Leitsatz (amtlich)

Hat die Versorgungsverwaltung ein Leiden als Schädigungsfolge festgestellt (anerkannt) und wegen dieses Leidens Rente bewilligt, so liegt eine "wesentliche Änderung der Verhältnisse" (BVG § 62 Abs 1) nicht vor, wenn zwar Einzelbefunde oder Äußerungsformen des Leidens gewechselt haben, nicht aber das Ausmaß der Beeinträchtigung im ganzen; dabei kommt es auf den Bewertungsmaßstab an, den die Versorgungsbehörde früher zugrunde gelegt hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wird eine Gesundheitsstörung zusätzlich anerkannt, so darf der Bescheid, der die bisherigen Schädigungsfolgen feststellte, nicht zurückgenommen werden.

2. Wenn bei einem Leiden lediglich Einzelbefunde oder Äußerungsformen des Leidens gewechselt haben, der "Leidenszustand" im ganzen aber der gleiche geblieben ist, weil sich das Ausmaß der Beeinträchtigung nach dem von der Versorgungsverwaltung früher selbst zugrunde gelegten Bewertungsmaßstab nicht geändert hat, liegt keine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 Abs 1 vor.

Die Versorgungsverwaltung darf bei einem solchen Sachverhalt zwar die Leidensbezeichnung im einzelnen ändern, es darf der Einzelbefund, der nicht mehr vorliegt, "weggelassen" und es darf, wenn dies medizinisch geboten ist, Eine neu hinzugekommene Leidensäußerung in dem Bescheid aufgenommen werden; die Versorgungsverwaltung darf aber nicht nach BVG § 62 Abs 1 den bindend gewordenen Bescheid zurücknehmen und über den Sachverhalt im ganzen neu entscheiden.

Auch wenn ein "neues Leiden" hinzukommt, das Schädigungsfolge ist, kann dies nicht dazu führen, daß der Bescheid, soweit er den bisherigen Leidenszustand als Schädigungsfolge festgestellt hat, zurückgenommen wird.

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Januar 1960 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Hessen - KB-Abteilung - bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 30. Juni 1948 eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 50 v. H.; sie erkannte als Leistungsgrund an: "Zustand nach stumpfer Hüftverletzung mit teilweiser Bewegungseinschränkung und Rollhöckerhochstand. Schnappende Hüfte. Starke Verschmächtigung der Muskulatur des linken Beines. Reizlose Streifschußnarbe unter rechtem Knie und Steckschußnarben hinter innerem rechten und linken Knöchel. Zustand nach knöchern fest verheiltem Schienbeinbruch links mit geringer Unterschenkelverkürzung". Dem Bescheid lag die versorgungsärztliche Untersuchung des Klägers vom 8. Juni 1948 zugrunde.

Das Versorgungsamt (VersorgA.) M stellte mit Bescheid vom 18. Januar 1952 die Versorgungsbezüge des Klägers nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) fest (Umanerkennung); es übernahm die Schädigungsfolgen und den Grad der MdE. aus dem Bescheid vom 30. Juni 1948.

Bei einer ärztlichen Nachuntersuchung im Februar 1955 nahm der Vertragsarzt Dr. W eine wesentliche Änderung gegenüber dem Befund vom Juni 1948 an; das linke Bein im Hüftgelenk sei nicht mehr um 20 Grad adduziert, sondern stehe in Normalstellung; er schätzte die MdE. auf 40 v. H. Das VersorgA. M stellte darauf mit Bescheid vom 15. Februar 1955 die Rente des Klägers neu fest, weil die Verhältnisse sich wesentlich geändert hätten (§ 62 Abs. 1 BVG); es bewilligte dem Kläger vom 1. April 1955 an nur noch Rente nach einer MdE. um 40 v. H. Das Landesversorgungsamt wies den Widerspruch mit Bescheid vom 29. April 1955 zurück. Das Sozialgericht (SG.) Marburg hob durch Urteil vom 1. Oktober 1956 die Bescheide der Versorgungsbehörden vom 15. Februar 1955 und vom 29. April 1955 auf und verurteilte den Beklagten, dem Kläger über den 1. April 1955 hinaus Rente nach einer MdE. von 50 v. H. zu gewähren.

Der Beklagte legte Berufung beim Hessischen Landessozialgericht (LSG.) ein. Das LSG. holte ein Gutachten von Ärzten der Orthopädischen Universitätsklinik F ein. Die Ärzte vertraten die Auffassung, die Verhältnisse hätten sich gegenüber dem Befund vom Juni 1948 nicht gebessert; zwar sei die Adduktionskontraktur nicht mehr festzustellen, dafür sei aber eine Beugekontraktur der linken Hüfte hinzugekommen.

Das LSG. wies mit Urteil vom 26. Januar 1960 die Berufung des Beklagten zurück. Es führte aus, die Verhältnisse hätten sich nicht wesentlich geändert; die weggefallene und die neu hinzugetretene Gesundheitsstörung, die beide Auswirkungen des anerkannten Hüftleidens seien, hätten sich, wie aus dem Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik zu entnehmen sei, ausgeglichen; im "Endergebnis" sei danach der "Gesamtbefund" der gleiche geblieben; das anerkannte Leiden habe sich nicht wesentlich gebessert; der Beklagte sei daher nicht berechtigt gewesen, die Rente des Klägers nach § 62 Abs. 1 BVG herabzusetzen, selbst wenn eine Gesamt-MdE. von nur 40 v. H. "objektiv richtig" gewesen sei. Das LSG. ließ die Revision zu.

Das Urteil wurde dem Beklagten am 18. Februar 1960 zugestellt. Der Beklagte legte am 15. März 1960 Revision ein und beantragte,

das Urteil des Hessischen LSG. vom 26. Januar 1960 und das Urteil des SG. vom 1. Oktober 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG. aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Der Beklagte begründete die Revision am 13. April 1960. Er führte aus, das LSG. habe § 62 BVG unrichtig angewandt; es habe zu Unrecht verneint, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne dieser Vorschrift vorgelegen habe; da sich das bisher "anerkannte" Leiden des Klägers gebessert habe und ein anderes Leiden hinzugetreten sei, habe das VersorgA. die Gesamt-MdE. nach den nunmehr vorliegenden Verhältnissen neu bewerten und die Rente neu feststellen dürfen.

Der Kläger beantragte,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Der Beklagte hat die Revision auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist sonach zulässig; sie ist aber unbegründet.

Streitig ist, ob der Bescheid vom 15. Februar 1955, in dem der Beklagte die Rente des Klägers nach § 62 Abs. 1 BVG "neu festgestellt" und dabei eine MdE. von 40 v. H. (statt der bisherigen MdE. von 50 v. H.) zugrunde gelegt hat, rechtmäßig ist. Das LSG. hat dies zu Recht verneint.

Das LSG. hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, die Adduktionsstellung des linken Beines des Klägers sei weggefallen, eine Beugekontraktur der linken Hüfte sei hinzugekommen; beide Gesundheitsstörungen seien Auswirkungen des als Schädigungsfolge anerkannten Hüftleidens; sie seien gleich zu werten. Der Beklagte hat gegen diese tatsächlichen Feststellungen keine Revisionsgründe vorgebracht; diese Feststellungen sind daher für das Bundessozialgericht (BSG.) bindend (§ 163 SGG).

Das LSG. hat diesen Sachverhalt im Ergebnis rechtlich zutreffend gewürdigt, wenn es angenommen hat, die Verhältnisse hätten sich nicht wesentlich geändert im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG. Zwar haben sich die Auswirkungen des Leidens, wie es der Beklagte als Schädigungsfolge festgestellt (anerkannt) und bewertet hat, insofern geändert, als ein Einzelbefund oder eine der Äußerungsformen des Leidens weggefallen ist und ein anderer Einzelbefund von unstreitig gleichem "Krankheitswert" hinzugekommen ist; der Leidenszustand des Klägers hat sich aber dadurch nicht gebessert. Nicht jede Änderung der tatsächlichen Umstände, die für die frühere Feststellung der Rente maßgebend gewesen ist, ist eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG. Wenn bei einem Leiden lediglich Einzelbefunde oder Äußerungsformen des Leidens gewechselt haben, der "Leidenszustand" im ganzen aber der gleiche geblieben ist, weil sich das Ausmaß der Beeinträchtigung nach dem von der Versorgungsverwaltung früher selbst zugrunde gelegten Bewertungsmaßstab nicht geändert hat, liegt keine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG vor. Der Bescheid, mit dem die Versorgungsbehörde diesen Leidenszustand im ganzen als Schädigungsfolge festgestellt und Rente bewilligt hat, ist dadurch nicht "nachträglich rechtswidrig geworden". Die Versorgungsverwaltung darf bei einem solchen Sachverhalt zwar die Leidensbezeichnung im Einzelnen ändern, es darf der Einzelbefund, der nicht mehr vorliegt, "weggelassen" und es darf, wenn dies medizinisch geboten ist, eine neu hinzugekommene Leidensäußerung in dem Bescheid aufgenommen werden; die Versorgungsverwaltung darf aber nicht nach § 62 Abs. 1 BVG den bindend gewordenen Bescheid zurücknehmen und über den Sachverhalt im ganzen neu entscheiden. Auch wenn ein "neues Leiden" hinzukommt, das Schädigungsfolge ist, kann dies nicht dazu führen, daß der Bescheid, soweit er den bisherigen Leidenszustand als Schädigungsfolge festgestellt hat, zurückgenommen wird. Im vorliegenden Falle ist indessen kein "neues Leiden" hinzugekommen; bei der Beugekontraktur des Hüftgelenks hat es sich nur um eine Auswirkung des anerkannten Hüftleidens gehandelt, diese Gesundheitsstörung ist nicht neu, sondern bereits als Schädigungsfolge erfaßt gewesen. Der Beklagte beruft sich auch zu Unrecht auf zwei Entscheidungen des Reichsversorgungsgerichts (Bd. 3 S. 183 und Bd. 5 S. 24); beide Entscheidungen betreffen nicht den hier vorliegenden Fall, daß es zu Änderungen in den Auswirkungen eines anerkannten Leidens gekommen ist, daß diese Änderungen sich in ihrem Krankheitswert ausgeglichen haben und daß deshalb keine Besserung des anerkannten Leidens eingetreten ist; sie behandeln im übrigen nur die Frage, wie die Versorgungsbehörde bei der Neufeststellung der Rente zu verfahren hat, wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse zu bejahen ist; im vorliegenden Fall haben sich aber die Verhältnisse nicht wesentlich geändert. Wenn die Versorgungsverwaltung der Meinung ist, der gesamte Leidenszustand sei früher unrichtig bewertet, die Rente zu hoch festgestellt worden, der Bescheid sei also "von Anfang an rechtswidrig" gewesen, so darf sie diesen Bescheid nur zurücknehmen, wenn die besonderen Voraussetzungen des § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) vorliegen; diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben (vgl. auch Urteil des BSG. vom 15.12.1960 - 11 RV 48/60).

Das LSG. hat danach die Berufung des Beklagten zu Recht zurückgewiesen; das SG. hat zu Recht den angefochtenen Bescheid aufgehoben.

Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 230

NJW 1961, 988

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