Leitsatz (redaktionell)
1. Ein beim Anheben eines zirka 50 kg schweren Werkstückes eingetretener Spontanpneumothorax wurde als Folge eines Arbeitsunfalles angesehen, obwohl eine so schwere Vorerkrankung (Lungenemphysem) vorlag, die jederzeit zur gleichen Gesundheitsstörung führen konnte.
2. Gewährung einer Rente trotz völliger Ausheilung der Unfallfolgen wegen der bloßen Gefahr eines Rezidivs (Rückfallgefahr).
Normenkette
RVO § 548 Fassung: 1963-04-30, § 581 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 8. September 1964 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger war seit 1952 als Hilfsarbeiter in einer Gesenkschmiede beschäftigt; seine Tätigkeit bestand darin, eiserne Werkstücke im Gewicht von etwa 50 kg vom Boden auf den Tisch eines Ofens zu heben. Bei dieser Tätigkeit wurde ihm am Vormittag des 13. November 1958, nachdem er vier Stunden gearbeitet hatte, für einige Sekunden schwarz vor den Augen; er verspürte jedoch keine Schmerzen und arbeitete nach kurzer Unterbrechung beschwerdefrei weiter. Am 28. November 1958 machten sich morgens beim Aufstehen Beschwerden - insbesondere Kopfschmerzen, Husten, Luftmangel und Brechreiz - bemerkbar, deretwegen der Kläger die Arbeit abbrechen und einen Arzt aufsuchen mußte. Am 30. November 1958 wurde der Kläger in die Medizinische Universitätsklinik Homburg (Saar) eingeliefert; dort wurde ein partieller Spontanpneumothorax an der rechten Lungenspitze festgestellt, der stationäre Behandlung bis zum 20. Januar 1959 erforderte; Anfang April 1959 hatte sich der Pneumothorax vollständig zurückgebildet. Im Gutachten der Homburger Klinik vertraten die Sachverständigen Prof. Dr. D und Dr. L die Auffassung, der Spontanpneumothorax sei durch Einriß der Pleura bei pathologischen Veränderungen des darunter liegenden Lungenabschnitts - röntgenologisch nachgewiesene Emphysemblasen im rechten Oberfeld - entstanden, wobei das Heben schwerer Eisenstücke als mitwirkende Ursache für den Pleurariß entscheidend ins Gewicht falle, so daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Arbeit und dem Krankheitszustand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei. Schwerere körperliche Arbeiten könne der Kläger nicht mehr ausführen, ohne das Risiko eines Pneumothoraxrezidivs mit etwaigen verhängnisvolleren Folgen einzugehen. Die sodann zur Zusammenhangsfrage gehörten Sachverständigen Prof. Dr. B und Dr. St meinten, der Spontanpneumothorax sei nicht durch das angeschuldigte Ereignis vom 13. November 1958, sondern allein durch die beim Kläger vorhandene unfallunabhängige Disposition verursacht worden; bei Menschen mit solchen Befunden - Emphysemblasen auf der Lungenoberfläche - könne es auch ohne jeden äußeren Anlaß zum Auftreten eines Spontanpneumothorax kommen, natürlich führten erhebliche körperliche Anstrengungen leichter dazu als Bagatellvorgänge wie Niesen usw. Da die körperliche Belastung am 13. November 1958 nicht das betriebsübliche Maß überschritten habe, sei der angeschuldigte Unfall nur als zufällig auslösender Faktor anzusehen. Wahrscheinlich sei aber der Spontanpneumothorax überhaupt erst am 28. November 1958 ohne erheblichen äußeren Anlaß entstanden. Die Landesversicherungsanstalt für das Saarland, Abteilung Allgemeine Arbeitsunfallversicherung (LVA), lehnte daraufhin mit Bescheid vom 10. Mai 1960 den Entschädigungsanspruch des Klägers ab.
Der vom Sozialgericht (SG) gehörte Sachverständige Prof. Dr. A führte aus, der ihm vom Kläger jetzt geschilderte Hergang des Unfalls vom 13. November 1958 - Ausrutschen beim Heben eines schweren Werkstücks - stelle eine Besonderheit gegenüber der betriebsüblichen Arbeitsbelastung dar. Dieses massive Ereignis habe höchstwahrscheinlich den Spontanpneumothorax ausgelöst; das jetzige Krankheitsbild verbiete dem Kläger wegen der Rezidivgefahr die Ausübung schwerer körperlicher Arbeit. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage insgesamt 40 v. H., davon 30 v. H. durch Unfall. Das SG hat sein klagabweisendes Urteil vom 6. Juni 1963, in dem als Beklagte die mittlerweile an die Stelle der LVA getretene Berufsgenossenschaft aufgeführt ist, auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B und die Äußerungen der Sitzungsärzte gestützt. Den von Prof. Dr. A wiedergegebenen Unfallhergang hat es als nicht nachgewiesen erachtet.
Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland den Kläger von der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg begutachten lassen. Die Sachverständigen Prof. Dr. Sch, Privatdozent Dr. D und Dr. G sind zu dem Ergebnis gelangt, der Spontanpneumothorax sei mit größter Wahrscheinlichkeit auf die Arbeitstätigkeit am 13. November 1958 zurückzuführen, wobei es nicht darauf ankomme, ob der Kläger beim Heben auch noch ausgerutscht sei. Ein Spontanpneu könne zwar bei völliger Körperruhe auftreten, häufiger ereigne er sich jedoch bei körperlichen Tätigkeiten, die mit intrathorakaler Druckerhöhung einhergingen, wie es gerade typisch bei der betriebsüblichen Arbeit des Klägers der Fall sei; ein partieller Spontanpneu könne völlig ohne subjektive Symptome verlaufen. Im Hinblick auf den anamnestisch gesicherten Spontanpneu berge jede auch nur leichtere körperliche Tätigkeit die Gefahr eines Rückfalls in sich; der Kläger dürfe keinerlei mit nennenswerter körperlicher Belastung verbundene Tätigkeiten mehr verrichten. Über den 6. April 1959 hinaus habe der Spontanpneu beim Kläger keine Gesundheitsstörungen hinterlassen. Das LSG hat am 8. September 1964 die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Rente von 30 v. H. der Vollrente zu gewähren: Der Spontanpneumothorax sei ursächlich auf den angeschuldigten Arbeitsvorgang vom 13. November 1958 zurückzuführen; dies ergebe sich aus den überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. D und Prof. Dr. Sch. Der Sachverständige Prof. Dr. B sei von einem rechtlich unzutreffenden Unfallbegriff ausgegangen und habe verkannt, daß auch ein betriebsüblicher Vorgang einen Arbeitsunfall im Rechtssinne darstellen könne. Gegen die traumatische Verursachung spreche auch nicht der Umstand, daß der Kläger erst 15 Tage nach dem Unfall die Symptome des Pneumothorax geäußert habe. Die unfallbedingte MdE sei mit dem Sachverständigen Prof. Dr. A auf 30 v. H. zu schätzen. Den abweichenden Schätzungen der Sachverständigen Prof. Dr. D und Prof. Dr. Sch will sich das LSG nicht anschließen, weil aus all diesen Gutachten übereinstimmend zu entnehmen sei, daß eine nennenswerte körperliche Tätigkeit jederzeit zum erneuten Auftreten eines Spontanpneumothorax führen könnte. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es die Frage, wie sich die Gefahr eines Pneumothoraxrezidivs auf die MdE auswirkt, als grundsätzliche Rechtsfrage ansieht.
Gegen das am 28. Januar 1965 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20. Februar 1965 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 28. April 1965 verlängerten Frist wie folgt begründet: Zu Unrecht habe das LSG - trotz Fehlens tatsächlich vorhandener Gesundheitsstörungen - die bloße Gefahr eines Pneumothoraxrezidivs bei der MdE-Bemessung berücksichtigt. Die Anerkennung des ursächlichen Zusammenhangs beruhe auf Verfahrensverstößen, auch habe das LSG verkannt, daß die Arbeitsbelastung nur eine Gelegenheitsursache dargestellt habe.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG für das Saarland zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt
Zurückweisung der Revision.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beruft sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage der Berücksichtigung "seelischer Begleiterscheinungen" (BSG 8, 209; 9, 291).
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Das LSG ist davon ausgegangen, der Kläger habe sich den Spontanpneumothorax nicht erst bei irgendeinem alltäglichen unversicherten Anlaß am 28. November 1958, sondern bereits am 13. November 1958 beim Heben eines schweren Werkstückes zugezogen; dieser, für den Kläger an sich betriebsübliche Arbeitsvorgang sei als rechtlichwesentliche Teilursache für den Pneumothorax anzusehen; denn die für den Spontanpneumothorax gleichfalls mitursächliche Disposition des Klägers in Gestalt von Emphysemblasen hätte sich zwar auch ohne äußeren Anlaß auswirken können, das Aufheben einer schweren Last mit intrathorakaler Drucksteigerung und starker Betätigung der Bauchpresse stelle jedoch ein Ereignis dar, das gerade typisch für die Verursachung des Spontanpneumothorax sei. Gegen diese Feststellungen wendet sich die Revision mit Rügen fehlerhafter Beweiswürdigung und unzureichender Sachaufklärung. Die gerügten Verfahrensmängel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) liegen jedoch nicht vor. Das LSG konnte sich bei seinen Darlegungen bedenkenfrei auf die Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. D und Prof. Dr. Sch stützen. Mit deren Auffassung stimmt übrigens das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B insofern überein, als auch darin ausgeführt wird, erhebliche körperliche Anstrengungen könnten natürlich das Zustandekommen eines Spontanpneumothorax bei prädisponierter Lungenoberfläche leichter herbeiführen als Bagatellvorfälle wie Niesen, Gähnen usw. Hiermit lagen dem LSG ausreichende Unterlagen für seine Feststellungen auf medizinischem Gebiet vor. Zu weiterer Beweiserhebung brauchte sich das LSG nicht gedrängt zu fühlen, zumal da es auf den von Prof. Dr. A wiedergegebenen Unfallhergang nicht entscheidend ankam. Auch die Beweiswürdigung hält sich - entgegen dem Revisionsvorbringen - innerhalb der Grenzen des Rechts auf richterliche Überzeugungsbildung. Die Revisionsrügen haben Überschreitungen dieses Rechts, insbesondere Verstöße gegen Erfahrungssätze oder Denkgesetze, nicht dargetan. Dies gilt zumal auch für die Frage, ob das beschwerdefreie Intervall vom 13. bis zum 28. November 1958 gegen die vom LSG bejahte Kausalität spricht; denn die Erläuterungen, die in dem Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. D und insbesondere Prof. Dr. Sch hierzu gegeben wurden, haben die von der Revision aufgeworfenen Zweifelsfragen bereits vollauf berücksichtigt.
Unbegründet ist weiter die Revisionsrüge, das LSG habe die in der Unfallversicherung maßgebliche Kausalitätsnorm verkannt. Die Auffassung des LSG ist vereinbar mit dem in der Rechtsprechung (vgl. u. a. Beschluß des erkennenden Senats vom 31. Januar 1958, MDR 1958, 281 Nr. 155) anerkannten Kausalbegriff der wesentlich mitwirkenden Teilursache; danach kommt es in dem hier gegebenen Fall der kausalen Konkurrenz einer äußeren Einwirkung (die auch in einem betriebsüblichen Arbeitsvorgang erblickt werden kann) mit einer bereits vorhandenen Krankheitsanlage darauf an, ob die Einwirkung wesentliche Teilursache oder nur Gelegenheitsursache ist, d. h., ob die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar ist, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedarf, sondern daß jedes andere alltägliche Ereignis etwa zu derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Bei Anlegung dieses Maßstabes und unter Berücksichtigung der auch von Prof. Dr. B anerkannten besonderen Eignung schweren Hebens für das Zustandekommen des Spontanpneumothorax hat das LSG mit Recht dem Arbeitsvorgang am 13. November 1958 eine erheblichere Bedeutung als die einer bloßen Gelegenheitsursache beigemessen.
Schließlich treffen auch die Revisionsangriffe gegen die Annahme einer unfallbedingten MdE von 30 v. H. nicht zu. Das LSG war insoweit nicht gehindert, sich der Ansicht des Prof. Dr. A anzuschließen; der Umstand, daß dieser Sachverständige über den Unfallhergang eine von den übrigen Gutachtern abweichende Auffassung vertreten hatte, stand der Verwertbarkeit seines Gutachtens bei der davon unabhängigen MdE-Schätzung nicht entgegen. Die Feststellung des LSG, daß der einmal aufgetretene Pneumothorax wegen der erhöhten Rückfallgefahr dem Kläger die Verrichtung von Arbeiten mit nennenswerter körperlicher Belastung verwehrt, hat die Revision nicht mit begründeten Rügen angegriffen, so daß der Senat hiervon auszugehen hat (§ 163 SGG). Von diesem Ausgangspunkt her erscheint aber die Annahme einer MdE gerechtfertigt. Dem steht die Tatsache, daß der Pneumothorax sich im April 1959 zurückgebildet hatte, nicht entgegen. Schon die von den Sachverständigen betonte Rückfallgefahr an sich mußte den Kläger - trotz seines klinisch und röntgenologisch offenbar wieder normalen Lungenbefundes - in seiner Fähigkeit zur Verrichtung von Erwerbsarbeit erheblich einschränken. Da dem Kläger nunmehr die körperlich anstrengende Arbeit in der Gesenkschmiede, die er bis zum Unfalltag jahrelang ausgeübt hatte, darüberhinaus aber auch noch sämtliche Arbeitstätigkeiten mit überhaupt nennenswerter körperlicher Belastung unzugänglich waren, hatte sich im April 1959 eben doch nicht der vor dem Unfalltag bestehende Zustand wiederhergestellt. Es bedarf hiernach keiner näheren Prüfung, inwieweit auch noch die Rechtsprechung zu den Fragen der Verunstaltung und der seelischen Begleiterscheinungen geeignet ist, die angefochtene Entscheidung zu bestätigen.
Daß bei der Schätzung des Grades der MdE die Grenzen für die Ausübung des richterlichen Ermessens überschritten worden sind (vgl. BSG 4, 147), ist in der Revisionsbegründung nicht dargelegt worden.
Die Revision ist somit unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen