Leitsatz (amtlich)

Auf die Tätigkeit als Magazinarbeiter kann ein Hauer angesichts der bestehenden Arbeitsplatzsituation im westdeutschen Steinkohlebergbau nur verwiesen werden, wenn feststeht, daß er noch eine Chance auf einen solchen Arbeitsplatz hat.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 S. 2; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

SG Dortmund (Entscheidung vom 25.10.1984; Aktenzeichen S 24 Kn 268/83)

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 02.04.1987; Aktenzeichen L 2 Kn 149/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf die Gewährung von Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit oder wegen Berufsunfähigkeit hat. Sozialgericht -SG- (Urteil vom 25. Oktober 1984) und Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 2. April 1987) haben dies verneint.

Der Kläger war ab Sommer 1948 bis zum Juni 1966 in knappschaftlichen Betrieben versicherungspflichtig tätig. Zuletzt arbeitete er ab Januar 1963 als Hauer. Danach war er bis März 1977 außerhalb des Bergbaues als Kranführer, Baggerführer und Transportarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem war er arbeitslos bzw arbeitsunfähig.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des Klägers vom Januar 1983 durch ihren Bescheid vom 26. Mai 1983 ab. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8. August 1983).

Das SG hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat die hiergegen eingelegte Berufung zurückgewiesen. In dem Urteil ist ausgeführt, bei dem Kläger sei von dem Hauptberuf eines Hauers und damit eines Facharbeiters auszugehen. Er habe diese Tätigkeit im Jahre 1966 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Er könne jedoch noch zumutbar auf die Tätigkeit eines Magazinarbeiters in einem Bergwerks-oder Kokereimagazin verwiesen werden. Zur Erledigung dieser Tätigkeit sei er körperlich und geistig gerade noch in der Lage. Es handele sich um Tätigkeiten, bei welchen in beachtlichem Umfange Sorgfalt und Materialkenntnisse vorhanden sein müßten. In der Lohnordnung für die Arbeiter des Rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaues sei sie zusammen mit Anlerntätigkeiten in dieselbe Gruppe eingeordnet. Die erforderlichen Kenntnisse für die Ausübung dieser Tätigkeit könne er innerhalb von drei Monaten erwerben. In Zechen und Kokereien der R. und anderer Bergwerksgesellschaften gebe es zusammen 200 Arbeitsplätze für Magazinarbeiter, welche für den Kläger geeignet seien. Zwar sei davon auszugehen, daß sie "gewiß durch andere Personen" besetzt seien; jedoch reiche die Anzahl der vorhandenen Plätze aus, um anzunehmen, daß nicht die Enge des Arbeitsmarktes, sondern vielmehr die Leistungsbehinderung des Klägers dafür ausschlaggebend sei, daß er praktisch keine Arbeit als Magazinarbeiter finden könne. Als Verwieger 1 könne der Kläger wegen der bei ihm vorhandenen körperlichen und geistigen Leistungseinschränkungen nicht mehr versicherungspflichtig tätig werden. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Nach Auffassung des Klägers kann er nicht auf die Tätigkeit eines Magazinarbeiters verwiesen werden, weil dafür in der Arbeitswelt, wie sie sich tatsächlich darstelle, eine reale Chance zur Verwertung des restlichen Leistungsvermögens nicht bestehe. Die vorhandene von dem LSG unterstellte theoretische Möglichkeit, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erlangen, reiche nicht aus. Es handele sich um Schonarbeitsplätze, welche den noch im Bergbau tätigen Bewerbern offengehalten würden. Im Westdeutschen Steinkohlenbergbau bestehe bereits seit Jahren ein Einstellungsstop. Angesichts seiner verbliebenen Leistungsfähigkeit sei ihm daher der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen. Das angefochtene Urteil weiche im übrigen auch von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. April 1987 und des SG Dortmund vom 25. Oktober 1984 (S 24 Kn 268/83) und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26. März 1983 idF des Widerspruchsbescheides vom 8. August 1983 zu verurteilen, dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, mindestens wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Februar 1983 zu gewähren, hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Überzeugung liegt das Arbeitsmarktrisiko bei Vollzeitarbeitskräften in der Versicherungslast der Arbeitsverwaltung und nicht bei der Rentenversicherung. Im vorliegenden Verfahren seien keine besonderen Umstände ersichtlich, welche ein Abgehen von diesem Grundsatz rechtfertigten. Angesichts der vorhandenen rund 200 Arbeitsplätze als Magazinarbeiter sei dem Kläger der Arbeitsmarkt nicht verschlossen. Es handele sich bei der Tätigkeit des Magazinarbeiters auch nicht um eine Schonarbeit im Sinne der Rechtsprechung des BSG.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht; denn die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Nach § 46 Abs 2 Satz 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt nach Satz 2 der genannten Vorschrift alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besondern Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Das bedeutet, daß der Gesetzgeber dem Versicherten einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht deshalb einräumt, weil er seinen "bisherigen Beruf" aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Vielmehr verlangt das Gesetz, einen im Hinblick auf den bisherigen Beruf zumutbaren beruflichen Abstieg in die Betrachtung einzubeziehen. Im Rahmen der Zumutbarkeit muß der Versicherte sich mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufriedengeben. Zumutbar im Sinne des § 46 Abs 2 Satz 2 RKG ist für den Versicherten auch eine berufsfremde Tätigkeit, wenn sie ihrer Qualität nach dem bisherigen Beruf nicht zu fern steht (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 137 mwN).

Nach dem im Hinblick auf die Verweisungsmöglichkeiten vom BSG entwickelten Mehrstufenschema muß bei dem Beruf eines Facharbeiters, wie hier der Tätigkeit als Hauer, eine Verweisung auf die darunter befindliche Gruppe mit dem Leitberuf des anerkannten Angelernten und auf solche Berufstätigkeiten, die wegen der qualitativen Anforderungen den Anlerntätigkeiten gleichstehen, in Kauf genommen werden (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 152). Zu den anerkannten Anlerntätigkeiten gehört die Tätigkeit als Magazinarbeiter zwar nicht. Wenn das LSG den Kläger dennoch auf diese Tätigkeit verweist, wird aus den tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil erkennbar, daß die Arbeit als Magazinarbeiter Anforderungen stellt, die der beruflichen Qualität einer angelernten Tätigkeit entsprechen, und die der Kläger deshalb als Facharbeiter zumutbar ausüben kann. Das LSG führt im einzelnen aus, daß die Magazinarbeitertätigkeit in einer Gruppe der Lohnordnung aufgeführt ist, in der auch Anlerntätigkeiten ihren Platz haben. Das beruht nicht auf qualitätsfremden Umständen, sondern darauf, daß besondere Sorgfalt und Anforderungen an Kenntnisse über im Bergbau verwendete Materialien gekennzeichnet sind, bei welcher die Anwendung der Grundrechenarten und die Verrichtung einfacherer Schreibarbeiten verlangt wird. Dies rechtfertigt es, den Versicherten mit dem Leitberuf eines Facharbeiters auf diese Tätigkeit zu verweisen; denn entscheidend für die Frage, ob ein Facharbeiter auf eine ungelernte Tätigkeit oder auf eine Anlerntätigkeit zumutbar verwiesen werden kann, sind die Qualitätsmerkmale der Verweisungstätigkeit (BSGE 38, 153, 155; SozR 2200 § 1246 Nr 152).

Obwohl die Tätigkeit eines Magazinarbeiters den geforderten Qualitätsmerkmalen entspricht, hat das LSG nicht ausreichend festgestellt, ob dem Kläger der Arbeitsmarkt insoweit verschlossen ist. Zwar ist ein Versicherter durch die Rentenversicherung nur gegen das Risiko versichert, aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr wie bisher arbeiten zu können. Das Risiko, keinen Arbeitsplatz zu finden, trägt grundsätzlich die Arbeitslosen-, nicht die Rentenversicherung (s zuletzt BSG SozR 2200 § 1246 Nr 139 mwN). Jedoch ist die Frage der Erwerbsfähigkeit in § 46 RKG nicht abstrakt, dh nicht losgelöst von der Wirklichkeit des Arbeitslebens zu betrachten. Dies gilt auch für den Bereich der Vollzeitarbeitsplätze. Danach gelten folgende Grundsätze: Hat der aus gesundheitlichen Gründen Leistungsgeminderte eine reelle, wenn auch schlechte Chance, in einer zumutbaren Verweisungstätigkeit unterzukommen, so ist er arbeitslos. Besteht eine solche auch nur schlechte Chance dagegen nicht mehr, so ist er nicht arbeitslos, sondern berufsunfähig. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann hier nicht entschieden werden, denn bei der Frage, ob überhaupt noch eine Chance für das Unterkommen in dem Verweisungsberuf vorhanden ist, kommt es nicht auf nur theoretische Möglichkeiten an. Entscheidend ist vielmehr, ob die umschriebene schlechte Chance wenigstens tatsächlich noch besteht. Ob dies der Fall ist, läßt sich den Feststellungen in dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Die Rechtsprechung hat zwar mehrfach angenommen, der Arbeitsmarkt sei im allgemeinen nicht verschlossen, wenn die Tätigkeit im Tarifvertrag genannt ist, wie das beim Magazinarbeiter der Fall ist. Gibt es jedoch nur eine unbedeutende Zahl ("vereinzelte") Arbeitsplätze für die im Tarifvertrag genannten Tätigkeiten, ist das Bestehen einer tatsächlichen Verweisungsmöglichkeit zu untersuchen (BSG SozR 2200 § 1247 Nr 33). Das LSG hat festgestellt, daß im westdeutschen Steinkohlenbergbau überhaupt nur noch insgesamt rund 200 Arbeitsplätze für Magazinarbeiter vorhanden sind. Hierbei handelt es sich um eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Arbeitsplätzen. Das LSG hätte daher prüfen müssen, ob für derartige Arbeitsplätze tatsächlich ein Arbeitsmarkt besteht. Dies hängt vor allem von der Beantwortung der Frage ab, wie viele der betreffenden Stellen nur Betriebsangehörigen oder auch solchen Bewerbern offenstehen, die nicht in den betreffenden Betrieben beschäftigt sind und ferner davon, ob sie praktisch besetzt und daher nicht mehr zugänglich sind. Das LSG hat nur festgestellt, daß die 200 Arbeitsplätze "gewiß" durch andere Personen besetzt seien. Sollte dies der Fall sein und eine auch nur schlechte Chance für außenstehende Bewerber, dennoch einen solchen Arbeitsplatz zu erhalten, nicht bestehen, wäre der Kläger nicht arbeitslos, sondern berufsunfähig (vgl BSG SozR 1500 § 62 Nr 24). Allerdings müßte das LSG in diesem Falle prüfen, ob eine Verweisungsmöglichkeit außerhalb des Bergbaus ebenfalls nicht vorhanden ist.

Nach alledem war die Rechtssache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, damit die noch notwendigen Feststellungen getroffen werden. Das LSG wird auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten im Revisionsverfahren zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174584

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