Entscheidungsstichwort (Thema)
Antragspflichtversicherung. Doppelberufler. Herstellungsanspruch bei fehlerhaftem Merkblatt
Orientierungssatz
1. Personen, die in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen und während dieser Zeit eine davon unabhängige selbständige Tätigkeit ausüben (sogenannte Doppelberufler), können für die selbständige Tätigkeit die Pflichtversicherung beantragen.
2. Ein Herstellungsanspruch ist gegeben, wenn der Antragsberechtigte infolge einer unzutreffenden Information durch den Versicherungsträger ein ihm zustehendes Gestaltungsrecht nicht rechtzeitig ausgeübt hat (vergleiche BSG vom 1982-08-25 12 RK 69/81 = SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 3 mwN).
3. Ein den Herstellungsanspruch auslösender Tatbestand kann auch schon dann vorliegen, wenn die Antragstellung aufgrund einer Entschließung unterblieben ist, die auf einer fehlerhaften Allgemeininformation (§ 13 SGB 1) des zuständigen Versicherungsträgers, zB in einem von ihm herausgegebenen Merkblatt, beruht.
Normenkette
RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 9 Fassung: 1972-10-16; SGB 1 § 13
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 26.08.1982; Aktenzeichen L 3 J 171/81) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 01.07.1981; Aktenzeichen S 2 J 250/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger ab 1. Dezember 1978 Pflichtversicherter iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 Reichsversicherungsordnung (RVO) - im folgenden auch als Antragspflichtversicherter bezeichnet - ist.
Der aus Pommern stammende Kläger hatte sich 1947 nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in Schleswig-Holstein niedergelassen und seither seinen Lebensunterhalt zum Teil durch abhängige Arbeit und im übrigen durch den Betrieb eines Einzelhandelsgeschäftes verdient. Die Gewerbeerlaubnis für das Einzelhandelsgeschäft war von 1956 bis 1960 allein seiner Ehefrau erteilt worden. Von 1961 bis zum Tode seiner Ehefrau am 1. August 1964 waren beide Ehegatten Inhaber des Geschäfts; seither ist der Kläger Alleininhaber. Zwischen September 1957 und Januar 1973 hat der Kläger keine abhängige Beschäftigung ausgeübt. Von Februar bis August 1973 und von Februar 1974 bis August 1977 war der Kläger als Wachmann und Pförtner versicherungspflichtig beschäftigt.
Der Kläger hat für die Jahre 1960, 1961, 1970 und 1971 sowie für die Zeit ab 1. September 1977 freiwillige Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet.
Am 28. Dezember 1978 beantragte der Kläger unter Hinweis auf seine selbständige Tätigkeit als Lebensmittel-Einzelhändler bei der Beklagten, die von ihm "entrichteten freiwilligen Beiträge als Pflichtbeiträge anzuerkennen". Die Beklagte behandelte dieses Begehren als Antrag auf Pflichtversicherung gemäß § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO und lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 30. Januar 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Mai 1980 mit der Begründung ab, der Kläger habe die für ihn am 31. Dezember 1974 abgelaufene Antragsfrist iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO versäumt. Er sei Doppelberufler gewesen, so daß auch bei der Berechnung der Antragsfrist allein von seiner selbständigen Tätigkeit ausgegangen werden müsse; insbesondere habe die von der selbständigen Tätigkeit unabhängige versicherungspflichtige Beschäftigung dem Lauf der Antragsfrist iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO nicht entgegengestanden, so daß auch die Aufgabe dieser Tätigkeit im August 1977 für den Kläger keine neue Antragsfrist eröffnet habe. Demgegenüber hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte antragsgemäß verurteilt, die vom Kläger seit dem 1. September 1977 entrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge anzurechnen. Das Landessozialgericht (LSG) hat unter Klagabweisung im übrigen die Beklagte verurteilt, den Kläger ab 1. Dezember 1978 zur Pflichtversicherung als Selbständiger zuzulassen und die seitdem entrichteten freiwilligen Beiträge auf die Pflichtversicherung anzurechnen. Abweichend von der Rechtsauffassung des erkennenden Senats (BSGE 49, 38) sei davon auszugehen, daß die Antragspflichtversicherung gemäß § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO nicht neben der Pflichtversicherung aus einer abhängigen Beschäftigung begründet werden oder fortbestehen könne. Deshalb sei der Kläger auch in der Zeit zwischen Februar 1973 und August 1973 sowie zwischen dem 4. Februar 1974 und dem 10. August 1977 an der Teilnahme an der Antragspflichtversicherung und an der Stellung eines entsprechenden Antrages gehindert gewesen. Aus dem gleichen Grunde sei für ihn auch die Regelung des Art 2 § 1a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) über den frühesten Zeitpunkt des Fristablaufes bedeutungslos gewesen. Da er seinen Antrag vom 28. Dezember 1978 innerhalb von zwei Jahren nach der Aufgabe der letzten abhängigen Beschäftigung gestellt habe, sei er seit Dezember 1978 Antragspflichtversicherter iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO.
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten: Der Kläger sei bereits beim Inkrafttreten des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO sogenannter Doppelberufler iS der Rechtsprechung des erkennenden Senats gewesen. Er habe daher neben seiner - rechtlich selbständigen - abhängigen versicherungspflichtigen Beschäftigung auch die Antragspflichtversicherung iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO vom Tage des Inkrafttretens dieser Vorschrift an begründen können. Deshalb sei für ihn auch die Antragsfrist am 31. Dezember 1974 abgelaufen.
Die Beklagte beantragt, unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Schleswig- Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. August 1982 und des Urteils des Sozialgerichts Lübeck vom 1. Juli 1981 die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die vom LSG vertretene Rechtsauffassung für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Der Kläger war im Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf Begründung der Pflichtversicherung iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO an sich nicht mehr antragsberechtigt. Er kann aber aufgrund eines Herstellungsanspruchs antragsberechtigt gewesen sein. Die Entscheidung darüber bedarf einer ergänzenden Tatsachenfeststellung.
Nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO können alle Personen, die nicht nach den Nrn 1 bis 7 versicherungspflichtig sind und nicht nur vorübergehend im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, innerhalb von zwei Jahren nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit oder dem Ende der Versicherungspflicht die Versicherung beantragen. Die Beteiligten und das LSG sind zutreffend davon ausgegangen, daß die Abgrenzung der Antragsfrist iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO maßgeblich davon abhängt, welches Konkurrenzverhältnis zwischen der Antragspflichtversicherung iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO und der Versicherungspflicht nach anderen gesetzlichen Vorschriften besteht. Der erkennende Senat hat hierzu bereits in dem ausführlich begründeten Urteil vom 13. September 1979 - 12 RK 26/77 - (BSGE 49, 38 = SozR 2200 § 1227 Nr 29; s ferner BSG SozR 2200 § 1227 Nr 24) auf die Mehrdeutigkeit des Wortlautes dieser Vorschrift hingewiesen und ihren Normgehalt unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Zielsetzung sowie der vergleichbaren Regelung der Versicherungspflicht sogenannter Mehrfachbeschäftigter dahin abgegrenzt, daß Personen, die in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen und während dieser Zeit eine davon unabhängige selbständige Tätigkeit ausüben (sogenannte Doppelberufler), für die selbständige Tätigkeit die Pflichtversicherung beantragen können. Der Senat hat damit die grundsätzlich erforderliche unterschiedliche versicherungsrechtliche Beurteilung verschiedener selbständiger Lebenssachverhalte auch für den Fall der Antragspflichtversicherung des Doppelberuflers für geboten erachtet (insoweit zustimmend Stübbe, Mitteilungen der LVA Berlin 1980, 197, und Finke, Deutsche Angestelltenversicherung 1980, 204). Die vom LSG hiergegen erhobenen Bedenken überzeugen nicht, und im Ergebnis weicht auch nicht - wie das LSG meint - die vom Senat getroffene, sondern umgekehrt die vom LSG für richtig gehaltene Abgrenzung von dem Grundsatz ab, daß verschiedene voneinander unabhängige Tätigkeiten grundsätzlich auch versicherungsrechtlich als solche zu bewerten sind. Für das Recht der Arbeiterrentenversicherung wird die Richtigkeit dieser Abgrenzung auch noch durch den für alle Versicherungstatbestände des § 1227 Abs 1 Satz 1 RVO geltenden Wortlaut des § 1227 Abs 1 Satz 1 2. Halbs RVO gestützt. Dort hat der Gesetzgeber bei der Abgrenzung der einzelnen VersicherungspflichtTatbestände zur Versicherungspflicht nach anderen Versicherungsgesetzen auf "dieselbe" Beschäftigung oder Tätigkeit abgehoben. Auch daraus ist zu schließen, daß nur der Ausschluß der Doppelversicherung wegen ein und derselben Tätigkeit - etwa des selbständigen Handwerkers nach dem Handwerkerversicherungsgesetz und nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO - erreicht, aber nicht die Begründung zweier selbständiger Versicherungsverhältnisse für Doppelberufler verhindert werden sollte.
Die rechtliche Selbständigkeit des Antragspflichtversicherungsverhältnisses wirkt sich auch auf das rechtsgestaltende Antragsrecht und den Lauf der Antragsfrist iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO aus. Die Begründung des Antragspflichtversicherungsverhältnisses ist ohne Rücksicht auf ein durch die zweite Tätigkeit begründetes Pflichtversicherungsverhältnis möglich, sofern und solange die Voraussetzungen des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO vorliegen. Demgemäß richtet sich auch der Beginn der Antragsfrist im Falle des Doppelberuflers nur nach der ersten Alternative (Antragstellung innerhalb von zwei Jahren nach der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit). Hingegen ist es für den Beginn und den Ablauf der für den Selbständigen maßgeblichen Antragsfrist ohne Bedeutung, ob er in einem anderen Tätigkeitsbereich versicherungspflichtig beschäftigt ist.
Da der Kläger im Zeitpunkt des Inkrafttretens des durch Art 1 § 1 Nr 2b des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) eingefügten § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO (19. Oktober 1972) bereits selbständiger Einzelhandelskaufmann war, begann der Lauf der Antragsfrist mit diesem Tage. Sie endete für ihn gemäß Art 2 § 1a ArVNG am 31. Dezember 1974. Diese Frist hat der Kläger versäumt; sein im Dezember 1978 gestellter Antrag ist daher von der Beklagten zu Recht als nicht fristgerecht angesehen worden.
Gleichwohl ist der Rechtsstreit aber nicht entscheidungsreif. Denn der vom Kläger im Dezember 1978 gestellte und von der Beklagten zutreffend als Begehren iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO behandelte Antrag kann möglicherweise aus dem - vom LSG von seinem rechtlichen Ausgangspunkt aus zu Recht nicht geprüften - Gesichtspunkt des Herstellungsanspruches begründet sein. Ein Herstellungsanspruch ist gegeben, wenn der Antragsberechtigte infolge einer unzutreffenden Information durch den Versicherungsträger ein ihm zustehendes Gestaltungsrecht nicht rechtzeitig ausgeübt hat (Urteil des erkennenden Senats vom 25. August 1982 - 12 RK 69/81 - mwN, SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 3). Das LSG hat zwar nicht festgestellt, daß der Kläger bis zum Ablauf der für ihn laufenden Antragsfrist - 31. Dezember 1974 - eine individuelle Beratung durch die Beklagte erhalten hat. Dies ist indes auch nicht entscheidend. Ein den Herstellungsanspruch auslösender Tatbestand kann auch schon dann vorliegen, wenn die Antragstellung aufgrund einer Entschließung unterblieben ist, die auf einer fehlerhaften Allgemeininformation (§ 13 SGB I) des zuständigen Versicherungsträgers, zB in einem von ihm herausgegebenen Merkblatt, beruht. Eine solche - nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 31. September 1979 - 12 RK 26/77 - aaO) stehende - Information enthält das von der Beklagten herausgegebene "Sondermerkblatt über die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für selbständige und andere Personen - Stand März 1973 -" in Abschn A 1. Hier heißt es, Voraussetzung für die Versicherungspflicht selbständiger Erwerbstätiger sei ua, daß Versicherungspflicht nach anderen Vorschriften der RVO ...nicht bestehen dürfe.
Sollte der Kläger im Vertrauen auf die Richtigkeit dieses Merkblattes oder anderer gleichwertiger Allgemeininformationen der Beklagten die Antragstellung bis Dezember 1978 unterlassen haben, so würde auch der notwendige Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Allgemeinbelehrung der Beklagten über die Voraussetzungen der Antragspflichtversicherung und der nicht fristgerecht erfolgten Antragstellung des Klägers gegeben sein. Der im Dezember 1978 gestellte Antrag auf Pflichtversicherung iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO wäre dann aus dem Gesichtspunkt des Herstellungsanspruches wirksam. Da die Entscheidung hierüber weitere tatsächliche Feststellungen voraussetzt, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen