Entscheidungsstichwort (Thema)
Betreuungsgeld. Stichtagsregelung. vor dem 1.8.2012 geborene Kinder. Nichtigkeit des Betreuungsgeldgesetzes. Vertrauensschutz. keine Durchbrechung des Nichtigkeitsgrundsatzes bei fehlender Betreuungsgeldgewährung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Nichtigkeit der das Betreuungsgeld regelnden Vorschriften schließt einen Anspruch auf diese Leistung aus.
2. Ein die Durchbrechung des Nichtigkeitsgrundsatzes rechtfertigendes Vertrauen kann lediglich im Falle einer unanfechtbaren positiven bescheidmäßigen Betreuungsgeldgewährung vorliegen.
Orientierungssatz
Zu den Folgen der Entscheidung des BVerfG vom 21.7.2015 - 1 BvF 2/13 = NJW 2015, 2399.
Normenkette
BEEG §§ 4a, 4b, 4c, 4d, 27 Abs. 3 S. 1 Fassung: 2013-02-15; BtGG Art. 1 Nrn. 3, 17 Buchst. b; BVerfGG § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 2 S. 1; SGB 10 § 45 Abs. 2; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Betreuungsgeld für seinen am 21.4.2012 geborenen Sohn.
Mit Art 1 Nr 3 des Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz) vom 15.2.2013 (BGBl I 254) in das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) hat der Gesetzgeber in den §§ 4a bis 4d BEEG ab dem 1.8.2013 einen Anspruch auf Betreuungsgeld des Inhalts geschaffen, dass Eltern in der Zeit vom ersten Tag des 15. Lebensmonats bis zur Vollendung des 36. Lebensmonats ihres Kindes grundsätzlich einkommensunabhängig Betreuungsgeld in Höhe von mittlerweile 150 Euro pro Monat beziehen können, sofern für das Kind keine Leistungen nach § 24 Abs 2 iVm den §§ 22 bis 23 SGB VIII, also weder eine öffentlich geförderte Tageseinrichtung noch Kindertagespflege in Anspruch genommen werden.
Der 1980 geborene Kläger, deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland und seit September 2012 mit der Mutter seines am 21.4.2012 geborenen Sohnes verheiratet, machte mit Antrag vom 25.10.2013 erfolglos einen Anspruch auf Betreuungsgeld ab dem 1.8.2013 für seinen Sohn geltend (Bescheid vom 29.10.2013; Widerspruchsbescheid vom 7.11.2013). Das anschließende Klage- und Berufungsverfahren ist gleichfalls ohne Erfolg geblieben (Urteil des SG Karlsruhe vom 17.3.2013; Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21.10.2014). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, ein Anspruch auf Betreuungsgeld bestehe nicht, weil der Sohn des Klägers vor dem 1.8.2012 geboren sei. Nach § 27 Abs 3 S 1 BEEG in der ab 1.8.2013 geltenden Fassung des Art 1 Nr 17 Buchst b des Betreuungsgeldgesetzes werde Betreuungsgeld nicht für vor dem 1.8.2012 geborene Kinder gezahlt. Während des Revisionsverfahrens, in welchem der Kläger die Verfassungswidrigkeit dieser Stichtagsregelung rügt, hat das BVerfG am 21.7.2015 (1 BvF 2/13 - NJW 2015, 2399 bis 2405) entschieden, dass die §§ 4a bis 4d BEEG idF vom 15.2.2013 mit dem GG unvereinbar und nichtig sind.
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Der Kläger hat von einer weiteren Stellungnahme zum Urteil des BVerfG abgesehen und beantragt, |
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Oktober 2014 sowie des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. März 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. November 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. August 2013 Betreuungsgeld in gesetzlicher Höhe und Dauer für seinen am 21. April 2012 geborenen Sohn zu bewilligen. |
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach der Entscheidung des BVerfG gebe es für das klägerische Begehren keine ersichtliche Anspruchsgrundlage mehr.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.
Das LSG hat im Ergebnis die Berufung zu Recht zurückgewiesen, weil die Klage nach der Entscheidung des BVerfG vom 21.7.2015 (1 BvF 2/13) keinen Erfolg mehr haben kann. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen der Beklagten sind nicht rechtswidrig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Dieser hat schon dem Grunde nach keinen Anspruch auf die Gewährung von Betreuungsgeld für sein am 21.4.2012 geborenes Kind, sodass es auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Stichtagsregelung in § 27 Abs 3 S 1 BEEG nicht mehr ankommt.
Gegenstand des Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahrens ist die zulässig erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 iVm Abs 4 SGG), mit der sich der Kläger gegen die Ablehnung einer Betreuungsgeldgewährung für seinen Sohn für die Zeit ab 1.8.2013 wendet und dessen Leistung begehrt (Bescheid vom 29.10.2013; Widerspruchsbescheid vom 7.11.2013).
Im Ergebnis haben die Vorinstanzen zutreffend die Gewährung von Betreuungsgeld für das am 21.4.2012 geborene Kind des Klägers verneint, weil es für einen solchen Anspruch bereits an einer wirksamen Rechtsgrundlage fehlt.
Das BVerfG hat die §§ 4a bis 4d BEEG idF vom 15.2.2013 (BGBl I 254) mit Art 72 Abs 2 GG für unvereinbar und nichtig erklärt, weil die Voraussetzungen, unter denen der Bund nach Art 72 Abs 2 GG zur konkurrierenden Gesetzgebung befugt ist, fehlen. Die Frage der Vereinbarkeit des Betreuungsgeldes nach §§ 4a bis 4d BEEG mit den Grundrechten brauche vor diesem Hintergrund nicht beantwortet werden und eine Übergangsregelung nach § 35 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) erscheine nicht notwendig. Vertrauensschutzgesichtspunkten lasse sich nach § 79 Abs 2 S 1 BVerfGG gegebenenfalls iVm § 45 Abs 2 SGB X Rechnung tragen (Urteil vom 21.7.2015 - 1 BvF 2/13 - NJW 2015, 2399; siehe hierzu auch Dau, jurisPR-SozR 18/2015 Anm 1). Diese Entscheidung hat am 24.8.2015 gemäß § 31 Abs 2 BVerfGG Gesetzeskraft erlangt (BGBl I 1565).
Danach kann der Kläger bereits aufgrund der Nichtigkeit des Gesetzes zur Einführung des Betreuungsgeldes vom 15.2.2013 (BGBl I 254) keinen Anspruch mehr geltend machen (1.). Ein die Durchbrechung des Nichtigkeitsgrundsatzes rechtfertigendes Vertrauen liegt auf Seiten des Klägers ebenfalls nicht vor (2.).
1. Die Unvereinbarkeit des Betreuungsgeldgesetzes mit dem GG hat dessen Nichtigkeit und damit Unanwendbarkeit zur Folge. Regelungen die gegen höhere Normen - wie das GG - verstoßen, dürfen grundsätzlich nicht angewendet werden, da die Verwaltung und Gerichte nach Art 20 Abs 3 GG an Gesetz und Recht gebunden und deshalb gehalten sind, gesetzeswidrige Handlungen zu unterlassen (vgl BSG vom 4.12.2014 - B 2 U 11/13 R - SozR 4-2700 § 161 Nr 1 = in BSGE vorgesehen, RdNr 28 mwN; BVerfG vom 3.11.1982 - 1 BvR 620/78 ua - BVerfGE 61, 319, Juris RdNr 101 mwN). Verstößt ein Gesetz gegen das GG, so ist es grundsätzlich von Anfang an nichtig und unwirksam (vgl Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl 2014, Art 20 RdNr 33 mwN zur Rechtsprechung). Damit ist das vom BVerfG mit Gesetzeskraft für nichtig erklärte Betreuungsgeldgesetz von Anfang an unwirksam und aus diesem Gesetz können nicht bewilligte Ansprüche - wie im Falle des Klägers - nicht mehr hergeleitet werden.
2. Nichts anderes gilt für die Frage der Durchbrechung des Nichtigkeitsgrundsatzes aufgrund eines eventuellen Vertrauens in die Leistungsbewilligung im Zeitpunkt vor der Nichtigkeitsfeststellung. Das BVerfG hat den Verzicht auf die Schaffung einer Übergangsregelung nach § 35 BVerfGG damit begründet, dass genügend Vertrauensschutz der betroffenen Antragsteller gemäß § 79 Abs 2 S 1 BVerfGG gegebenenfalls iVm § 45 Abs 2 SGB X bestehe. Nach § 79 Abs 2 S 1 BVerfGG bleiben indes grundsätzlich nur nicht mehr anfechtbare Bewilligungsbescheide über Betreuungsgeld als begünstigende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung von der Nichtigkeit unberührt unter Konkretisierung durch das SGB X (siehe hierzu insgesamt: Dau, jurisPR-SozR 18/2015 Anm 1 zu C). Der Kläger kann von dieser Ausnahmevorschrift aber nicht profitieren, da er schon keine positive bescheidmäßige Betreuungsgeldgewährung erhalten hat, die hätte in Bestandskraft erwachsen können. Somit kann er keinerlei begründetes Vertrauen in eine Betreuungsgeldgewährung geltend machen. Etwas anderes ergibt sich für den vorliegenden Fall auch nicht aus der Ankündigung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wonach Eltern, die Betreuungsgeld erhalten haben, "umfassender Vertrauensschutz" zuteil werden solle (vgl Dau, aaO, zu D mit Hinweis auf www.bmfsfj.de/BMFSFJ/aktuelles). Selbst wenn diese Äußerung Vertrauen von Leistungsempfängern über die Regelung von § 79 BVerfGG hinaus begründen sollte, bezog sie sich eindeutig nur auf Inhaber eines positiven Bewilligungsbescheids. Zu dieser Gruppe zählt der Kläger nicht, weil der Beklagte seinen Antrag von Anfang an abgelehnt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 9017139 |
SGb 2016, 95 |