Hilfsantrages begründet.
Die Beteiligten streiten darum, ob dem Kläger wegen seiner Erblindung Versorgung aufgrund des BVG zusteht. Das Berufungsgericht hat dies verneint. Die von ihm getroffenen Feststellungen tragen dieses Ergebnis jedoch nicht.
Voraussetzung für die Gewährung von Versorgung nach dem BVG ist zunächst, daß der Antragsteller unter den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes fällt. Dieser ist durch § 7 Abs 1 BVG - hier maßgebend in seiner zur Zeit der Antragstellung (2. November 1966) geltenden Fassung des Zweiten Neuordnungsgesetzes (2. NOG) vom 21. Februar 1964 (BGBl I S 85), mit Wirkung ab 1. Juli 1976 geändert durch das Achte Anpassungsgesetz-KOV (8. AnpG-KOV) vom 14. Juni 1976 (BGBl I S 1481) - umschrieben worden. Ungeachtet ihrer gesetzessystematischen Einordnung hinter die Regelungen der versorgungsrechtlich geschützten Tatbestände (§§ 1 bis 6 BVG) sind § 7 BVG und der mit ihm in enger sachlicher Beziehung stehende § 8 BVG als vorrangige Grundnormen anzusehen; erst wenn ihre Voraussetzungen erfüllt sind, kann darüber entschieden werden, ob die sachlichen Voraussetzungen eines Versorgungsanspruchs gegeben sind.
Nach § 7 Abs 1 BVG wird das Gesetz angewendet auf (1.) Deutsche und deutsche Volkszugehörige, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, (2.) Deutsche und deutsche Volkszugehörige, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in den zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Gebieten (seit 1. Juli 1976: in den zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 gehörenden Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie) oder im Ausland haben, um (3.) andere Kriegsopfer, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, wenn die Schädigung mit einem Dienst im Rahmen der deutschen Wehrmacht oder militärähnlichen Dienst für eine deutsche Organisation in ursächlichem Zusammenhang steht oder in Deutschland oder in einem zur Zeit der Schädigung von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebiet durch unmittelbare Kriegseinwirkung eingetreten ist.
Der Kläger erfüllt keine dieser persönlichen Voraussetzungen. Das LSG (Urteil S 16) ist davon ausgegangen, daß er nicht Deutscher oder deutscher Volkszugehöriger im Sinne des § 7 Abs 1 Nrn 1 und 2 BVG ist. Gegen die dieser Auffassung zugrundeliegenden, durch die Angaben des Klägers (Schriftsatz an das SG vom 14. September 1972) bestätigten Feststellungen sind Revisionsrügen nicht erhoben worden; sie sind daher für das BSG bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Dasselbe gilt insoweit, als der Kläger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat und damit auch die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Nr 3 BVG nicht erfüllt.
Angesichts dieser Rechtslage könnte der Kläger nur über § 8 Satz 1 BVG in den Kreis der nach dem BVG versorgungsberechtigten Personen einbezogen werden. Nach dieser Vorschrift kann in anderen als den in § 7 bezeichneten, besonders begründeten Fällen mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) Versorgung gewährt werden, außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes jedoch nach Maßgabe der §§ 64 bis 64 e (seit 1. Januar 1967: §§ 64 bis 64 f; vgl Art I Nr 2 des Dritten Neuordnungsgesetzes - 3. NOG - vom 28. Dezember 1966; BGBl I S 750). Die hiernach mögliche Erstreckung des persönlichen Anwendungsbereiches des BVG auf andere als die in § 7 BVG genannten Personen steht im Ermessen der Verwaltungsbehörde. Diese Ermessensentscheidung ist im gerichtlichen Verfahren nur daraufhin nachprüfbar, ob die Verwaltungsbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG) oder bei Ausübung des Ermessens gegen verfassungsrechtliche Grundsätze verstoßen hat (BSG SozR BVG § 8 Nr 1 Ca 2). Das Ermessen ist der Verwaltungsbehörde jedoch nicht voraussetzungslos eingeräumt worden. Vielmehr ist Voraussetzung für eine Ermessensentscheidung, daß ein "anderer" (als ein in § 7 BVG bezeichneter) und "besonders begründeter" Fall vorliegt. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, unterliegt im gerichtlichen Verfahren der uneingeschränkten rechtlichen Überprüfung (vgl Urteil des 9. Senats des BSG in SozR 3100 § 8 Nr 1).
Wie der 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 27. August 1974 (aaO S 2) ausgeführt hat, ist die der Verwaltungsbehörde durch § 8 Abs 1 BVG erteilte Ermessensermächtigung nicht von zwei selbständigen und gleichgeordneten Voraussetzungen abhängig. Vielmehr wird durch die Worte "in anderen ..., besonders begründeten Fällen" eine einheitliche Voraussetzung festgelegt, deren zweites Glied das erste und allgemeinere näher bestimmt. "Andere" Fälle liegen hiernach stets dann vor, wenn ein Tatbestand des § 7 BVG nicht gegeben ist. Die genaue Abgrenzung dieser "anderen" Fälle bestimmt sich dadurch, daß sie "besonders begründet" sein müssen. Dies wiederum kann nur durch eine Beziehung zum BVG, insbesondere zu seinen Vorschriften über den anspruchsberechtigten Personenkreis (§ 7 BVG), inhaltlich bestimmt und begrenzt werden. Indes ist auch auf diesem Wege zumindest positiv eine abstrakte und generelle, über den Einzelfall hinausgehende Bestimmung und Begrenzung der "besonders begründeten" Fälle nicht möglich. Dem steht einmal entgegen, daß § 8 BVG in seiner rechtssystematischen Zuordnung zu § 7 BVG eine gegenüber dieser generellen Vorschrift bewußt auf den Einzelfall oder allenfalls auf eine Gruppe von Einzelfällen ausgerichtete Ausnahmevorschrift ist; es würde dem Wesen einer einzelfallbezogenen Ausnahmevorschrift widersprechen, den Versuch zu unternehmen, ihren Anwendungsbereich nach generellen Merkmalen positiv abzugrenzen. Zum anderen ist - worauf der 9. Senat in seinem Urteil vom 24. November 1965 (SozR BVG § 8 Nr 1) zu § 8 BVG in seiner ursprünglichen Fassung bereits hingewiesen hat - zu berücksichtigen, daß die Erweiterung des versorgungsberechtigten Personenkreises nach § 8 BVG von vielfältigen Billigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen unter Berücksichtigung auch allgemeiner Gesichtspunkte finanzieller und politischer Art abhängig gemacht werden darf. Dies bezieht sich zwar unmittelbar nur auf die Ausübung des der Verwaltungsbehörde eingeräumten Ermessens, schließt aber darüber hinaus auch die Möglichkeit aus, den Begriff des "besonders begründeten Falles" abstrakt und generell zu definieren. Vielmehr muß und kann die Prüfung und positive Entscheidung, ob ein "besonders begründeter Fall" im Sinne des § 8 Satz 1 BVG als Voraussetzung für eine Ermessensentscheidung vorliegt, ebenso wie durch die Verwaltungsbehörde auch im gerichtlichen Verfahren nur unter Berücksichtigung der individuellen Umstände und speziellen Besonderheiten des konkreten Falles getroffen werden. Nicht ausgeschlossen erscheint es hingegen, den Begriff des "besonders begründeten Falles" über den Einzelfall hinaus negativ zu definieren, dh nach generellen Merkmalen festzulegen, unter welchen Voraussetzungen ein besonders begründeter Fall nicht vorliegen kann.
Dies braucht der Senat im vorliegenden Rechtsstreit jedoch nicht zu entscheiden. Denn es fehlt bereits an ausreichenden Feststellungen für die Entscheidung der Frage, ob ein "anderer" Fall im Sinne des § 8 Satz 1 BVG gegeben ist.
Nach dem Urteil des 9. Senats vom 27. August 1974 (BSG SozR 3100 § 8 Nr 1 S 2 liegen "andere als ... (die) in § 7 BVG bezeichneten" Fälle stets dann vor, wenn ein Tatbestand des § 7 BVG nicht gegeben ist. Diese Ausführungen bedürfen speziell für die Versorgung anderer Kriegsopfer im Sinne des § 7 Abs 1 Nr 3 BVG einer durch den damaligen Rechtsstreit vielleicht nicht veranlaßten Präzisierung und Ergänzung. Durch § 7 Abs 1 Nr 3 BVG sind andere Kriegsopfer - wozu vornehmlich ausländische Staatsangehörige zählen, die nicht zugleich die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen (vgl für den Fall der doppelten Staatsangehörigkeit BSG SozR BVG § 7 Nr 6) und auch nicht deutsche Volkszugehörige sind (BSGE 30, 115, 116; BSG BVBl 1968, 27) - im Vergleich zu Deutschen und deutschen Volkszugehörigen unter zwei einschränkenden Voraussetzungen in den Kreis der nach dem BVG versorgungsberechtigten Personen einbezogen (vgl BSGE 16, 67, 68): Sie müssen einmal ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BVG (Bundesrepublik mit Einschluß des Landes Berlin) haben (im folgenden: Wohnsitzvoraussetzung); zum anderen muß die Schädigung mit einem Dienst im Rahmen der deutschen Wehrmacht oder militärähnlichen Dienst für eine deutsche Organisation in ursächlichem Zusammenhang stehen oder in Deutschland oder in einem zur Zeit der Schädigung von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebiet durch unmittelbare Kriegseinwirkung eingetreten sein (im folgenden: Schädigungsvoraussetzung). Allein danach könnte ein anderer Fall im Sinne des § 8 Satz 1 BVG gegeben sein, wenn alternativ oder kumulativ der ausländische Staatsangehörige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Geltungsbereich des BVG hat (fehlende Wohnsitzvoraussetzung) und/oder die Schädigung nicht mit einer der in § 7 Abs 1 Nr 3 BVG genannten Dienstleistungen in ursächlichem Zusammenhang steht und auch nicht durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung oder zwar durch eine solche, aber nicht in Deutschland oder nicht in einem zur Zeit der Schädigung von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebiet eingetreten ist (fehlende Schädigungsvoraussetzung). Eine solche Schlußfolgerung würde jedoch dem Inhalt und Zweck des § 8 Satz 1 BVG und seiner Stellung im Gesamtgefüge des BVG nicht entsprechen. Allerdings kann bei einem ausländischen Anspruchssteller ein "anderer" Fall im Sinne des § 8 Satz 1 BVG unbedenklich dann angenommen werden, wenn er zwar die Schädigungsvoraussetzung, nicht aber die Wohnsitzvoraussetzung des § 7 Abs 1 Nr 3 BVG erfüllt. Mit anderen Worten: Hat ein ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereiches des BVG, steht aber die Schädigung mit einem Dienst im Rahmen der deutschen Wehrmacht usw in ursächlichem Zusammenhang oder ist sie in Deutschland oder in einem zur Zeit der Schädigung von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebiet durch unmittelbare Kriegseinwirkung eingetreten, so stellt dies einen anderen - wenn auch nicht notwendigerweise besonders begründeten - Fall im Sinne des § 8 Satz 1 BVG dar. Dagegen gilt dies nicht ohne weiteres dann, wenn auch oder nur die Schädigungsvoraussetzung des § 7 Abs 1 Nr 3 BVG nicht erfüllt ist. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß § 8 BVG nur die Erweiterung des zu versorgenden Personenkreises, nicht hingegen die Einbeziehung zusätzlicher Tatbestände in den Schutz des BVG ermögliche (vgl hierzu die spezielle Regelung in § 6 BVG). Dementsprechend ist die im Urteil des 8. Senats des BSG vom 30. Oktober 1969 (BSGE 30, 115, 120) offengebliebene Frage, ob die Anwendung des § 8 BVG auch dann zulässig ist, wenn die Versorgung des Anspruchsstellers nicht an § 7 BVG, sondern daran scheitert, daß keiner der Versorgungstatbestände des § 1 iVm § 2 bis 5 BVG vorliegt, vom 9. Senat in seinem Urteil vom 27. August 1974 (BSG SozR 3100 § 8 Nr 1) sinngemäß dahin beantwortet worden, daß bei denjenigen Ausländern, denen nach § 8 BVG Versorgung gewährt werden kann, ein Versorgungstatbestand im Sinne der §§ 1 bis 5 BVG gegeben sein muß. Der erkennende Senat teilt diese Auffassung mit der Maßgabe, daß auch ein nach § 6 BVG anerkannter Versorgungstatbestand zu berücksichtigen ist. Ebenso wie § 7 Abs 1 Nr 3 BVG nicht einen selbständigen Versorgungsgrund für Ausländer schafft, sondern ihre Versorgung grundsätzlich vom Vorliegen einer der in §§ 1 bis 6 BVG genannten Versorgungstatbestände abhängig macht (BSGE 30, 115, 117), können für die Versorgung von Ausländern die Ermächtigungsnorm des § 8 BVG und speziell der in ihr verwendete Begriff des "anderen Falles" nicht dahin ausgelegt werden, daß darunter jegliche Schädigung ohne Rücksicht darauf, ob sie einen der in §§ 1 bis 5 BVG geregelten oder nach § 6 BVG anerkannten Versorgungstatbestände erfüllt, zu verstehen ist. Vielmehr erschöpft sich insoweit der Regelungsgehalt des § 8 BVG darin, die Verwaltungsbehörde zur Gewährung von Versorgung lediglich in Ausnahme von den in § 7 Abs 1 Nr 3 BVG geregelten Schädigungsvoraussetzungen, im übrigen aber innerhalb der durch §§ 1 bis 6 BVG gezogenen Grenzen zu ermächtigen. Der Begriff des "anderen" Falles im Sinne des § 8 Satz 1 BVG ist in seinem Zusammenhang mit § 7 Abs 1 Nr 3 BVG somit dahin auszulegen, daß ein solcher Fall gegeben ist, wenn einmal der ausländische Staatsangehörige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Geltungsbereich des BVG hat und/oder zum anderen die Schädigung zwar nicht auf einem der speziell in § 7 Abs 1 Nr 3 BVG genannten Ereignisse beruht, wohl aber die Folge eines anderen der in §§ 1 bis 5 BVG geregelten oder nach § 6 BVG anerkannten Versorgungstatbestände ist. Ist ein solcher Versorgungstatbestand nicht gegeben, so liegt ein "anderer" Fall im Sinne des § 8 Satz 1 BVG nicht vor mit der Folge, daß allein deswegen und ohne daß es der weiteren Prüfung bedarf, ob der Fall "besonders begründet" ist, die Voraussetzungen des § 8 Satz 1 BVG für ein Ermessenshandeln der Verwaltungsbehörde fehlen.
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG lassen eine abschließende Entscheidung der Frage, ob die zur Erblindung des Klägers führende Schädigung die Folge eines Versorgungstatbestandes im Sinne der §§ 1 bis 5 BVG oder eines nach § 6 BVG anzuerkennenden Versorgungstatbestandes ist, nicht zu.
Allerdings kommt, nach den Gesamtumständen des Falles, insbesondere unter Berücksichtigung des Lebensalters des Klägers im Zeitpunkt der von ihm behaupteten Schädigung, deren Verursachung durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung, durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse (§ 1 Abs 1 iVm §§ 2 bis 4 BVG) offensichtlich nicht in Betracht. Dasselbe gilt hinsichtlich der durch § 1 Abs 2 Buchst b), c), sowie später: e) und f) BVG gleichgestellten Versorgungstatbestände.
Ebensowenig ist die Schädigung des Klägers durch eine mit allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Strafoder Zwangsmaßnahme, die den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist (§ 1 Abs 2 Buchst d BVG), herbeigeführt worden. Dabei kann dahinstehen, ob die Abgabe des Schusses, der zur Erblindung des Klägers geführt hat, eine Straf- oder Zwangsmaßnahme darstellt. Eine solche Maßnahme hat jedenfalls nicht mit allgemeinen Auflösungserscheinungen in Zusammenhang gestanden. Das Berufungsgericht hat festgestellt (S 15 des Urteils), daß es im September 1942 in Polen noch nicht zu allgemeinen Auflösungserscheinungen gekommen sei. Diese Feststellung ist für den Senat bindend (§ 163 SGG); gegen sie sind zulässige und begründete Revisionsrügen nicht erhoben worden. Soweit die Revision vorbringt, es habe bereits im September 1942 im besetzten Polen erhebliche Widerstände, Gegenmaßnahmen der Polen und eine Untergrundbewegung gegeben, nimmt der Kläger lediglich eine von der Auffassung des LSG abweichende und überdies nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 6, 195, 197) stehende Auslegung des Begriffs der "allgemeinen Auflösungserscheinungen" vor.
Zu prüfen ist jedoch, ob die Schädigung des Klägers auf einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs 2 Buchst a) BVG beruht. Dem Berufungsgericht ist zunächst darin beizupflichten, daß - abgesehen von den Fällen des § 6 BVG - eine unmittelbare Kriegseinwirkung nur dann vorliegt, wenn einer der Tatbestände des § 5 BVG erfüllt ist (BSGE 2, 29, 31 f und 265, 268; 5, 116, 117). Zuzustimmen ist dem LSG ferner darin, daß die Voraussetzungen des § 5 Abs 1 Buchst d) BVG (Schädigung bei Besetzung, Umsiedlung und Verschleppung) und des § 5 Abs 1 Buchst e), Abs 2 BVG (nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge) nicht gegeben sind. Dies wird auch von der Revision nicht in Zweifel gezogen.
Die Abgabe des zur Erblindung des Klägers führenden Schusses kann zunächst nicht als Kampfhandlung oder damit unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahme, insbesondere nicht als Einwirkung von Kampfmitteln im Sinne des § 5 Abs 1 Buchst a) BVG angesehen werden. Durch diese Bestimmung werden zunächst Kampfhandlungen den unmittelbaren Kriegseinwirkungen im Sinne des § 1 Abs 2 Buchst a) BVG zugerechnet und ihnen sodann die damit unmittelbar zusammenhängenden militärischen Maßnahmen gleichgestellt. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 26. April 1960 (BSGE 12, 99, 103 f) ausgeführt hat, wird der Begriff der "Kampfhandlung" nicht dadurch, von wem die Handlung ausgeführt wird, sondern maßgeblich von ihrer Zweckrichtung geprägt. Nicht erforderlich ist, daß kriegerische Handlungen der militärischen Streitkräfte der kriegführenden Staaten stattfinden; vielmehr können zu den Kampfhandlungen auch Handlungen des Gegners gehören, die von nicht den militärischen Streitkräften zugehörigen Organisationen oder Einzelpersonen, wie etwa von nicht organisierten oder autorisierten "Banden" im Zusammenhang mit dem Krieg begangen worden und gegen Zivilpersonen gerichtet gewesen sind. Sie müssen aber darauf abgezielt haben, das Kriegspotential des Gegners zu treffen, insbesondere ihn militärisch zu schwächen. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Nach den insbesondere auf die Zeugenaussagen gestützten Feststellungen des Berufungsgerichts sind die vom Gebäude der Gestapo-Dienststelle aus abgefeuerten Schüsse weder zur Luftabwehr noch zur Abwehr einer anderen gegnerischen Kampfhandlung bestimmt und geeignet gewesen. Da insoweit von der Revision Verfahrensrügen nicht erhoben worden sind, bedarf es keiner weitergehenden Begründung dafür, daß ein Versorgungstatbestand im Sinne des § 5 Abs 1 Buchst a) BVG nicht gegeben ist.
Die zur Erblindung des Klägers führenden Schüsse sind auch nicht Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt war (§ 5 Abs 1 Buchst c BVG). Dies hat das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht verneint. In der Begründung kann ihm hingegen nicht ganz gefolgt werden. Nach seiner Auffassung ist die Gefahr, daß grundlos auf in den Luftschutzgraben Flüchtende geschossen wird, nicht der Flucht eigentümlich. Damit hat es das Aufsuchen des Luftschutzgrabens als "Flucht" im Sinne des § 5 Abs 1 Buchst c) BVG angesehen. Eine Flucht im Sinne des § 5 Abs 1 Buchst c) BVG setzt aber notwendigerweise voraus, daß einmal der Beschädigte seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt verloren oder zumindest faktisch aufgegeben, dh sich von ihm wenigstens zeitweilig räumlich entfernt hat zu dem Zweck und in der Absicht, sich - wenn auch möglicherweise nur vorübergehend - außerhalb des Wohnsitzes usw aufzuhalten (vgl insoweit auch § 1 Abs 1 des Bundesvertriebenengesetzes - BVFG -, jetzt gültig in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. September 1971, BGBl I S 1566). Zum anderen muß der Grund hierfür in dem Zwang durch von außen einwirkende und dem Einfluß des Beschädigten entzogene Umstände und Verhältnisse liegen. Welche Verhältnisse und Umstände insoweit in Betracht kommen, ergibt sich unmittelbar aus § 5 Abs 1 Buchst c) BVG: Die zumindest faktische Aufgabe des Wohnsitzes oder ständigen Aufenthaltes muß ihren Grund in einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr für Leib oder Leben haben. Danach stellt das Aufsuchen des Luftschutzgrabens durch den Kläger keine Flucht dar. Der Kläger hat sich hierdurch von seinem Wohnsitz weder entfernt noch auch nur entfernen wollen. Nach den gesamten Umständen des Falles und mangels entgegenstehender Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, daß er sich lediglich vorübergehend für die Dauer des Luftalarms in den Luftschutzgraben hat begeben wollen oder müssen, um diesen alsbald nach Beendigung des Alarms wieder zu verlassen. Dies erfüllt schon die Tatbestandsmerkmale einer Flucht nicht, so daß es auf die vom LSG erörterte weitere Frage, ob besondere Umstände der Flucht vorgelegen haben, nicht ankommt.
Soweit hingegen das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, die Abgabe des zur Erblindung des Klägers führenden Schusses stelle auch keine behördliche Maßnahme in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung im Sinne des § 5 Abs 1 Buchst b) BVG dar, kann ihm nicht gefolgt werden. Behördliche Maßnahmen in diesem Sinne sind Anordnungen, die sich an einzelne Personen oder einen Teil der Bevölkerung oder an die gesamte Bevölkerung richten, um diese zu einem bestimmten Verhalten, Handeln oder Unterlassen zu veranlassen (BSGE 2, 265, 268; 4, 128, 130, 131). Dazu gehört auch ein Fliegeralarm ohne Rücksicht darauf, ob die erwartete Kampfhandlung (Fliegerangriff) eingetreten ist oder nicht (BSGE 2, 265, 268). Der Schutzbereich des § 5 Abs 1 Buchst b) BVG erfaßt jedoch nicht nur die Schädigungen, die unmittelbar durch die behördliche Maßnahme hervorgerufen worden sind. Vielmehr ist einerseits das gesamte von dem Betroffenen erwartete oder durch die behördliche Maßnahme notwendigerweise bedingte oder gebotene Verhalten versorgungsrechtlich geschützt (BSGE 13, 272, 273; BSG SozR BVG § 5 Nr 22); andererseits gehört zu den behördlichen Maßnahmen auch ein hoheitliches Handeln, das nicht die rechtlichen Merkmale eines im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anfechtbaren Verwaltungsaktes erfüllt (BSGE 29, 261; BSG SozR BVG § 5 Nr 22). Es müssen somit auch tatsächliche Handlungen dazu gerechnet werden, die der Durchsetzung oder Erzwingung der behördlichen Anordnung zu dienen bestimmt oder in sonstiger Weise durch diese veranlaßt worden sind. Dabei ist es unerheblich, ob es sich insoweit um rechtmäßige und zur Zweckerreichung geeignete oder exzessive Maßnahmen handelt. Voraussetzung ist nur, aber auch stets, daß mit ihnen der Zweck verfolgt wird, der behördlichen Maßnahme Wirkung oder Nachdruck zu verleihen.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt (S 13 und 14 des Urteils), infolge Fehlens einer Kampfmaßnahme bleibe nur die Möglichkeit, daß die Schüsse aus bloßem Unmut über das Weinen des Kindes (Klägers), gar vorsätzlich in diese Richtung, oder aus Nervosität, wofür die vom Vater geschilderte Unruhe vor dem Gestapogebäude spreche, fahrlässig erfolgt seien, was nach dem gegebenen Sachverhalt sogar naheliege und keinesfalls ausgeschlossen sei; dann aber liege ein Zusammenhang mit Luftschutzmaßnahmen überhaupt nicht vor; vielmehr sei durch die davon unabhängigen Schüsse von Gestapoangehörigen eine völlig neue Kausalkette in Gang gesetzt worden.
Diese rechtlichen Schlußfolgerungen sind in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend. Denn nach den bisherigen Feststellungen ist es nicht auszuschließen, daß der Unmut über das Weinen des Klägers seine Ursache gerade darin gehabt hat, daß hierdurch jedenfalls nach den subjektiven Vorstellungen der Gestapoangehörigen die Effektivität des angeordneten Luftalarms beeinträchtigt worden ist. Auf S 8 des LSG-Urteils ist ausgeführt worden, "alle seien ruhig gewesen, nur der Kläger habe geweint und sei nicht zu beruhigen gewesen". Daraus könnte entnommen werden, daß den dicht daneben sich aufhaltenden Gestapoangehörigen durch das nicht zu beseitigende Weinen die Möglichkeit genommen worden ist, das Motorengeräuschen etwa herannahender weiterer Flugzeuge rechtzeitig wahrzunehmen. Wenn der abgegebene Schuß das Kind erschrecken und zur Ruhe zwingen sollte, so stünde dies mit dem Luftalarm und dem dabei zu fordernden Verhalten in einem inneren Zusammenhang. Damit würde auch die vom LSG angedeutete Nervosität der Gestapoangehörigen und die daraus etwa resultierende Abgabe der Schüsse erklärbar sein. Die Gestapoangehörigen konnten der Auffassung sein, daß das Verhalten der zum Aufsuchen der Gräben aufgeforderten Zivilpersonen objektiv oder zumindest nach ihrer Meinung nicht situationsgerecht gewesen ist. In diesem Falle müßte entgegen der Ansicht des LSG nach den obigen Rechtsgrundsätzen die Abgabe der Schüsse noch als behördliche Maßnahme im Sinne des § 5 Abs 1 Buchst b) BVG angesehen werden mit der Folge, daß ein "anderer" Fall im Sinne des § 8 Satz 1 BVG vorläge und nunmehr zu prüfen wäre, ob er auch "besonders begründet" ist.
Das Berufungsgericht wird deswegen unter Würdigung der bereits erhobenen oder eventuell zusätzlicher Beweise darüber zu befinden und abzuwägen haben, welcher der von im kumulativ angeführten Gründe nach den gesamten tatsächlichen Umständen für die Abgabe der Schüsse ursächlich gewesen ist. Erst aufgrund dieser ergänzenden Feststellungen, die der Senat nicht nachholen kann, wird entschieden werden können, ob die abgegebenen Schüsse nicht doch der Durchsetzung einer behördlichen Maßnahme dienten und deswegen diesen versorgungsrechtlich geschützten Maßnahmen zuzurechnen sind.
Der Rechtsstreit war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreit einschließlich derjenigen des Revisionsrechtszuges bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen