Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilfsmittelgewährung
Orientierungssatz
Bei der ärztlich verordneten WC-Automatik handelt es sich um ein "anderes Hilfsmittel" iS von RVO § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c, § 182b, das erforderlich ist, die körperliche Behinderung auszugleichen.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c Fassung: 1974-08-07, § 182b Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
SG Münster (Entscheidung vom 31.08.1977; Aktenzeichen S 7 Kn 75/76) |
Tenor
Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 31. August 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der klagende Landschaftsverband von der Beklagten den Ersatz der Kosten verlangen kann, die dieser für die Tochter des beigeladenen Versicherten aufgewendet hat.
Der Beigeladene ist bei der Beklagten gegen Krankheit pflichtversichert. Seine Tochter leidet an einer angeborenen Phokomelie (Mißbildung bzw. Fehlen der Arme). Für die Anschaffung einer ärztlich verordneten WC-Automatik (Clos-o-mat) gewährte der klagende Landschaftsverband dem Beigeladenen nach den §§ 39, 40, 49 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) 2.425,79 DM, nachdem die Beklagte den Antrag des Beigeladenen vom 12. September 1975 auf Anschaffung einer solchen WC-Automatik abgelehnt hatte. Die Beklagte lehnte es auch ab, dem klagenden Landschaftsverband die aufgewendeten Kosten zu ersetzen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 31. August 1977 verurteilt, 2.425,79 DM an den Kläger zu zahlen. Zur Begründung hat das SG im wesentlichen ausgeführt, nach dem gemäß § 109 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) entsprechend anwendbaren § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) könne der klagende Landschaftsverband Ersatz der für die WC-Automatik aufgewendeten Kosten von der Beklagten verlangen. Dem Beigeladenen habe gegen die Beklagte für seine behinderte Tochter ein Anspruch auf Gewährung einer derartigen WC-Automatik nach § 205 iVm § 182 b RVO zugestanden. Bei der WC-Automatik handele es sich um ein Hilfsmittel im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift, denn sie übernehme die Funktion der fehlenden Arme insoweit, als sie es der Tochter des Beigeladenen ermögliche, nach Verrichtung der Notdurft die erforderliche Säuberung vorzunehmen und überhaupt sich im Intimbereich selbst zu waschen. Der im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung herrschende Grundsatz, daß das Maß des Notwendigen nicht überschritten werden dürfe, werde durch die Gewährung der WC-Automatik nicht verletzt, denn auf andere Weise könne die Tochter des Beigeladenen nicht in die Lage versetzt werden, die genannten notwendigen Verrichtungen selbst vorzunehmen. Der Umstand, daß von den Familienangehörigen eine weitgehende Hilfe bei den der behinderten Tochter nicht möglichen Verrichtungen erwartet werden könne, stehe dem Anspruch auf Gewährung der WC-Automatik nicht entgegen, weil nach dem Willen des Gesetzgebers das Hilfsmittel den Behinderten möglichst unabhängig machen solle.
Die Beklagte hat dieses Urteil im Einverständnis mit dem klagenden Landschaftsverband mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision angefochten. Sie ist der Ansicht, bei der auf Kosten des klagenden Landschaftsverbandes beschafften WC-Automatik handele es sich nicht um ein Hilfsmittel im Sinne des § 182 Abs 1c, § 182b RVO. Hilfsmittel seien nicht zur therapeutischen Einflußnahme, sondern zum Ausgleich bestehender körperlicher Defekte bestimmt. Das Hilfsmittel solle an die Stelle eines nicht oder nicht voll funktionsfähigen Körperorgans treten und möglichst weitgehend dessen Funktion übernehmen. Es diene dem Behinderten als Ersatz für fehlende oder in ihrer Funktion beeinträchtigte Körperorgane. Diese Voraussetzungen erfülle die WC-Automatik nicht. Die Ausstattung mit einer Toilette gehöre zu jeder normalen Wohnung. Das WC habe also den Charakter eines allgemeinen Einrichtungsgegenstandes. Müsse ein solcher Einrichtungsgegenstand aufgrund der Art der Behinderung eines Versicherten oder familienhilfeberechtigten Angehörigen mit besonderen Ausstattungen beliefert oder ergänzt werden, gehe hierdurch nicht der Charakter eines allgemeinen Einrichtungsgegenstandes verloren.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der klagende Landschaftsverband beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.
Der beigeladene Versicherte ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Beklagten ist nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, obwohl das SG die Berufung nicht ausdrücklich zugelassen hat (vgl BSG SozR 1500, § 161 Nrn 11, 15; § 150 Nr. 9. Die Sprungrevision bedarf auch nicht der Zustimmung (Einwilligung) des Beigeladenen (vgl Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes in SozR 1500 Nr 18 fu § 161). Die danach zulässige Sprungrevision der Beklagten hat jedoch keinen Erfolg, denn das SG hat die Beklagte mit Recht zur Zahlung von 2.425,79 DM an den klagenden Landschaftsverband verurteilt.
Nach dem gemäß § 109 RKG entsprechend anwendbaren § 1531 RVO kann der klagende Landschaftsverband als überörtlicher Träger der Sozialhilfe von der Beklagten Ersatz nach den §§ 1532 bis 1537 RVO verlangen, weil der beigeladene Versicherte gegen die Beklagte als Träger der knappschaftlichen Krankenversicherung gemäß § 20 RKG iVm § 205, § 182 Abs 1 Nr 1 c, § 182 b RVO einen Anspruch auf die vom Kläger übernommene Leistung hatte. Im Gegensatz zu der Ansicht der Beklagten handelt es sich bei der ärztlich verordneten WC-Automatik um ein "anderes Hilfsmittel" iS der genannten Vorschriften, das erforderlich ist, die körperliche Behinderung des Kindes auszugleichen.
Wie der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden hat, ist die körperliche Reinigung ein Grunderfordernis der Hygiene, wie es sich vom Leitbild des gesunden Menschen aus darstellt (BSG SozR 2200 § 187 Nr 3). Kann eine Person, wie im vorliegenden Fall die Tochter des beigeladenen Versicherten, die Körperpflege an sich selbst nicht vornehmen, weil ihre Arme infolge von Krankheit nicht ausreichend funktionsfähig sind oder gar fehlen, so ist ein Gerät, das diese Funktionseinbuße ausgleichen kann, ein Hilfsmittel iS des § 182 b RVO, denn es ersetzt natürliche Körperfunktionen und dient medizinischen Zwecken, nämlich der Hygiene, also der Gesunderhaltung (vgl BSG Urteil vom 19. Dezember 1978 - 3 RK 26/78 -). In der zitierten Entscheidung ist bereits ausgeführt worden, daß die WC-Automatik vor allem nicht lediglich eine Hilfe bei der Beschaffung und Unterhaltung einer den Bedürfnissen des Behinderten entsprechenden Wohnung, für die nach § 29 Abs 1 Nr 3 des 1. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 1) iVm § 40 Abs 1 Nr 6a BSHG der Sozialhilfeträger unter Ausschluß der Krankenversicherung zuständig wäre. Die behindertengerechte Zurichtung einer Wohnung ist in der Regel mit einer Veränderung der Wohnung selbst verbunden.
Zutreffend hat das SG ausgeführt, daß die Anschaffung einer WC-Automatik den Rahmen des Notwendigen nicht überschreitet, weil die behinderte Tochter des Beigeladenen anders nicht in die Lage versetzt werden kann, ohne Hilfe anderer die Toilette zu benutzen und sich im Intimbereich zu waschen. Die Möglichkeit, daß die Familienangehörigen ihr dabei helfen, schließt den Anspruch auf das Hilfsmittel nicht aus, weil dieses dazu bestimmt ist, den Behinderten von der Hilfe anderer weitgehend unabhängig zu machen.
Hatte der beigeladene Versicherte danach also gegen die Beklagte gemäß § 20 RKG iVm § 205, § 182 Abs 1 Nr 1 c, § 182 b RVO einen Anspruch auf Gewährung des Hilfsmittels (WC-Automatik), so kann der klagende Landschaftsverband nach § 109 RKG iVm § 1531, § 1533 RVO von der Beklagten den Ersatz seiner Aufwendungen verlangen.
Der Senat hat die danach unbegründete Sprungrevision der Beklagten zurückgewiesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen