Leitsatz (amtlich)
Wer, um zur Arbeitsstätte (RVO § 543 Abs 1) zu gelangen, seine Wohnung über eine an ein Fenster angestellte Leiter verläßt, weil die Tür nicht geöffnet werden kann, befindet sich auf der Leiter bereits im versicherungsrechtlich geschützten Bereich des Weges zur Arbeitsstätte.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. April 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger bewohnt eine Mietwohnung im ersten Obergeschoß. Als er am 24. Dezember 1955 gegen 6.45 Uhr im Begriff stand, aus seinem Schlafzimmer den Weg zur Arbeitsstätte anzutreten, stellte er fest, daß die Schiebetür ins Schloß geschnappt und von innen nicht zu öffnen war. Es befand sich auch niemand in der Wohnung, der die Tür von außen mittels des dort steckenden Schlüssels hätte öffnen können. Deshalb sah der Kläger sich gezwungen, seine Wohnung über eine von dem Hauseigentümer von der Straße her an das Schlafzimmerfenster gelegte Leiter zu verlassen. Diese war schadhaft. Als der Kläger sie betrat, brach sie zusammen. Der Kläger stürzte auf die Straße und zog sich einen Fersenbeinbruch zu.
Die Entschädigungsansprüche des Klägers lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 14. März 1956 ab, weil ein Wegeunfall im Sinne des § 543 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vorliege. Sie vertrat unter Hinweis auf eine Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA.) vom 25. Mai 1935 (EuM. Bd. 38 S. 4) die Auffassung, der Kläger habe sich im Zeitpunkt des Unfalls noch im - versicherungsrechtlich nicht geschützten - häuslichen Bereich befunden; Versicherungsschutz wäre erst eingetreten, wenn er sich nach Erreichen der Straße oder einer sonstigen auch dritten Personen zugänglichen Stelle in Richtung auf die Arbeitsstätte fortbewegt hätte.
Die hiergegen rechtzeitig erhobene Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht (SG.) Frankfurt hat nach Beiladung der Allgemeinen Ortskrankenkasse H durch Urteil vom 14. Juni 1956 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, dem Kläger wegen des Unfalls vom 24. Dezember 1955 die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Es hat ausgeführt, der Kläger habe den Weg zur Arbeitsstätte in dem Augenblick begonnen, in dem er die Leiter betreten habe.
Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung ist vom Hessischen Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 30. April 1957 mit folgender Begründung zurückgewiesen worden: Der häusliche Bereich ende grundsätzlich an der Außentür des Hauses. Wenn der Versicherte gehindert sei, die Haustür zu benutzen, und deshalb, um rechtzeitig zur Arbeitsstätte zu gelangen, durch das Fenster aussteige, so sei bei der Abgrenzung des häuslichen Bereichs das Fenster der Außentür gleichzusetzen. Jeder Schritt nach Verlassen des Hauses - sei es durch die Tür oder das Fenster - sei versicherungsrechtlich geschützt; denn er stelle ein Fortbewegen auf die Arbeitsstätte dar. Beim Betreten der Leiter wäre der Kläger nur dann nicht versichert gewesen, wenn sein Verhalten auf Spielerei oder Übermut zurückzuführen oder als eine selbst geschaffene Gefahrenlage anzusehen gewesen wäre. Dies treffe jedoch nicht zu. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 29. Mai 1957 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 15. Juni 1957 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Die Revision führt aus: Der Kläger habe auf der Leiter noch nicht unter Versicherungsschutz gestanden, weil er sich in dem Luftraum zwischen dem Obergeschoß und der Erde nicht zur Arbeitsstätte habe hinbewegen können. Versichert wäre er - wie das RVA. in EuM. Bd. 38 S. 4 entschieden habe - erst von dem Augenblick an gewesen, in dem er auf der öffentlichen Straße angelangt gewesen wäre. Auch wenn er die Haustür benutzt hätte und auf der Außentreppe verunglückt wäre, hätte er ebensowenig unter Versicherungsschutz gestanden wie bei einem Unfall innerhalb des Hauses. Was für die Außentreppe gelte, müsse auch für eine an das Haus gestellte Leiter gelten.
Die Beklagte beantragt,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf die Urteile der Vorinstanzen und führt weiter aus: Er habe in einer Notstandssituation seine Wohnung durch das Fenster verlassen müssen. In einem solchen Falle müsse die nach der Verkehrsanschauung vorzunehmende Abgrenzung des versicherten von dem nicht versicherten Gefahrenbereich zu dem Ergebnis führen, daß der Kläger sich auf der Leiter nicht mehr im häuslichen Bereich befunden habe. Da es einen Zwischenbereich nicht gebe, müsse er auf dem unter Versicherungsschutz stehenden Wege zur Arbeitsstätte gewesen sein.
Die Beigeladene schließt sich dem Antrag und den Ausführungen des Klägers an.
II
Die kraft Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Das LSG. hat zutreffend angenommen, daß der Kläger sich im Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr im versicherungsrechtlich ungeschützten häuslichen Bereich, sondern auf einem mit seiner beruflichen Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach der Arbeitsstätte befand und deshalb versichert war (§ 543 Abs. 1 Satz 1 RVO).
Der erkennende Senat hat in dem in BSG. 2 S. 239 veröffentlichten Urteil vom 13. März 1956 unter eingehender Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des RVA. und in Übereinstimmung mit der seit 1945 herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum ausgeführt, der versicherungsrechtlich geschützte Weg nach der Arbeitsstätte, der von der Wohnung aus angetreten werde, beginne mit dem Verlassen des bei Mehrfamilienhäusern im allgemeinen durch die Außenhaustür begrenzten häuslichen Bereichs. Bei dieser Grenzziehung war von entscheidender Bedeutung, daß einerseits die Rechtssicherheit eine Festlegung des Begriffs "häuslicher Bereich" nach objektiven Merkmalen erfordert und andererseits die größere Einwirkungsmöglichkeit der Hausbewohner auf die innerhalb des Hauses liegenden Räumlichkeiten und ihre Gefahren deren Ausschluß aus dem versicherten Bereich rechtfertigt. Überträgt man diese Erwägungen auf den vorliegenden Fall, in dem das Haus nicht durch die Außentür, sondern durch ein Fenster im ersten Obergeschoß verlassen wurde, so gelangt man mit dem LSG. zu dem Ergebnis, daß die der Haustür vergleichbare Grenze des häuslichen Bereichs mit dem Verlassen des Schlafzimmerfensters überschritten war. Das Betreten der Leiter gehörte bereits zum Wege nach der Arbeitsstätte. Die Auffassung der Revision, der Kläger habe im Luftraum zwischen dem Obergeschoß und der Erde keinen Weg zurücklegen können, trifft nicht zu. Es ist allgemein anerkannt, daß als Weg im Sinne des § 543 Abs. 1 RVO jedes Sichfortbewegen nach oder von der Arbeitsstätte anzusehen ist (vgl. RVA., EuM. 29 S. 228; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II S. 484). In der Benutzung der Leiter lag also bereits ein Teil des Weges. Unrichtig ist auch die von der Revision zur weiteren Stützung ihres Standpunktes vorgebrachte Erwägung, der Kläger wäre auch, wenn er die Haustür benutzt hätte und auf der Außentreppe verunglückt wäre, nicht versichert gewesen; er hätte vielmehr die Straße erreicht haben müssen. Diese Meinung entspricht weder der angeführten Entscheidung des erkennenden Senats vom 13. März 1956 noch derjenigen des RVA. (EuM. 38 S. 4), auf die sich die Revision beruft. Auf der Außentreppe oder einer vorübergehend anstelle einer reparaturbedürftigen Treppe aufgestellten Leiter zum Erdgeschoß hätte der Kläger den häuslichen Bereich bereits verlassen gehabt und unter Versicherungsschutz gestanden. Es ist kein Grund ersichtlich, dasselbe nicht auch für eine an ein Fenster des ersten Obergeschosses gestellte Leiter gelten zu lassen.
Daß das Begehen der Leiter mit der vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfaßten Arbeitstätigkeit des Klägers im Zusammenhang stand, wird von der Revision nicht in Zweifel gezogen und unterliegt auch keinen rechtlichen Bedenken. Nach den vom LSG. getroffenen, das Bundessozialgericht (BSG.) bindenden Feststellungen hat der Kläger seine Wohnung gegen 6.45 Uhr aus dem Schlafzimmer über eine Leiter verlassen, um sich zu seiner Arbeitsstätte zu begeben. Die Notwendigkeit, die Leiter sofort und noch während der gefahrerhöhenden Dunkelheit zu benutzen, war ein Ausfluß der Berufsarbeit. Der gewählte Weg lag auch nicht außerhalb jeder durch die Vernunft gebotenen Überlegung, so daß das LSG. mit Recht den Versicherungsschutz nicht aus dem Gesichtspunkt der Spielerei oder des Übermutes oder einem ähnlichen rechtlichen Grund als ausgeschlossen erachtet hat.
Die von der Beklagten angeführte Entscheidung des RVA., EuM. Bd. 36 S. 439 vermag die Revision ebenfalls nicht zu stützen. In dem dort entschiedenen Falle hatte ein von der Arbeit heimkehrendes Lehrmädchen bei dem Versuch, über den Küchenbalkon in die elterliche Wohnung zu gelangen, einen Unfall erlitten. Dabei hatte sich nicht klären lassen, ob die Versicherte den Weg über den Balkon gewählt hatte, weil ihr auf Klopfen nicht geöffnet worden war, weil sie ihre Eltern hatte überraschen oder weil sie ihre turnerische Gewandtheit hatte erweisen wollen. Da somit nicht feststeht, ob in diesem Falle die Wahl des Weges über den Balkon durch die versicherte Tätigkeit bedingt war, bedurfte es keiner weiteren Auseinandersetzung mit der angeführten, den Versicherungsschutz versagenden Entscheidung, insbesondere nicht der Prüfung, ob das Einsteigen durch das Fenster einer verschlossen Wohnung noch dem versicherten Weg von der Arbeitsstätte zuzurechnen ist.
Hiernach war die Revision als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen