Leitsatz (amtlich)
Im sozialgerichtlichen Verfahren hat der Beteiligte die Anregung ("Antrag") an SG oder LSG, gemäß §§ 153 Abs 1, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO das Erscheinen des Sachverständigen im Verhandlungstermin anzuordnen, damit dieser ein von ihm schriftlich erstattetes Gutachten erläutere, grundsätzlich bereits vor dem Termin schriftlich anzubringen und deren Sachdienlichkeit darzulegen.
Orientierungssatz
Die Tatsache allein, daß ein Gericht sich Gutachten nicht anschließen will, ist nicht ausreichend, um Sachverständige im Termin vorzuladen.
Normenkette
SGG § 118 Abs 1 S 1, § 153 Abs 1; ZPO § 411 Abs 3; SGG § 106 Abs 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.06.1984; Aktenzeichen L 7/V 221/82) |
SG München (Entscheidung vom 15.07.1982; Aktenzeichen S 25/V 1711/78) |
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen sowie die Gewährung von Versorgung nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Bei dem 1923 geborenen Kläger sind laut Bescheid des Versorgungsamtes München I vom 4. Januar 1972 als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer MdE von 25 vH anerkannt: Granatsplitterverletzung an der Außenseite des rechten Unterschenkels mit etwas eingezogener, reizloser Narbe und geringem Muskeldefekt, leichte Schädigung der Schien- und Wadenbeinnerven mit Einschränkung der Fuß- und Zehenbeweglichkeit, reizlose Hautnarben an beiden Oberschenkeln und über der rechten Achillessehne, reizlose Narbe nach Splitterentfernung aus den Weichteilen der rechten seitlichen Thoraxwand.
Im März 1977 beantragte der Kläger die zusätzliche Anerkennung eines Leberschadens als Schädigungsfolge sowie die Gewährung von Versorgung nach einer MdE von mindestens 60 vH auch wegen Verschlimmerung der bereits anerkannten Kriegsschäden. Diesen Antrag lehnte der Beklagte nach Einholung eines internistischen Gutachtens durch Bescheid vom 23. Oktober 1978 ab.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat folgende schriftlichen Sachverständigengutachten eingeholt: - Gutachten des Internisten Dr. N., München, vom 1. März 1980 (die schwere Leberzirrhose des Klägers ist wahrscheinlich Wehrdienstfolge mit mindestens 70 vH; Gesamt-MdE 80 bis 100 vH); - hepatologisches Gutachten vom Chefarzt Prof. O. und Oberarzt Dr. W. vom 13. Januar 1981 (wehrdienstliche Ursache der Leberzirrhose nicht ausgeschlossen, aber nicht wahrscheinlich, da ua Möglichkeit einer Alkoholschädigung); - auf den Antrag des anwaltlich vertretenen Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Gutachten des Pathologen und Leitenden Oberarztes Dr. K., München, vom 16. November 1981 (wehrdienstlicher Anteil an Leberschädigung 50 vH; Gesamt-MdE durch Schädigungsfolgen 60 vH).
Nach mündlicher Verhandlung am 15. Juli 1982 hat das SG die Klage abgewiesen, indem es im wesentlichen Prof. O. folgte.
Der Kläger hat Berufung eingelegt und sich vor allem auf das Gutachten von Dr. K. bezogen. Mit Schriftsatz an das Landessozialgericht (LSG) vom 3. Januar 1983 beantragte er, Dr. K. gemäß § 411 Abs 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens vom 16. November 1981 zur mündlichen Verhandlung zu laden; mit einer schriftlichen Anhörung sei er ausdrücklich nicht einverstanden.
Hierauf hat das LSG ein weiteres Gutachten von dem Orthopäden Dr. F., München, vom 20. September 1983 eingeholt (ab 1. März 1982 eine um 10 vH höhere MdE für die anerkannten Schädigungsfolgen).
Mit Schriftsatz vom 4. Mai 1984 bat der Kläger um Anberaumung eines Termins und formulierte seinen Sachantrag neu, ohne den Antrag auf Ladung von Sachverständigen zu wiederholen. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 28. Juni 1984 ließ der Kläger seinen Sachantrag und laut Sitzungsniederschrift folgenden Hilfsantrag stellen: "Hilfsweise beantragt die Bevollmächtigte des Klägers, die Gutachter Dr. K. und Dr. F. vor Gericht persönlich zu ihren Gutachten zu hören."
Das LSG hat im angefochtenen Urteil vom 28. Juni 1984 die Berufung des Klägers zurückgewiesen, indem es Prof. O. folgte und eine wesentliche Änderung der anerkannten Schädigungsfolgen verneinte. Zum Hilfsantrag des Klägers ist im Urteil ausgeführt, die erstatteten Gutachten ließen keine Fragen offen, die in der mündlichen Verhandlung geklärt werden müßten. Die Tatsache allein, daß sich das Gericht diesen Gutachten nicht anschließe, biete keinen ausreichenden Grund, um diese Sachverständigen vorzuladen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision wendet sich der Kläger gegen dieses Urteil und bringt vor, das LSG habe die §§ 116 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO verletzt. Die Anhörung der gerichtlichen Sachverständigen Dr. F. und Dr. K. im Termin sei nicht nur aus seiner Sicht, sondern objektiv sachdienlich gewesen. Die erstatteten Gutachten ließen durchaus noch Fragen offen, die in einer erneuten mündlichen Verhandlung hätten geklärt werden müssen. Das ergebe sich allein schon aus der Tatsache, daß die Gutachter zu einem anderen Ergebnis als das LSG gekommen seien. Das Gutachten sei, um einer Überraschungsentscheidung vorzubeugen, erläuterungsbedürftig gewesen. Vorsorglich werde auch die Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt. Im Blick auf den inzwischen verstorbenen Zeugen Kurt K., hinsichtlich dessen er in der Klageschrift vom 15. November 1978 einen Beweissicherungsantrag gestellt gehabt habe, griffen seines Erachtens die in von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze des Beweisnotstands ein. Das LSG habe nicht beachtet, daß es nicht zu seinen Lasten gehen könne, wenn das Beweissicherungsverfahren nicht durchgeführt worden sei. Auch dies sei ein Verfahrensfehler.
Der Kläger beantragt: I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 1984 und des Urteils des Sozialgerichts München vom 17. Juli 1982 und unter Aufhebung des Bescheids des Versorgungsamtes München I vom 23. Oktober 1978 verurteilt, beim Kläger einen Leberschaden als zusätzliche Schädigungsfolge anzuerkennen und wegen dieses Leberschadens und wegen einer Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer MdE von mindestens 60 vH für die Zeit ab 1. März 1973 zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen. II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung ist die angefochtene Entscheidung materiell richtig und frei von Verfahrensmängeln.
Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Die gerügten Verfahrensfehler liegen nicht vor.
Nach §§ 153 Abs 1, 118 Abs 1 Satz 1 SGG sind für die Beweisaufnahme vor dem LSG ua die §§ 402 bis 414 ZPO über die Beweisaufnahme durch Sachverständige entsprechend anzuwenden. Anstelle der Erstattung des Gutachtens in der mündlichen Verhandlung (§§ 402, 395 ff, 411 Abs 1 ZPO) kann das Prozeßgericht gemäß § 411 Abs 1 Satz 1 ZPO die schriftliche Begutachtung anordnen. Der Sachverständige hat in diesem Fall das schriftliche Gutachten auf der Geschäftsstelle des Prozeßgerichts niederzulegen.
Gleichwohl kommt eine Aussage auch des Sachverständigen, der ein schriftliches Gutachten erstattet hat, in der auf die schriftliche Begutachtung folgenden mündlichen Verhandlung in Betracht, und zwar nach folgenden Vorschriften der ZPO: 1) Nach §§ 402, 397 Abs 2 ZPO haben die Beteiligten das Recht, im Termin an den Sachverständigen Fragen zu richten (Befragungsrecht). Gegenüber der Rechtslage allein nach den Vorschriften der ZPO ergeben sich aus § 116 SGG (Fragerecht der Beteiligten bei der Beweisaufnahme), aus §§ 103, 109 SGG (Amtsermittlungspflicht des Gerichts; Pflicht des Gerichts, einen von einem Beteiligten benannten Arzt gutachtlich zu hören) sowie aus dem Fehlen zivilprozessualer Ausschlußfristen ("Präklusionen", vgl zB § 296 Abs 2 ZPO) Besonderheiten im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu Schur, SGb 1985 Seite 529 und Urteil des 2. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 30. April 1985 - 2 RU 81/84).
2) Nach § 411 Abs 3 ZPO kann das Gericht das Erscheinen des Sachverständigen anordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutere.
Die beiden Möglichkeiten der mündlichen Anhörung des Sachverständigen nach Erstattung des schriftlichen Gutachtens unterscheiden sich also dadurch, daß die Möglichkeit 1) ein Recht der Prozeßbeteiligten, an den Sachverständigen Fragen zu richten, die Möglichkeit 2) dagegen die Befugnis des Prozeßgerichts selbst statuiert, von sich aus, "von Amts wegen", also ohne Anregung oder Antrag eines Beteiligten den Sachverständigen zum Termin zu laden und dort zu hören, um irrige tatsächliche Annahmen, Lücken oder Widersprüche im schriftlichen Gutachten in Gegenwart der Parteien mündlich zu erörtern und nach Möglichkeit auszuräumen (vgl dazu insbesondere Ankermann in NJW 1985 Seite 1204 und Urteil des 9. Senats des BSG vom 27. Juni 1984 - 9b RU 48/83).
Der Umstand, daß die Prozeßbeteiligten nicht gehindert sind, ein Tätigwerden des Prozeßgerichts von Amts wegen nach § 411 Abs 3 ZPO anzuregen (vgl hierzu Urteil des 9. Senats des BSG aaO), hat dazu geführt, daß in Rechtsprechung und Rechtsliteratur zwischen beiden Möglichkeiten der mündlichen Gutachtenserläuterung durch den Sachverständigen häufig nicht näher unterschieden wird (vgl zB BSG in SozR Nr 160 zu § 162 SGG; BGHZ 35, 370, 372 f; BVerwG MDR 1973 Seite 21 und in NJW 1964, Seite 2645, 2646; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 44. Aufl, Anm 5b mit zahlreichen Nachweisen). Das ist bei der funktionalen Ähnlichkeit der beiden Antragsmöglichkeiten verständlich. Es bleibt aber festzuhalten, daß dort, wo der Beteiligte nicht sein Recht, an den Sachverständigen Fragen zu stellen, ausüben, vielmehr die Anregung ("Antrag") nach § 411 Abs 3 ZPO vorbringen will, bestimmten Anforderungen genügt sein muß:
- Die Anregung muß Ausführungen enthalten, aufgrund derer sich das Gericht schlüssig werden kann, ob es überhaupt Anlaß hat, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens zum Termin zu laden; - die Anregung muß der Konzentrationsmaxime (vgl § 106 Abs 2 SGG) genügen, dh sie muß so rechtzeitig nach Erstattung des schriftlichen Gutachtens in der Regel schriftlich beim Prozeßgericht eingebracht werden, daß dieses in der Lage ist, den Sachverständigen noch zum nächsten Termin zu laden und die Streitsache in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen; - zugleich hat der antragstellende Beteiligte so seiner Pflicht nach § 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG nachzukommen, bei der Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen mitzuwirken, dem jede Phase des Beweisverfahrens dient.
Einen Antrag, der diesen Anforderungen nicht genügt, kann das Prozeßgericht ablehnen, ohne daß es das ihm durch § 411 Abs 3 ZPO eingeräumte Ermessen überschritte.
Für den vorliegenden Fall, in dem sich der anwaltschaftlich vertretene Kläger ausdrücklich auf § 411 Abs 3 ZPO berufen und eine schriftliche Befragung des Sachverständigen "ausdrücklich" abgelehnt hat (Schriftsatz an das LSG vom 28. März 1983), ergibt sich: Den Antrag des Klägers auf Ladung des Sachverständigen Dr. K. zur Erörterung seines schriftlichen Gutachtens in der mündlichen Verhandlung hätte der - schon damals anwaltschaftlich vertretene - Kläger bereits vor dem in der ersten Instanz abgehaltenen Termin am 15. Juli 1982 schriftlich einreichen müssen; der Sachverständige hatte nämlich dem SG sein schriftliches Gutachten schon unter dem 16. November 1981 erstattet. Eine mündliche Anhörung erst in der nächsten, in der Berufungsinstanz vor dem LSG war daher nicht veranlaßt; der vor dem LSG erstmals gestellte Antrag nach § 411 Abs 3 ZPO war daher verspätet (vgl hierzu auch BGHZ 35, 370). Das LSG konnte ihn daher ohne Verletzung von schutzwürdigen Interessen des Klägers ablehnen.
Der in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 28. Juni 1984 weiter erstmals gestellte Antrag, auch den vom LSG schriftlich gehörten Sachverständigen Dr. F. zu laden, genügt keiner der vorstehend dargestellten Anforderungen: Er ist nicht bereits vor der Sitzung schriftlich vorgebracht worden; darüber hinaus aber läßt die Sitzungsniederschrift nicht erkennen, daß der Kläger die Sachdienlichkeit seines Antrags dargetan hätte.
Auch ein nicht ordnungsgemäßer Antrag hätte freilich dem LSG Anlaß geben können, die Frage der Ladung des Sachverständigen unter dem Gesichtspunkt des § 411 Abs 3 ZPO zu prüfen. Das aber hat das LSG getan und im angefochtenen Urteil auf Seite 9 Nr III ausgeführt, der Inhalt der Gutachten lasse keine Fragen offen, die in mündlicher Verhandlung geklärt werden müßten. Die Tatsache allein, daß sich ein Gericht Gutachten nicht anschließe, sei nicht ausreichend, um Sachverständige vorzuladen.
Soweit der Kläger schließlich als Verfahrensmangel rügt, das LSG habe "Grundsätze des Beweisnotstandes" nicht angewandt, ist unklar, welche Verfahrensrechtsnorm der Kläger als verletzt rügen will (vgl § 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu fehlen Ausführungen.
Nach allem war die Revision des Klägers unbegründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen