Leitsatz (amtlich)
1. AFG § 57 Abs 1 meint als reine Kompetenznorm mit "Zuständigkeit" des Rehabilitationsträgers nicht die konkrete Verpflichtung zur Maßnahmengewährung im Einzelfall, sondern die Zuständigkeit für Leistungen überhaupt; ist ein Rentenversicherungsträger für eine Person als Rehabilitationsträger "zuständig", dann schließt AFG § 57 Abs 1 die Gewährung berufsfördernder Maßnahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit an diese Person aus (Fortführung von BSG 1979-03-15 11 RA 36/78 = SozR 2200 § 1236 Nr 15).
2. Hat ein beigeladener Versicherungsträger als Rechtsmittelkläger allein die Aufhebung seiner Verurteilung durch die Vorinstanz beantragt, dann hat das Rechtsmittelgericht, wenn es dem Antrag stattgibt, sich zusätzlich mit der Klage gegen den beklagten Versicherungsträger nur zu befassen, wenn dies Sinn und Zweck der SGG § 75 Abs 5, § 180 gebieten, dh wenn diese Prüfung zur Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen erforderlich ist.
Normenkette
AVG § 13 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1236 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; AFG § 56 Fassung: 1974-08-07, § 57 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07; SGG § 75 Abs. 5 Fassung: 1953-09-03, § 180 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 05.12.1978; Aktenzeichen L 16 An 4/77) |
SG Bayreuth (Entscheidung vom 11.11.1976; Aktenzeichen S 10 An 156/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. Dezember 1978 aufgehoben, soweit die Beigeladene verpflichtet worden ist, den Antrag des Klägers auf Gewährung berufsfördernder Maßnahmen zu bescheiden und dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Vorinstanzen zu erstatten.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Landessozialgericht (LSG) die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit (BA) verurteilen durfte, über den Antrag des Klägers auf Rehabilitationsleistungen einen Bescheid zu erteilen.
Der 1944 geborene Kläger war nach dem Schulabschluß zunächst Student (1 Semester Maschinenbau, 6 Semester Jura) und danach einige Zeit Hotelgehilfe. Von 1971 bis Anfang 1973 wurde er in einem Nervenkrankenhaus ärztlich behandelt. Nach der Entlassung arbeitete er als Empfangschef im väterlichen Hotelbetrieb.
Ende 1974 beantragte der Kläger bei der Beklagten, die sich gegenüber der Beigeladenen als für den Antrag zuständig erklärt hatte, eine Umschulungsförderung zum Beruf des Maschinenbautechnikers. Dies lehnte die Beklagte nach Einholung ärztlicher Gutachten ab (Bescheid vom 22. April 1975, Widerspruchsbescheid vom 18. August 1975). Zwar sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers beeinträchtigt, sie könne durch berufsfördernde Maßnahmen jedoch nicht gebessert werden. Die dagegen gerichtete Klage war erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 11. November 1976).
Auf die Berufung des Klägers hat das LSG die Beigeladene verpflichtet, über den Antrag des Klägers einen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erteilen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 5. Dezember 1978). Die Beklagte habe den Antrag zu Recht nach § 13 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) abgelehnt.
Damit sei die Beigeladene zuständig geworden. Die BA dürfe nach § 57 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) berufsfördernde Maßnahmen zur Rehabilitation zwar nur gewähren, "sofern nicht ein anderer Rehabilitationsträger zuständig" sei. § 57 AFG sei jedoch keine reine Kompetenznorm; er stelle vielmehr auch eine selbständige Anspruchsgrundlage für Leistungen dar. Die Einleitung des Nebensatzes mit "sofern" besage deshalb nur, daß die Leistungssubsidiarität erst eintrete, wenn ein anderer Träger tatsächlich die Leistung erbringe. Auch nach § 13 Abs 3 AVG bleibe die Verpflichtung und Zuständigkeit der BA unberührt; dies sei sinnvoll, da die Beklagte Umschulungsmaßnahmen als Ermessensleistung, die Beigeladene sie jedoch als Pflichtleistung erbringe. Da die Beigeladene hier über den Umschulungsantrag noch nicht entschieden habe, sei sie gemäß § 131 Abs 3 in Verbindung mit § 75 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) lediglich zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu bescheiden.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beigeladene,
das Urteil aufzuheben, soweit es sie zur Bescheiderteilung verpflichtet.
Das LSG habe den Begriff der "Zuständigkeit" in § 57 AFG verkannt; die Zuständigkeit der Beklagten werde durch ihre ablehnende Entscheidung nicht beseitigt. Abgesehen davon seien nach den Feststellungen des LSG Rehabilitationsleistungen an den Kläger nicht erforderlich im Sinne von § 56 Abs 1 AFG. Schließlich könne ein insoweit fehlender Bescheid kein Grund für ein Bescheidungsurteil nach § 131 Abs 3 SGG sein.
Der Kläger und die Beklagte beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision der Beigeladenen ist von Erfolg; auf das Rechtsmittel hin ist das Urteil des LSG insoweit aufzuheben, als es die Beigeladene verpflichtet hat, über den Antrag des Klägers auf Gewährung berufsfördernder Maßnahmen vom 18. Dezember 1974 einen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erteilen.
Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob das Bescheidungsurteil schon aus prozessualen Gründen keinen Bestand haben könnte. Das LSG hat zu Recht ausgeführt, daß der Anspruch auf berufsfördernde Maßnahmen nach §§ 56 ff AFG ein Rechtsanspruch ist. Da es zur Verurteilung eines Beigeladenen nach § 75 Abs 5 SGG keines Verwaltungsaktes dieses Beigeladenen bedarf, hätte das LSG deshalb über einen Leistungsanspruch gegen die Beigeladene selbst entscheiden müssen. Dabei wäre nach dem festgestellten Sachverhalt für das LSG überdies offenbar geworden, daß danach die Voraussetzungen des § 56 AFG gar nicht gegeben sein konnten.
Hierauf braucht der Senat indessen nicht näher einzugehen, denn einer Verurteilung der Beigeladenen zur Gewährung der vom Kläger begehrten Umschulungsförderung - In welcher Form auch immer - steht auf jeden Fall § 57 Abs 1 AFG entgegen. Dies hat der erkennende Senat bereits im Urteil vom 15. März 1979 (11 RA 36/78, zur Veröffentlichung bestimmt) entschieden; der vorliegende Fall gibt keinen Anlaß, davon abzugehen. Nach der Auffassung des Senats handelt es sich bei § 57 Abs 1 AFG entgegen der Meinung des LSG ausschließlich um eine Kompetenznorm. Die BA darf berufsfördernde Maßnahmen zur Rehabilitation danach nur gewähren, sofern nicht ein anderer Rehabilitationsträger im Sinne des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) zuständig ist. Mit "Zuständigkeit" des Rehabilitationsträgers ist dabei nicht dessen konkrete Verpflichtung zur Gewährung der begehrten Maßnahme im Einzelfall gemeint; das Gesetz meint vielmehr die Zuständigkeit für Leistungen überhaupt. Dies folgt aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 57 Abs 1 AFG sowie daraus, daß das der Neuformulierung zugrunde liegende RehaAnglG zwischen der Zuständigkeit (§ 6 Abs 1 RehaAnglG) und den anderen materiellen Leistungsvoraussetzungen (§ 9 Abs 1 RehaAnglG) unterscheidet (so neuerdings auch Gagel/Jülicher, Kommentar zum AFG, Anm 3 zu § 57 mit Hinweis ua auf den im Vergleich zu § 57 Abs 1 anderen Wortlaut des § 37 Abs 1 AFG, in dessen Rahmen tatsächlich erst die gesetzliche Leistungsverpflichtung des anderen Rehabilitationsträgers zum Nachrang der BA führt). Die in § 57 Abs 1 AFG gemeinte Zuständigkeit bestimmt sich nach Merkmalen, die für einen Personenkreis allgemein gelten; dabei können Merkmale einer Person oder Ursachen der Behinderung die maßgebenden Kriterien bilden (siehe hierzu auch Gagel/Jülicher aaO, am Ende). Für die Beklagte ist die Zuständigkeit in § 13 AVG geregelt. Dort ist bestimmt, wer "Versicherter" im Sinne der Rehabilitationsvorschriften des AVG ist; bei diesem Personenkreis ist sie für Rehabilitationsmaßnahmen zuständig, und dies unabhängig davon, ob sie im Einzelfall Leistungen gewährt oder nicht. Dieser Gesetzesauslegung durch den erkennenden Senat steht weder die Rechtsprechung des 7. Senats (BSGE 41, 241, 245; SozR 4100 § 57 Nr 3) entgegen, die zu § 57 AFG idF vor dem RehaAnglG ergangen ist und Fälle einer Leistungsaufstockung betraf, noch die Regelung in § 13 Abs 3 AVG, Wenn nach dieser Vorschrift "Verpflichtung und Zuständigkeit" des anderen Rehabilitationsträgers unberührt bleiben, dann bestätigt das vielmehr, daß das Gesetz beide Begriffe nicht gleichstellt (vgl im übrigen zur Auslegung § 13 Abs 3 AVG im Verhältnis zu § 57 Abs 1 AFG Gagel/Jülicher, Anm 4). Dabei kann eine anderweitige "Zuständigkeit" nur dann "unberührt" bleiben, wenn sie nach anderen Vorschriften überhaupt besteht (zum Begriff "unberührt" im Rahmen des RehaAnglG vgl auch dessen §§ 2 Abs 2; 4 Abs 1 Satz 3; 5 Abs 1 Satz 2); § 57 Abs 1 AFG schließt aber, wie dargetan, eine Zuständigkeit der Beigeladenen für Maßnahmen nach §§ 56 ff AFG aus.
Da der Kläger Versicherter ist im Sinne des § 13 AVG in der hier noch anzuwendenden Fassung des Gesetzes vor dem 1. Juli 1978, ist die Beklagte nach alledem allein der zuständige Rehabilitationsträger; die Verurteilung der Beigeladenen zur Erteilung eines Bescheides nach §§ 56 ff AFG war daher aufzuheben.
In seinem weiteren Inhalt, dh soweit das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen hat, ist das Urteil des LSG vom Senat nicht nachzuprüfen. Zwar hat der Senat in seinem Urteil vom 14. September 1978 - 11 RA 70/77 - im Anschluß an BSGE 9, 67, 69 entschieden, daß das Rechtsmittelgericht auf ein Rechtsmittel des nach § 75 Abs 5 SGG verurteilten Beigeladenen, wenn es den Beklagten für leistungspflichtig hält, nicht nur die Verurteilung des Beigeladenen aufzuheben, sondern auch den beklagten Versicherungsträger zu verurteilen hat. In dem damaligen Falle hatte jedoch die Beigeladene in ihrem Revisionsantrag die Verurteilung der Beklagten entsprechend dem von dem Kläger in den Vorinstanzen gestellten Antrag verlangt; deshalb war dieser Antrag vorrangig, weil die nach § 75 Abs 5 SGG gegebene Möglichkeit der Verurteilung des Beigeladenen nur subsidiär zum Zuge kommen kann; sie muß entfallen, wenn die Klage gegen die Beklagte Erfolg hat. Im vorliegenden Falle hat demgegenüber die Beigeladene nur die Beseitigung ihrer Verurteilung beantragt. Der fehlende Antrag muß allerdings nicht unbedingt ausschließen, daß das Rechtsmittelgericht sich dennoch mit der Klage gegen die Beklagte befaßt (wenn auch erst in zweiter Linie), wenn dies Sinn und Zweck der §§ 75 Abs 5, 180 SGG gebieten. Mit der Verurteilungsmöglichkeit im Rahmen des § 75 SGG wollte der Gesetzgeber aus prozeßökonomischen Gründen die Verurteilung des in Wirklichkeit passivlegitimierten Versicherungsträgers ermöglichen und außerdem auf diese Weise sich später möglicherweise widersprechende Entscheidungen verhindern. Dies sind zum Teil dieselben Gründe, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 180 SGG ermöglichen, wenn widersprechende Bescheide oder Urteile ergangen sind. Dieses - prozeßökonomische - Ziel steht aber gar nicht in Frage, wenn die Klage gegen die Beklagte nicht wegen fehlender Zuständigkeit der Beklagten - und vermeintlicher Zuständigkeit der Beigeladenen -, sondern wegen Fehlens der materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 13 Abs 1 AVG abgewiesen worden ist. Nach dem Sinn und Zweck der §§ 75 Abs 5. 180 SGG ist deshalb hier eine Ausdehnung der Prüfung des Rechtsmittelgerichts auf den von der Beigeladenen nicht angefochtenen Teil des vorinstanzlichen Urteils nicht erforderlich.
Ebensowenig rechtfertigen die vom Kläger unabhängig von diesen Überlegungen vorgetragenen Gründe eine von ihm für tunlich gehaltene Zurückverweisung der Sache an das LSG. Insoweit geht er von falschen Voraussetzungen aus. Die Entscheidung des Senats vom 15. März 1979 war keine "Abkehr von früherer Rechtsprechung", vielmehr die erste Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den §§13 Abs 3 AVG, 57 Abs 1 AFG idF des RehaAnglG. Der Kläger wurde also nicht durch eine Rechtsprechungsänderung überrascht, gegen deren Folgen er für seinen Fall eines Schutzes bedürfte. Im übrigen droht ihm ohne eine Zurückverweisung der Sache kein prozessualer oder sonstiger Nachteil; er verkennt, daß die Beklagte den Antrag auf Rehabilitation schon wegen der fehlenden Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 Abs 1 AVG ablehnen mußte, also zu einer Ermessensausübung gar nicht gekommen ist, und daß das LSG ebenfalls wegen der fehlenden Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 Abs 1 AVG die Klage gegen die Beklagte abgewiesen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen