Leitsatz (amtlich)

Hat das Gericht zur Klärung des Sachverhalts die Auskunft der Dienststelle eines ausländischen Staates, mit dem die Bundesrepublik keine diplomatischen Beziehungen unterhält, für erforderlich gehalten, so muß es auf den Eingang dieser Auskunft eine den besonderen Verhältnissen angemessene längere Zeit warten, bevor es den aufklärungsbedürftigen Sachverhalt als nicht aufklärbar ansehen darf.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Dezember 1966 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der 1907 geborene Kläger beanspruchte von der Beklagten Zahlung von Unfallrente für die Zeit von 1946 bis März 1958, in der er sich im polnisch besetzten deutschen Gebiet (Oberschlesien) aufgehalten hat. Er erlitt als Schachthauer auf dem Schachtneubau “...„ in Othfresen/Harz am 20. März 1939 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich einen Bruch des 3. und 4. Lendenwirbelkörpers und einen Bruch der linken Speiche zuzog. Die Beklagte gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 27. Juli 1939 aus Anlaß dieses Unfalles vom 2. Juli 1939 an eine Verletztenteilrente in Höhe von 30 v. H. als vorläufige Rente und setzte diese Rente aufgrund einer Nachuntersuchung durch Bescheid vom 12. Januar 1940 vom 1. März 1940 an auf eine Teilrente von 20 v. H. der Vollrente herab. Auf Antrag des Klägers war diese Rente am Ende des Krieges auf das Sparkonto des Klägers bei der Stadtsparkasse in H. (Oberschlesien), dem damaligen Wohnsitz des Klägers, überwiesen worden. Nach Entlassung aus der Wehrmacht beantragte der Kläger bei der Beklagten im Februar 1946 von Staffel/Krs. Limburg/Lahn aus, ihm die Rente wieder zu zahlen. Die Beklagte teilte ihm mit Schreiben vom 12. März 1946 mit, daß nach einer Anordnung der Militärregierung vom 16. Januar 1946 Renten unter 25 v. H. der Vollrente nicht mehr gewährt werden. Der Kläger kehrte Ende Februar/Anfang März 1946 in seine Heimat nach H. (Oberschlesien) zurück und wurde im März 1958 mit seiner Ehefrau in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Mit Schreiben vom 18. März 1958, eingegangen bei der Beklagten am 19. März 1958, beantragte der Kläger, ihm aus Anlaß des 1939 erlittenen Unfalles weiterhin eine Rente zu gewähren. Die Beklagte veranlaßte eine Nachuntersuchung in der chirurgischen Abteilung des Stadtkrankenhauses Hanau a. M. und gewährte dem Kläger daraufhin mit Bescheid vom 29. Mai 1958 die Rente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente vom 19. März 1958 an. Den Antrag des Klägers, ihm auch für die Zeit von 1946 bis zum 18. März 1958 die Unfallrente zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. Juni 1956 ab, weil der Rentenanspruch während des Aufenthalts des Klägers unter den in polnischer Verwaltung stehenden Gebieten geruht habe und der Kläger auch aufgrund des FAG für diese Zeit keinen Anspruch habe.

Auf die gegen diesen Bescheid erhobene Klage, mit der der Kläger die Zahlung der Rente für die Zeit vom 19. März 1954 bis zum 18. März 1958 verlangte - die Beklagte hatte sich während dieses Verfahrens auf die Verjährung der Ansprüche für die frühere Zeit berufen -, hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 26. August 1959 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 29. Mai 1958 und Aufhebung des Bescheides vom 14. Juni 1958 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 19. März 1954 bis zum 18. März 1958 aus Anlaß des Unfalles vom 20. März 1939 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v. H. zu zahlen. Es hat die Berufung zugelassen. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 22. Juni 1960 zurückgewiesen. Auf die Revision der Beklagten hat das Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 26. Februar 1965 die Entscheidung des LSG aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Das LSG hat mit Urteil vom 13. Dezember 1966 die Berufung der Beklagten abermals zurückgewiesen und dazu ausgeführt: Nach dem Urteil des BSG sei die Beklagte als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich verpflichtet, für einen in ihrem Bereich erlittenen Arbeitsunfall Entschädigung zu leisten, und zwar auch für Zeiten, in denen sich der Versicherte außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufhält. Die Zahlungspflicht entfalle in Fällen der vorliegenden Art, in denen sich der Versicherte im polnisch besetzten deutschen Gebiet aufhielt, wenn er während seines Aufenthalts in diesem Gebiet wegen des in Deutschland erlittenen Arbeitsunfalles einen Rechtsanspruch auf Entschädigung gegen den polnischen Versicherungsträger hatte, wobei es gleichgültig sei, ob der Unfall, der nach deutschem Recht die Zahlung einer Unfallrente auslöste, auch eine Rentenzahlung im polnisch besetzten deutschen Gebiet tatsächlich ausgelöst habe. Es genüge, wenn die polnische Regelung in großen Zügen mit der deutschen Entschädigungspflicht übereinstimme und wenn vor allem im polnisch besetzten Gebiet Deutsche den gleichen Rechtsanspruch hätten wie die Polen. Aufgrund der eingeholten Auskünfte des Internationalen Arbeitsamtes und des Büros für Auslandsrenten in Warschau sei erwiesen, daß in den polnisch besetzten Gebieten sowie in Polen polnische Staatsangehörige aufgrund der Verordnung vom 3. April 1950 einen Rechtsanspruch auf Zahlung einer Rente wegen der Folgen eines außerhalb Polens erlittenen Arbeitsunfalles haben, wenn der Verletzte polnischer Staatsangehöriger sei und wenn er, was hier in Betracht komme, in Deutschland wegen der Folgen des Arbeitsunfalles mindestens eine 25 %ige Unfallrente bezogen habe. Die letztgenannte Voraussetzung sei zwar im Falle des Klägers nicht gegeben. Dieser Unterschied zwischen deutschem und polnischem Recht sei jedoch nach der Entscheidung des BSG unerheblich. Aufgrund der Auskunft des polnischen Büros für Auslandsrenten stehe aber auch fest, daß Personen, die nicht die polnische Staatsangehörigkeit besaßen, während ihres Aufenthalts in den polnisch besetzten deutschen Gebieten keinen Rechtsanspruch auf Leistungen wegen eines in Deutschland erlittenen Arbeitsunfalles hatten. Die Entscheidung der Frage, ob der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Zahlung einer Unfallrente von 20 v. H. für die Zeit von 1954 bis 1958 gerechtfertigt sei, hänge hiernach davon ab, ob der Kläger während seines Aufenthalts im polnisch besetzten deutschen Gebiet die polnische Staatsangehörigkeit besessen habe. Diese Frage habe sich nicht klären lassen. Das Präsidium des Städtischen Volksrates in H., das nach der Auskunft des Büros für Auslandsrenten für die Erteilung dieser Auskunft zuständig sei, habe die Anfrage vom 12. August 1966 trotz Erinnerung vom 10. November 1966 nicht beantwortet. Irgendwelche anderen Dienststellen, die hierüber authentisch Auskunft geben könnten, seien nicht bekannt. Auch die Beteiligten könnten hierzu keine Anregungen geben. Der Kläger habe nach seinen Angaben nur eine Urkunde über eine vorläufige polnische Staatsangehörigkeit erhalten, aber im übrigen stets betont, nicht endgültig die polnische Staatsangehörigkeit erworben zu haben. Da keine Anhaltspunkte dafür vorhanden seien, daß diese Angaben des Klägers unrichtig seien, lasse sich zumindest nicht beweisen, daß er während seines Aufenthalts im polnisch besetzten deutschen Gebiet die endgültige polnische Staatsangehörigkeit besessen habe und demzufolge einen Anspruch auf Unfallrente gehabt habe. Der Mangel dieses Nachweises gehe, da grundsätzlich Unfallrenten auch während des Aufenthalts des Anspruchsberechtigten in Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs der RVO zu zahlen seien, zu Lasten der Beklagten.

Mit der vom LSG nicht zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Staatsangehörigkeit des Klägers zu einem Ergebnis geführt hätten, oder ob das angefragte Präsidium in dieser Hinsicht nichts mehr habe feststellen können. Es liege auf der Hand, daß die Antwort auf eine derartige Anfrage bei einer Dienststelle hinter dem Eisernen Vorhang, selbst wenn eine polnische Übersetzung beigefügt sei, nicht innerhalb eines Monats habe erwartet werden können. Wenn das LSG eine längere Zeit abgewartet hätte, wäre es in der Lage gewesen, die bei ihm am 19. Januar 1967 eingelaufene Antwort der Militär-Mission der Volksrepublik Polen, Konsularabteilung, zu Nr. 38/R/2/67 vom 17. Januar 1967, wonach der Kläger in der hier entscheidenden Zeit die polnische Staatsangehörigkeit gehabt habe, bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Er meint, die von der Beklagten erhobenen Rügen bezögen sich auf die Urteilsfindung, nicht auf das Prozeßrecht; das angefochtene Urteil hält er für richtig. Im übrigen verweist er darauf, daß der Reisepaß, den er zur Einreise nach Deutschland benötigt habe, den Vermerk “Nationalität nicht feststellbar„ enthalten habe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das LSG hat die Revision nicht zugelassen; sie ist jedoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Es kann für die hier zu treffende Entscheidung dahinstehen, wie im vorliegenden Fall die objektive Beweislast zwischen den Beteiligten verteilt war. Mit ihren weiteren oben zusammengefaßten Vorbringen rügt die Beklagte, das Berufungsgericht habe die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt. Diese Rüge ist begründet.

Für die Frage, ob das LSG den Sachverhalt unzureichend erforscht und dadurch § 103 SGG verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt war, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreicht oder ob er das Berufungsgericht zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (BSG in SozR SGG § 103 Nr. 7).

Vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG kam es für die Beurteilung der Frage, ob der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Zahlung einer Unfallrente von 20 v. H. für die Zeit von 1954 bis 1958 gerechtfertigt ist, darauf an, ob der Kläger während seines Aufenthaltes im polnisch besetzten deutschen Gebiet die endgültige polnische Staatsangehörigkeit besessen hat. Zu diesem Zweck hat das LSG nicht nur die Anfrage an das Präsidium des Städtischen Volksrates - Abteilung für innere Angelegenheiten - in Zabrze vom 12. August 1966, ob der Kläger von 1946 bis März 1958 die polnische Staatsangehörigkeit besessen habe, sondern auch die Erinnerung vom 10. November 1966, ob die bisherigen Ermittlungen in Zabrze bezüglich der polnischen Staatsangehörigkeit des Klägers zu einem Ergebnis geführt hätten oder ob das angefragte Präsidium in dieser Hinsicht nichts mehr habe feststellen können, für erforderlich gehalten. Das LSG hat trotzdem am 14. November 1966 die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung auf den 13. Dezember 1966 geladen und an diesem Tage abschließend mündlich verhandelt und entschieden, die Frage nach der polnischen Staatsangehörigkeit des Klägers in der Zeit von 1946 bis März 1958 sei nicht mehr zu klären, obgleich eine Antwort von Zabrze noch gar nicht vorlag. Abgesehen davon, daß auf die im August 1966 an das Präsidium des Städtischen Volksrates in Zabrze gerichtete Anfrage bis zum 10. November 1966 eine Antwort kaum erwartet werden konnte, mußte sich das Berufungsgericht darüber im klaren sein, daß auch auf die von ihm für notwendig gehaltene Erinnerung vom 10. November 1966 nach den gegebenen und allgemein bekannten tatsächlichen Verhältnissen eine Antwort binnen eines Monats nicht eingehen konnte. Das LSG hätte deshalb den abschließenden Verhandlungstermin nicht bereits auf den 13. Dezember 1966 ansetzen dürfen. Das LSG hätte sich bei dieser Sachlage nicht mit den ihm vorliegenden Unterlagen für seine Überzeugungsbildung zur Frage der Staatsangehörigkeit des Klägers in der fraglichen Zeit begnügen dürfen. Wäre das LSG, wie vorstehend dargelegt, verfahren, hätte es bei seiner Entscheidung auch die bei ihm am 19. Januar 1967 eingelaufene Antwort der Militär-Mission der Volksrepublik Polen, Konsularabteilung, zu Nr. 38/R/2/67 vom 17. Januar 1967 verwenden können. Wenn das LSG dennoch in der Sache entschieden hat, ohne die Beantwortung seiner Anfragen vom 12. August 1966/10. November 1966 abzuwarten, so ist insofern der Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt (§ 103 SGG). Dieser von der Beklagten gerügte Verfahrensmangel macht die Revision statthaft.

Die damit zulässige Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf dem genannten Verfahrensmangel. Es besteht die Möglichkeit, daß das LSG - wenn es die Antwort auf die von ihm selbst als noch notwendig gehaltene Aufklärung hätte - zu einer anderen Feststellung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit des Klägers für die Zeit von 1946 bis März 1958 gekommen wäre. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben, ohne daß es einer Prüfung bedurfte, ob noch weitere von der Beklagten gerügten Verfahrensmängel vorliegen. Auch die Auskunft der Militär-Mission der Volksrepublik Polen, Konsularabteilung, zu Nr. 38/R/2/67 vom 17. Januar 1967 läßt die Frage offen, ob der Kläger in der fraglichen Zeit nur eine Urkunde über eine vorläufige polnische Staatsangehörigkeit erhalten hat, wie er behauptet, oder ob er in dieser Zeit die endgültige polnische Staatsangehörigkeit besessen hat. Es fehlt jedenfalls an hinreichenden Feststellungen zur Frage der Staatsangehörigkeit des Klägers für den hier entscheidenden Zeitabschnitt. Der Senat konnte deshalb in der Sache keine Entscheidung treffen; der Rechtsstreit war daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Dabei wird das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten dieses Revisionsverfahrens mit zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

MDR 1968, 448

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