Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit. Wiedererkrankung. Neufeststellung
Orientierungssatz
1. Bildet eine im Jahre 1961 aufgetretene Lungentuberkulose mit einer gleichen Erkrankung von 1950 ein einheitliches Krankengeschehen, so ist der für die neue Rentengewährung festzusetzende JAV nicht nach dem Einkommen zu berechnen, welches die Klägerin im Jahre vor ihrer erneuten Erkrankung erzielt hatte, sondern von dem Betrag bestimmt wird, der für den der Rentenfeststellung im Jahre 1950 zugrundeliegenden JAV maßgebend war.
2. Bei der aufgrund der Verschlechterung des Leidens erforderlichen Neufeststellung der Rente ist von dem 1950 zu Grunde gelegten JAV auszugehen, auch wenn dieser wegen untertariflicher Bezahlung zu niedrig festgesetzt war.
Normenkette
RVO § 627 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 08.04.1965) |
SG Bremen (Entscheidung vom 14.12.1962) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 8. April 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin war seit dem 1. Januar 1949 als Krankenhausärztin tätig. Bis Ende Juni 1949 arbeitete sie als ärztliche Gastassistentin bei einer monatlichen Barvergütung von 186,- DM, anschließend bis Ende September 1949 als Assistenzärztin bei einem Monatsgehalt von rund 394,- DM. In diesem Betrag war der Geldwert von Sachbezügen enthalten. In der Folgezeit bis Ende Januar 1950 war die Kläger nicht berufstätig. Vom 1. Februar 1950 an tat sie wieder Dienst als Assistenzärztin und erhielt ein monatliches Bruttogehalt von 200,- DM. Bei ihrer ärztlichen Tätigkeit zog sie sich eine Lungentuberkulose ( LTbc ) zu. Die Erkrankung wurde im August 1950 festgestellt.
Die beklagte Berufsgenossenschaft gewährte der Klägerin aus Anlaß ihrer Erkrankung durch Bescheid vom 21. Dezember 1950 eine vorläufige Rente, zunächst in Höhe der Vollrente und vom 1. Januar 1951 an nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. Der Rente wurde ein Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 3.383,20 DM zugrundegelegt. Dieser Betrag errechnete sich nach dem Zwölffachen des monatlichen Durchschnittsverdienstes der Klägerin in der Zeit vor dem Beginn der Erkrankung (§ 563 der Reichsversicherungsordnung idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungsneuregelungsgesetzes - UVNG - vom 30. April 1963 - RVO aF -).
Nach Ausheilung der Erkrankung stellte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Oktober 1952 die Rentenzahlung ein und lehnte gleichzeitig die Gewährung einer Dauerrente ab.
Im Jahre 1957 traten bei der Klägerin wieder leichte Erscheinungen der LTbc auf; zwei Jahre später kam es zu einem frischen Infiltrat, und im Mai 1961 wurde ein aktiver Prozeß im rechten Lungenoberfeld festgestellt.
Der als Sachverständiger gehörte Lungenfacharzt Dr. F äußerte sich dahin, daß der produktive Charakter der Erkrankung, die relative Gutartigkeit des Leidens, die leichten Reaktivierungen in den Jahren 1952, 1957 und 1959 als Brückensymptome für das Wiederaufflackern der alten LTbc zu betrachten seien; vor allem spreche für das Wiederaufleben der im August 1950 aufgetretenen LTbc die Lokalisation der Erkrankung in dem schon damals befallenen Bereich der Lunge.
Die Beklagte gewährte durch Bescheid vom 9. Oktober 1961 der Klägerin vom Tage der Wiedererkrankung, dem 29. Mai 1961, an die Vollrente und vom 1. September 1961 an eine Teilrente von 50 v. H. der Vollrente. In diesem Bescheid ist als Krankheitsfolge ein "aktives, produktives in Rückbildung befindliches Nachschubinfiltrat im rechten Lungenobergeschoß" bezeichnet. Der Rente wurde wie im Bescheid vom 21. Dezember 1950 ein JAV von 3.383,20 DM zugrundegelegt, der unter Berücksichtigung der Gesetze zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) vom 27. Juli 1957 und vom 29. Dezember 1960 auf 5.988,27 DM erhöht worden war.
Die Klägerin hat diesen Bescheid nur wegen der Festsetzung des JAV angefochten. Sie ist der Ansicht, es handele sich um eine neue selbständige Erkrankung und damit um einen neuen Versicherungsfall, der es erforderlich mache, als JAV das Einkommen zu berücksichtigen, welches sie im Jahre vor der Neuerkrankung gehabt habe. Außerdem hat die Klägerin geltend gemacht, daß schon das bei der Ermittlung des JAV im Jahre 1950 berücksichtigte Einkommen nicht ihrer damaligen verantwortungsvollen ärztlichen Tätigkeit entsprochen habe.
Die Rente ist durch Bescheid vom 12. Juli 1962 auf 20 v. H. der Vollrente herabgesetzt worden, weil der tuberkulöse Prozeß sich zurückgebildet habe.
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat durch Urteil vom 14. Dezember 1962 die Klage abgewiesen. Es hat angenommen, daß es sich bei der im Streit befindlichen Rentengewährung um die Neufeststellung einer Dauerrente nach § 608 RVO aF handele, daß davon jedoch nicht die Festsetzung des JAV betroffen werde, weil insoweit keine Änderung der Verhältnisse im Sinne der angeführten Vorschrift eingetreten sei.
Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt und zur Begründung geltend gemacht: Bei der Festsetzung des JAV im Jahre 1950 sei nicht beachtet worden, daß ihr das Tarifgehalt nach der Vergütungsgruppe III TO A zugestanden habe. Sie sei untertariflich bezahlt worden. Nach diesem geringeren effektiven Verdienst hätte der JAV nicht berechnet werden dürfen.
Durch Bescheid vom 11. Juli 1963 ist die Rente entzogen worden, weil die Erkrankung inzwischen ausgeheilt war.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 8. April 1965 die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Bei der Reaktivierung der LTbc habe es sich wahrscheinlich um ein Wiederaufflackern des alten Tbc-Herdes und damit um ein einheitliches Krankheitsgeschehen gehandelt. Es sei daher der ursächliche Zusammenhang der Wiedererkrankung mit der anerkannten, seit dem 17. August 1950 bestehenden Berufskrankheit (BK) zu bejahen. Ein neuer Versicherungsfall sei schon deshalb nicht anzunehmen, weil die jetzige Erkrankung nicht auf einer neuen beruflichen Schädigung beruhe. Demzufolge sei bei der neuerlichen Entschädigungsgewährung von der BK auszugehen, welche schon die Grundlage für die in dem rechtskräftigen Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 1950 festgestellte Entschädigung gebildet habe. Die Beklagte habe zu Recht den früher festgestellten JAV auch der neuen Rentenberechnung zugrundegelegt. Ein höherer JAV komme unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht. Selbst wenn bei der Rentenbewilligung im Jahre 1950 ein geringerer Arbeitsverdienst der Klägerin berücksichtigt worden wäre, als ihr tariflich zugestanden habe, dürfe der höhere Betrag jetzt nicht maßgebend sein; denn an der Rechtskraft des Bescheides vom 21. Dezember 1950 nehme auch die damalige Feststellung des JAV teil. Insoweit handele es sich nicht um einen Grund der Rentenberechnung, sondern um den Betrag der ermittelten Rentenhöhe. Ein gesetzlicher Grund dafür, daß trotz dieser Bindungswirkung die neue Rente nach einer tariflich höheren Vergütung zu berechnen sei, bestehe nicht. Ein Anwendungsfall des § 1744 RVO sei nicht gegeben. Die Beklagte sei auch nicht nach § 627 RVO idF des UVNG verpflichtet, eine Neufeststellung der Leistung vorzunehmen, zumal da die Klägerin den Anspruch auf ein höheres Tarifgehalt nicht arbeitsgerichtlich geltend gemacht habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Klägerin am 7. Mai 1965 zugestellt worden. Sie hat durch ihren Prozeßbevollmächtigten gegen dieses Urteil am 5. Juni 1965 Revision eingelegt und diese am 2. Juli 1965 begründet. Die Klägerin macht unter Wiederholung ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz geltend, daß es zur Verwirklichung der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit gemäß Art. 20 des Grundgesetzes (GG) geboten sei, die Beklagte auf Grund des § 627 RVO zu verpflichten, den JAV nach einem Verdienst zu ermitteln, der sich aus den für Assistenzärzte im Jahre 1950 maßgebenden Sätzen der Vergütungsgruppe III TO A ergäbe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet im wesentlichen den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft, auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie genügt insbesondere den Erfordernissen des § 166 SGG. Die Klägerin wird im Revisionsverfahren durch den Beauftragten des Marburger Bundes - Verband der angestellten Ärzte Deutschlands - Dr. S vertreten. Dieser Verband ist, wie in dem Urteil des erkennenden Senats vom 13. Dezember 1960 - 2 RU 34/58 - (Breith. 1961,516) festgestellt ist, eine selbständige Arbeitnehmervereinigung im Sinne des § 166 Abs. 2 SGG. Dr. S ist, wie sich aus den dem Senat vorliegenden Unterlagen des Marburger Bundes ergibt, zur Prozeßvertretung vor dem Bundessozialgericht (BSG) befugt. Die Revision ist somit zulässig. Sie hatte aber keinen Erfolg.
Bei einer zugelassenen Revision ist zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob sämtliche Voraussetzungen gegeben sind, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als ganzes abhängt. Hierzu gehört die Zulässigkeit der Berufung (BSG 1, 227, 230; 2, 225, 245). Das LSG hat zu Recht angenommen, daß die Berufung nicht ausgeschlossen sei. Bedenken hiergegen ergeben sich nicht daraus, daß die Rente, welche die Klägerin im Zeitpunkt der Einlegung ihrer Berufung für eine unbegrenzte Zeit beanspruchte, im Berufungsverfahren entzogen wurde und die Klägerin, wie ihrem Berufungsbegehren eindeutig zu entnehmen ist, sich mit dieser Rentenentziehung einverstanden erklärte. Die Klägerin hat ihren ursprünglich gestellten Berufungsantrag nicht willkürlich eingeschränkt; deshalb ist es, obwohl die Berufung nunmehr den Rentenanspruch für einen abgelaufenen Zeitraum betrifft, bei der Zulässigkeit des Rechtsmittels verblieben (vgl. SozR Nr. 6, 8 und 9 zu dem der Regelung des § 145 Nr. 2 SGG entsprechenden § 146 SGG). Ebensowenig wie die Berufung nach § 145 Nr. 2 SGG ausgeschlossen ist, ist dies auf Grund des § 145 Nr. 4 SGG der Fall; hinsichtlich des allein im Streit befindlichen JAV wird keine Änderung der Verhältnisse im Sinne dieser Vorschrift, sondern eine unrichtige Berechnung des JAV von Anfang an behauptet (vgl. BSG 10, 282, 284).
Das LSG hat zunächst mit Recht verneint, daß die im Jahre 1961 vorübergehend zur Rentengewährung führende LTbc der Klägerin einen selbständigen Versicherungsfall darstellte. Dieser Auffassung liegt in tatsächlicher Beziehung die von der Revision nicht angegriffene Feststellung zugrunde, die Erkrankung habe mit der bereits im Jahre 1950 aufgetretenen und von der Beklagten als BK entschädigten LTbc der Klägerin ein einheitliches Krankheitsgeschehen gebildet. Demzufolge hat das LSG auch zu Recht entschieden, daß der für die neue Rentengewährung festzusetzende JAV nicht nach dem Einkommen zu berechnen ist, welches die Klägerin im Jahre vor ihrer erneuten Erkrankung erzielt hatte, sondern von dem Betrag bestimmt wird, der für den der Rentenfeststellung im Jahre 1950 zugrundeliegenden JAV maßgebend war. Hiergegen wendet sich die Revision nur insoweit, als das LSG die Auffassung vertritt der JAV sei wie bisher nach dem Verdienst zu berechnen, den die Klägerin im Jahre vor dem erstmaligen Auftreten ihrer LTbc erzielt hatte, und nicht nach dem höheren tarifmäßigen Gehalt, das ihr damals als Assistenzärztin zugestanden habe.
Der erkennende Senat sieht jedoch in Übereinstimmung mit dem LSG keine rechtliche Möglichkeit, den JAV unter Zugrundelegung des damaligen Tarifgehalts festzusetzen. Bei der durch den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 1961 gewährten Rente handelt es sich um die Wiedergewährung der auf Grund des rechtskräftigen Bescheides vom 21. Dezember 1950 (§§ 1583, 1590 RVO) gewährten Rente, die bis zu der ebenfalls rechtskräftig gewordenen Ablehnung der Dauerrente geleistet worden war (Bescheid vom 27. Oktober 1952). Für die hiermit erfolgte Neufeststellung der Rente sind die Voraussetzungen des § 608 RVO aF gegeben; denn in den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin, die für die frühere Rentenfeststellung maßgebend gewesen waren, war im Mai 1961 eine wesentliche Verschlechterung eingetreten. Gleiches trifft jedoch nicht auch für eine Neufestsetzung des JAV zu; denn eine Änderung derjenigen Verhältnisse, welche für die Festsetzung des JAV im Jahre 1950 maßgebend gewesen waren, liegt - von der zwischenzeitlichen Berücksichtigung der Umstellung des JAV auf Grund der Gesetze zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen UV vom 27. Juli 1957 und vom 29. Dezember 1960 abgesehen - nicht vor. Das LSG hat daher mit im Ergebnis zutreffender und von der Revision nicht beanstandeter Begründung angenommen, daß die Klägerin ebenso wie die Beklagte an die Festsetzung des JAV in dem Bescheid vom 21. Dezember 1950 gebunden geblieben ist. Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß diese Festsetzung des JAV als ein besonderer Ausspruch des angeführten Bescheides der Bindungswirkung im Sinne des § 77 SGG zugänglich ist. Zwar ist für das Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung in dem Urteil des BSG vom 20. April 1961 - 4 RJ 217/59 - (BSG 14,154 = SozR Nr. 24 zu § 77 SGG) ausgesprochen worden, daß die für die Bemessung der Rente maßgebend gewesenen Gründe nicht an der bindenden Wirkung des Bescheides teilnehmen. Die gleichen rechtlichen Gesichtspunkte lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf Rentenbescheide in der gesetzlichen UV übertragen. Vielmehr ist jeweils im Einzelfall der Bewilligungsbescheid - erforderlichenfalls im Auslegungswege - daraufhin zu prüfen, welche Bedeutung dem JAV im Zusammenhang mit den Grundlagen der Rentenberechnung beizumessen ist. Wie sich aus dem im vorliegenden Fall zu beurteilenden Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 1950 eindeutig ergibt, ist der JAV gesondert festgesetzt. In einem besonderen Absatz der in dem Bescheid enthaltenen Erklärungen ist dies durch den Satz zum Ausdruck gebracht: Der Rente ist ein Jahresarbeitsverdienst von 3.383,20 DM zugrundegelegt". Der eigene Feststellungscharakter dieses Satzes tritt noch besonders in Erscheinung dadurch, daß sich ihm die Wiedergabe der tatsächlichen und rechtlichen Berechnungsgrundlagen für den ermittelten Betrag des JAV im einzelnen anschließt. Bei diesem Sachverhalt hat der erkennende Senat jedenfalls keine Bedenken getragen, in dem Ausspruch über den JAV ebenso einen der selbständigen Bindungswirkung unterliegenden besonderen Verfügungssatz des Bescheides zu erblicken, wie es insbesondere für die Anerkennung der Erkrankung als BK der Fall ist (vgl. BSG 18, 84,89; Urteil des erkennenden Senats vom 30. Juli 1965 - 2 RU 16/64 - mit den dort angeführten Nachweisungen). Die Beklagte ist daher bei der Berechnung der im Oktober 1961 neu festgestellten Rente zu Recht von dem früher festgesetzten JAV ausgegangen. Nur wenn eine besondere gesetzliche Bestimmung es zuließe, könnte die Klägerin die Beseitigung dieser Bindungswirkung erreichen. Dies ist jedoch, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, nicht der Fall. Ein Tatbestand des § 1744 RVO, der für Leistungsbescheide der Versicherungsträger gilt, liegt - unstreitig - nicht vor. Entgegen der Meinung der Klägerin ist vom LSG aber auch der Weg des § 627 RVO nF, der nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch auf die im Jahre 1950 eingetretene BK Anwendung findet, zu Recht als ungangbar erachtet worden. Nach dieser Vorschrift ist der Träger der gesetzlichen UV verpflichtet, eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugt, daß diese Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt worden ist. Hierbei steht es, wie in dem Urteil des erkennenden Senats vom 29. März 1963 (BSG 19, 38, 43, 44) ausgesprochen ist, nicht im Belieben des Versicherungsträgers, wann er sich von der Unrechtmäßigkeit seiner früheren Ablehnung für überzeugt halten will; er ist vielmehr erforderlichenfalls gegen seinen Willen als von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung "überzeugt" anzusehen, falls die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß er dies bei der erneuten Prüfung hätte erkennen müssen. Die angeführte Entscheidung ist zwar zu § 619 RVO aF ergangen. Die Grundsätze, die in dem Urteil zu dieser Vorschrift entwickelt worden sind, gelten indessen auch für die Anwendung des § 627 RVO nF; denn § 619 RVO aF stimmt so, wie er in der Rechtsprechung angewandt worden ist, mit § 627 RVO nF überein. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Festsetzung des JAV in dem Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 1950 ist entscheidend, ob es bei der Neufeststellung der Rente im Jahre 1961 für die Beklagte evident sein mußte, daß die von der Klägerin beanstandete Berechnung des JAV unrichtig war, nämlich ob statt des von der Klägerin tatsächlich erzielten Verdienstes ein ihr damals tariflich zustehendes Gehalt hätte zugrundegelegt werden müssen. Diese Frage ist zu verneinen. Es herrscht nach wie vor weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum eine einheitliche Meinung darüber, ob bei einem Versicherten, der unter Tarifschutz steht, der JAV nach den tariflich vereinbarten Vergütungen zu berechnen ist, wenn diese höher sind als der tatsächlich erzielte Arbeitsverdienst. In der Entscheidung des erkennenden Senats vom 31. Januar 1961 - 2 RU 229/59 - BSG 14, 5, 9) ist es offengeblieben, ob in Übereinstimmung mit dem Reichsversicherungsamt (vgl. Bescheide vom 29. Oktober 1935 und 14. Januar 1938 in EuM 42, 169) eine Berechnung des JAV nach der Vergütungsgruppe III TO A vorzunehmen ist, wenn der Versicherte offensichtlich unter Tarif bezahlt wurde. Der 3. Senat des BSG hat am 25. November 1964 - 3 RK 32/60 - (BSG 22, 106) entschieden, daß die Beiträge zur Sozialversicherung vom tatsächlich gezahlten - nicht vom geschuldeten - Lohn zu berechnen sind, wenn ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer untertariflich entlohnt. Im Schrifttum ist zu der Frage, ob im Falle einer offensichtlich gegen bindende Tarifregelungen verstoßenden Entlohnung der JAV unter Zugrundelegung des Tariflohnes zu berechnen ist, nicht abschließend Stellung genommen worden (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Bd. II S. 571; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., S. 124 f Anm. 3 a. E. zu § 563 RVO aF).
Bei diesem Sachverhalt sind die Voraussetzungen, unter denen die Klägerin auf Grund des § 627 RVO nF eine für sie günstige Neufestsetzung des JAV hätte verlangen können, nicht als gegeben zu erachten. Sonstige Gründe, welche die Beseitigung der dem Klagebegehren entgegenstehenden Bindungswirkung rechtfertigen könnten, sind von der Revision nicht dargetan und auch nicht ersichtlich. Das gilt insbesondere für das Vorbringen, daß mit der nach dem geltenden Recht begründeten Ablehnung des Anspruchs der Klägerin auf die Gewährung einer betragsmäßig höheren Rente gegen höherrangiges Recht (Art. 20 GG) verstoßen werde.
Die Revision mußte somit als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen