Leitsatz (redaktionell)

1. Nach dem bis zum 1.12.1975 geltenden Recht war für die Verjährung des Anspruchs auf den Beitragszuschuß des Rentenversicherungsträgers nach RVO § 381 Abs 4 die 4jährige Verjährungsfrist des RVO § 29 Abs 3 maßgebend; sie begann jeweils mit der Fälligkeit der Leistung, dh mit der monatlichen Entstehung des Anspruchs.

2. Die Einrede der Verjährung durch einen Sozialversicherungsträger stellt auch dann keine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn die Ansprüche deshalb abgelehnt oder nicht geltend gemacht worden sind, weil der Versicherungsträger in einer noch offenen Rechtsfrage eine Rechtsansicht vertreten und in ständiger Verwaltungspraxis auch angewendet hat, die sich späterhin nach Klärung als unzutreffend erweist.

 

Orientierungssatz

Aus der ursprünglich ablehnenden Verwaltungspraxis eines Versicherungsträgers, die auf eine unrichtige Rechtsauffassung zurückging, läßt sich ein Vorwurf der unzulässigen Rechtsausübung nicht ableiten. Es stellt kein vorwerfbares Verhalten dar, wenn ein Versicherungsträger bei einer noch völlig offenen und schwierigen Rechtsfrage zunächst eine Rechtsansicht vertritt und in ständiger Verwaltungspraxis anwendet, die sich später als nicht zutreffend erweist.

 

Normenkette

BGB § 242 Fassung: 1896-08-18; RVO § 29 Abs. 3, § 381 Abs. 4

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. Oktober 1975 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 8. August 1974 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Verjährung eines Beitragszuschusses.

Der 1922 geborene, in Argentinien lebende und dort krankenversicherte Kläger beantragte am 7. Februar 1966 wegen Erwerbsunfähigkeit die Gewährung einer Rente. Mit Bescheid vom 18. September 1969 gab die Beklagte dem Antrag mit Wirkung ab 1. Februar 1966 statt. Am 24. Januar 1973 beantragte der Kläger die Gewährung des Beitragszuschusses nach § 381 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 17. Dezember 1973 den Beitragszuschuß ab 1. Februar 1969 mit dem Hinweis, hinsichtlich der weiter zurückliegenden Zeit sei der Anspruch nach § 29 Abs. 3 RVO verjährt. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 8. August 1974 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben, den Bescheid vom 17. Dezember 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger den Beitragszuschuß auch für die Zeit vom 7. Februar 1966 bis zum 31. Januar 1969 zu gewähren (Urteil vom 28. Oktober 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Nach § 29 Abs. 3 RVO sei der Anspruch für diese Zeit verjährt; die Beklagte könne sich nach Treu und Glauben auf die Verjährung jedoch nicht berufen. Nach ihren Angaben habe sie die Gewährung des Beitragszuschusses an Rentner ins Ausland bis zur Kenntnisnahme von dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. August 1970 (BSG 31, 288) stets abgelehnt. Als Folge dieser Verwaltungspraxis hätten die Rentner ihre Anträge für aussichtslos halten müssen. Dem Kläger sei nicht zu widerlegen, daß er auf Grund dieser Verwaltungspraxis der Auffassung gewesen sei, ihm stehe kein Beitragszuschuß zu, und deshalb die Antragstellung unterlassen habe. Eine eindeutig geklärte Rechtslage, wie § 381 Abs. 4 RVO bei ständigem Auslandsaufenthalt eines Rentners auszulegen sei, hätten Rechtsprechung und Verwaltung erst im Laufe einer längeren Entwicklung gewonnen, die schließlich mit dem Urteil des BSG vom 20. Oktober 1972 (BSG 35, 15) zum Abschluß gekommen sei. Bei der im Januar 1973 erfolgten Antragstellung könne dem Kläger deshalb keine schädliche Unkenntnis des Rechts vorgeworfen werden. Die Beklagte müsse somit wegen ihres eigenen fehlerhaften Verhaltens nach Treu und Glauben ein Verhalten der Rentner hinnehmen, dem sie sonst die Einrede der Verjährung entgegensetzen könnte. Der Grund für die späte Antragstellung falle in ihren Verantwortungsbereich und zwinge sie, auf die Verjährungseinrede zu verzichten.

Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 29 Abs. 3 RVO. Die Frage, ob der Beitragszuschuß auch ins Ausland gezahlt werden könne, sei schon durch das genannte Urteil des BSG vom 28. August 1970 eindeutig geklärt worden. Spätestens nach Bekanntwerden dieses Urteils habe sich der Kläger nicht mehr durch ihre frühere Verwaltungspraxis von einer Antragstellung abhalten lassen dürfen. Es könne ihr deshalb nicht als Rechtsmißbrauch angelastet werden, wenn sie die Verjährung geltend mache, nachdem der Kläger sich mit seinem Antrag mehr als zwei Jahre Zeit gelassen habe.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger steht für die Zeit vom 7. Februar 1966 bis zum 31. Januar 1969 kein Beitragszuschuß zu.

Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, verjährten Ansprüche auf Beitragszuschuß in der hier streitigen Zeit nach § 29 Abs. 3 RVO mit dem Ablauf von vier Jahren seit dem Zeitpunkt ihrer Entstehung (Urteile vom 28. September 1976 zu den Aktenzeichen 3 RK 81/75 und 3 RK 97/75). Als der Kläger im Januar 1973 die Gewährung des Beitragszuschusses beantragte, war mithin die Verjährungsfrist für alle die Einzelansprüche abgelaufen, die bis Januar 1969 entstanden waren.

Auf die Verjährung dieser Ansprüche konnte sich die Beklagte auch berufen. Es steht im pflichtgemäßen Ermessen eines Versicherungsträgers zu entscheiden, ob er die Einrede der Verjährung erheben will. Das LSG hat in dem angefochtenen Urteil keine Tatsachen angeführt, die es der Beklagten verwehren konnten, von dieser Einrede Gebrauch zu machen. Auch der Kläger hat in seiner Revisionsbegründung keine Tatsachen vorgetragen, die zu derartigen Schlußfolgerungen führen könnten. Grundsätzlich ist der Eintritt der Verjährung lediglich vom Zeitablauf abhängig; auf die Frage des Verschuldens - sei es des Anspruchsberechtigten, sei es des Anspruchsverpflichteten oder sei es einer Abwägung des Verhaltens beider - kommt es nicht an. Zwar kann dem Leistungsverweigerungsrecht der Verjährung, wie jedem Recht, der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegenstehen. Für die Annahme einer solchen nur in Ausnahmefällen eintretenden Rechtslage ist hier jedoch kein Anhalt gegeben. Der Hinweis auf die frühere Verwaltungspraxis der Beklagten bietet dafür jedenfalls keinen Ansatz. Aus dem Urteil des LSG ergibt sich, daß die Beklagte bis ins Jahr 1970 die Rechtsauffassung vertreten hat, für Berechtigte im Ausland bestehe kein Anspruch auf Beitragszuschuß. Diese Rechtsauffassung hat die Beklagte aufgegeben, nachdem der erkennende Senat erstmalig mit Urteil vom 28. August 1970 (BSG 31, 288) über einen derartigen Anspruch entschieden und ihn bejaht hatte. Allein aus der ursprünglichen ablehnenden Verwaltungspraxis der Beklagten, die auf eine unrichtige Rechtsauffassung zurückging, läßt sich ein Vorwurf der unzulässigen Rechtsausübung nicht ableiten. Zwar wäre das Verhalten eines Versicherungsträgers dann zu mißbilligen, wenn er nach Klärung einer Rechtsfrage durch gefestigte Rechtsprechung an einer entgegenstehenden unrichtigen Rechtsauffassung festhalten wollte. Es stellt hingegen kein vorwerfbares Verhalten dar, wenn ein Versicherungsträger bei einer noch völlig offenen und dazu überaus schwierigen Rechtsfrage zunächst eine Rechtsansicht vertritt und in ständiger Verwaltungspraxis auch anwendet, die sich später als nicht zutreffend erweist. Dadurch allein wird die Erhebung der gesetzlich zulässigen Verjährungseinrede, zu der der Versicherungsträger im Interesse einer sparsamen Haushaltsführung gehalten sein kann (vgl. BSG 20, 262, 265; 34, 1, 12), noch nicht zu einem Fall unzulässiger Rechtsausübung, der aus dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben abzuleiten ist (vgl. dazu BSG 34, 211 ff mit Literaturhinweisen; vgl. auch BSG 35, 91, 94).

Der Verstoß gegen Treu und Glauben betrifft ein von der Rechtsordnung mißbilligtes Verhalten. Der schwerwiegende Vorwurf unzulässiger Rechtsausübung muß deshalb auf die Fälle beschränkt bleiben, in denen ein Versicherter dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, daß er auf ein konkretes, ihm gegenüber an den Tag gelegtes Verhalten des Versicherungsträgers vertraut. Insbesondere wird dann ein Verstoß gegen Treu und Glauben vorliegen, wenn der Versicherungsträger eine Verjährung arglistig oder sonstwie rechtswidrig herbeigeführt hat (vgl. BSG 20, 262, 265). Auch wenn einem Versicherten auf seine Anfrage eine unrichtige Auskunft erteilt wird und er im Vertrauen darauf eine gebotene Antragstellung unterläßt, so daß die Verjährung eines Anspruchs eintritt, kann der Vertrauensschutz des Versicherten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben der Verjährungseinrede entgegenstehen. Ein derartiger Sachverhalt ist aber weder vom LSG festgestellt noch vom Kläger behauptet worden.

Nach alledem sind keine Gründe erkennbar, die der von der Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung entgegenstehen. Ihre Revision muß deshalb Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649400

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