Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Aufklärungspflicht (hier: Feststellung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit)
Orientierungssatz
Hat das Gericht allein aufgrund des Schweigens von Ärzten, die nicht speziell auf neurologisch-psychiatrischen Gebiet tätig sind, Erkrankungen auf diesem Fachgebiet verneint, obwohl die gesundheitliche Vorgeschichte bei der Klägerin in dieser Richtung einschlägig belastet ist, hätte es sich bei dieser Sachlage gedrängt fühlen müssen, dem Vorbringen der Klägerin, sie leide an einer reaktiven Depression, nachzugehen.
Normenkette
SGG § 103 S 1; RVO §§ 1246-1247
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.10.1988; Aktenzeichen L 2 J 256/87) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 06.05.1987; Aktenzeichen S 8 J 195/86) |
Tatbestand
Die im Jahre 1933 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten Versichertenrente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Einen Beruf hat die Klägerin nicht erlernt. Sie war in der Landwirtschaft und als Fabrikarbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt. Den im Februar 1986 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Mai 1986 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteile vom 6. Mai 1987 und 12. Oktober 1988). Es hat einen Anspruch auf Versichertenrente verneint, weil die Klägerin noch in vollen Schichten leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen verrichten könne.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die gegen das Urteil des LSG eingelegte Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht zu.
Zutreffend hat die Klägerin eine Verletzung des § 103 SGG gerügt. Das LSG hat im angefochtenen Urteil selbst dargelegt, daß jedenfalls in den vor 1986 erstatteten medizinischen Gutachten wiederholt depressive Verstimmungszustände bei der Klägerin beschrieben worden sind. Zur Begründung ihrer Berufung hat die Klägerin ua vorgetragen, sie leide an einer psychischen Erkrankung in Form einer reaktiven Depression. Sie hat beantragt, ein neues ärztliches Gutachten einzuholen. Nachdem das LSG lediglich auf innerfachärztlichem Gebiet eine Begutachtung hatte durchführen lassen, beantragte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 1988, eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung zu der Frage zu veranlassen, ob die früher diagnostizierte Depression noch bestehe. Diesem Antrag hat das Berufungsgericht nicht stattgegeben. Es hat in seinem Urteil ausgeführt, seit 1986 sei von keinem der in diesem Rechtsstreit gehörten Ärzte mehr auf ein depressives Verhalten hingewiesen worden. Demnach sei kein Grund für die Annahme ersichtlich, daß bei der Klägerin seit der Antragstellung im Februar 1986 eine psychische Erkrankung von erwerbsmindernder Bedeutung bestanden habe.
§ 103 SGG verpflichtet das Gericht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Ob das in ausreichendem Maße geschehen ist, muß vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des Berufungsgerichts aus beurteilt werden. Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit hängt davon ab, ob und in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit der Klägerin infolge von Krankheit herabgesunken ist. Davon ist auch das LSG ausgegangen. Es durfte nicht mit der von ihm angegebenen Begründung den Beweisantrag der Klägerin ablehnen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bestimmt das Tatsachengericht im Rahmen seines Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind. Dieses Ermessen wird von der Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang eingegrenzt (vgl BSG in SozR Nr 7 zu § 103 SGG). Das LSG hat im Falle der Klägerin weder gezielt deren Hausarzt nach Erkenntnissen über Erkrankungen auf psychischem oder psychiatrischem Gebiet noch den zum Sachverständigen bestellten Facharzt für innere Medizin nach entsprechenden Anhaltspunkten befragt. Allein aufgrund des Schweigens von Ärzten, die nicht speziell auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet tätig sind, hat es Erkrankungen auf diesem Fachgebiet verneint, obwohl die gesundheitliche Vorgeschichte bei der Klägerin in dieser Richtung einschlägig belastet ist. Bei dieser Sachlage hätte sich das Berufungsgericht gedrängt fühlen müssen, dem Vorbringen der Klägerin, sie leide an einer reaktiven Depression, nachzugehen. Insoweit ist eine fachärztliche Untersuchung weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren durchgeführt worden.
Auf der von der Klägerin zutreffend gerügten Verletzung der Amtsermittlungspflicht kann die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen. Es läßt sich nicht ausschließen, daß bei der gebotenen weiteren Sachaufklärung zusätzlich zu den festgestellten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit sich weitere ergeben hätten, die möglicherweise zumindest zur Berufsunfähigkeit der Klägerin hätten führen können. Die erforderlichen Ermittlungen wird das LSG daher nachzuholen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen