Leitsatz (redaktionell)
Dienstzeiten in der zaristisch-russischen Armee und in der Weißen Armee (1912 bis 1921) sind keine Ersatzzeiten iS von AVG § 28 Abs 1 Nr 1 und Abs 2; sie können deshalb weder den Anschluß der Schulzeit an die versicherungspflichtige Beschäftigung nach AVG § 36 Abs 1 Nr 4 bewirken und damit zur Anrechnung einer längeren Ausfallzeit führen, noch können sie als Versicherungszeiten der Rentenberechnung (AVG §§ 32a, 35) zugrunde gelegt werden.
Die Militärdienstzeiten wären nach AVG § 28 Abs 1 Nr 1 allenfalls Ersatzzeiten, wenn der Kläger zum Personenkreis des BVG § 2 Abs 2 gehörte. Der Kläger, der sich auf seine Flucht im Jahre 1921 beruft, ist aber nicht Vertriebener iS von BVFG § 1. Die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes vor dem 1945-05-09 steht bei ihm daher nicht dem Dienst in der deutschen Wehrmacht gleich. Etwas anders gilt auch nicht deshalb, weil BVG § 2 Abs 2 zur Zeit des Versicherungsfalles (1958) anders gefaßt war. Auch bei den hier genannten "deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen, die umgesiedelt, ausgewiesen oder geflüchtet sind" müssen Ereignisse vorgelegen haben, die mit dem 2. Weltkrieg oder dem Nationalsozialismus im Zusammenhang stehen. Dies ergibt sich aus BVFG § 104 Abs 1, wonach ein einheitlicher Vertriebenen- und Flüchtlingsbegriff gilt, sowie aus der Fassung, die BVG § 2 Abs 2 durch die beiden Neuordnungsgesetze erhalten hat.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; AVG § 32a Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255a Fassung: 1965-06-09; AVG § 35 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1258 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2 Abs. 2 Fassung: 1964-02-21; BVFG § 1 Fassung: 1953-05-19, § 104 Abs. 1
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Mai 1963 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Anrechnung von Ausfall- und Ersatzzeiten. Die Beklagte gewährte dem Kläger, der in C geboren ist und im November 1921 erstmals in Deutschland eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat, das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) von Januar 1958 an. Sie rechnete hierbei eine pauschale Ausfallzeit (9 Monate) nach Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) an. Der Kläger ist der Meinung, ihm müßten die (längeren) Zeiten seines Schulbesuches in L. von Januar 1908 (Vollendung des 15. Lebensjahres) bis Juli 1911 (Abitur) als Ausfallzeiten angerechnet werden. Außerdem erstrebt er die Anrechnung folgender Zeiten als Ersatzzeiten:
Militärdienst bei der zaristisch-russischen Armee von Oktober 1912 bis Juli 1913 und Mai bis Anfang Juli 1914;
Kriegsdienst in dieser Armee vom 20. Juli 1914 bis 3. Februar 1918 (sowie anschließende Arbeitslosigkeit bis November 1918) und
Dienst in der sog. Weißen Armee der Generale D. und W. von Dezember 1918 bis August 1921.
Die Klage und die Berufung des Klägers waren ohne Erfolg. Das Bayerische Landessozialgericht - LSG - (Urteil vom 14. Mai 1963) war der Auffassung, der Dienst in der Weißen Armee falle nicht unter § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG, weil der Kläger ihn nicht auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht, sondern freiwillig geleistet habe. Die übrigen Zeiten seien schon deshalb nicht anrechenbar, weil der Kläger nicht innerhalb von zwei Jahren danach oder nach einer anschließenden Ersatzzeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen habe (§§ 28 Abs. 2 Buchst. a, 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aF).
Mit der - nicht zugelassenen - Revision verfolgt der Kläger den Anspruch auf die Anrechnung der Ausfall- und Ersatzzeiten weiter.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten des Bayerischen LSG in Sachen K. gegen Versorgungsamt Augsburg (KBe 1609/50 V. 6229/56 e - beigezogen.
Die Revision ist, obwohl das LSG sie im angefochtenen Urteil nicht zugelassen hat, statthaft, weil der Kläger einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Mangel des Verfahrens ordnungsgemäß gerügt hat (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das Vorbringen des Klägers, das LSG habe seiner Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts nicht genügt und deshalb gegen § 103 SGG verstoßen, trifft zu.
Die Revision macht geltend, für die Entscheidung des Rechtsstreits sei es nach der Auffassung des LSG darauf angekommen, ob der Kläger in der Weißen Armee als Wehrpflichtiger, d. h. auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht, gedient habe. Der Kläger trägt weiter vor, das LSG habe sich insoweit ausdrücklich auf das Urteil eines anderen Senats des LSG vom 15. Oktober 1959 (Breithaupt 1960 S. 51) bezogen; dieses Urteil wiederum sei auf ein Sachverständigengutachten des Ost-Europa-Instituts in M vom 5. Februar 1958 gegründet gewesen. Das LSG habe aber die Akten, die das Gutachten enthielten, nicht beigezogen und das Gutachten nicht eingesehen. Hätte das LSG dies getan, so hätte es erkennen können und müssen, daß die damaligen Sachverständigen nicht in der Lage gewesen seien, die ihnen gestellten Fragen (auf deren Beantwortung es auch im vorliegenden Rechtsstreit ankomme) zuverlässig zu beantworten und deshalb die Einholung eines weiteren Gutachtens vorgeschlagen hätten.
Diese Darstellung des Klägers wird durch die Gründe des angefochtenen Urteils und durch die beigezogenen Akten in der Sache K im wesentlichen bestätigt. Allerdings ist nicht ersichtlich, ob das LSG die Akten in der Sache K. beigezogen oder ob es hiervon abgesehen hat. Darauf kommt es aber nicht an; sowohl in dem einen, wie in dem anderen Fall hat es die Aufklärungspflicht verletzt. Hat es die Akten nicht beigezogen, so liegt hierin der Fehler, weil es seine Auffassung über das Wehrverhältnis des Klägers auf das in diesen Akten enthaltene Gutachten des Ost-Europa-Instituts stützen wollte. Aber selbst wenn das Gericht das Gutachten eingesehen hätte, wäre das Verfahren fehlerhaft. Angesichts der eigenen Zweifel der Gutachter an ihrem Ergebnis hätte das Berufungsgericht, weil es ihm auf das Wehrverhältnis des Klägers in den Jahren 1918 bis 1921 ankam, weitere Ermittlungen anstellen müssen. Dem kann nicht entgegen gehalten werden, es handele sich um Rechtsvorschriften, die der Richter kennen müsse. Denn hier ging es um ausländische (russische) Rechtsvorschriften, deren Kenntnis von einem deutschen Gericht nicht zu erwarten ist. Dieses ist vielmehr verpflichtet, das ausländische Recht zu erforschen (vgl. Urteil vom 25. Juni 1964 - 4 RJ 343/61 - BSG 21, 151, 154). Deshalb kann eine Verfahrensrüge auch auf die unzureichende Ermittlung ausländischen Rechts gestützt werden (Stein/Jonas, Komm. z. ZPO § 293 Anm. III; RGZ 126, 202). Die Revision hat schließlich auch aufgezeigt, was das LSG zur weiteren Aufklärung noch im einzelnen hätte tun können. Sie hat insbesondere auf den Vorschlag im Gutachten des Ost-Europa-Instituts verwiesen, ein zusätzliches Gutachten des Instituts für Ostrecht einzuholen.
Die wegen des ordnungsgemäß gerügten Verfahrensmangels statthafte Revision ist aber nicht begründet. Das Urteil des LSG ist im Ergebnis richtig. Allerdings kommt es entgegen der Auffassung des LSG für die Entscheidung nicht darauf an, ob der Kläger in der Weißen Armee als Wehrpflichtiger oder als Freiwilliger gedient hat. Seine Dienstzeiten in der zaristisch-russischen Armee und in der Weißen Armee (1912 bis 1921) sind aus einem anderen Grunde keine Ersatzzeiten im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AVG; sie können deshalb weder als Versicherungszeiten der Rentenberechnung (§§ 32 a, 35 AVG) zugrunde gelegt werden noch den Anschluß der Schulzeit (1908 bis 1911) an die versicherungspflichtige Beschäftigung (1921) nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG bewirken und damit zur Anrechnung einer längeren Ausfallzeit führen. Ohne die Berücksichtigung von Ersatzzeiten beginnt nämlich die in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gesetzte Frist von ursprünglich zwei Jahren (jetzt fünf Jahren - verlängert durch das RVÄndG vom 9. Juni 1965, BGBl I 476) mit dem Ende der Schulausbildung; sie war daher im Jahre 1921 längst abgelaufen.
Zeiten des militärischen Dienstes werden als Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nur angerechnet, wenn es sich um einen militärischen Dienst im Sinne von § 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) handelt. Das ist nach Abs. 1 dieser Vorschrift in erster Linie der Dienst als Soldat in der deutschen Wehrmacht. Nach § 2 Abs. 2 BVG in der Fassung des Gesetzes vom 1. Juli 1957 (BGBl I 661) steht bei deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen, die umgesiedelt, ausgewiesen oder geflüchtet sind, allerdings auch die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes dem Dienst in der deutschen Wehrmacht gleich. Diese Vorschrift hat inzwischen durch das Erste Neuordnungsgesetz (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) und durch das 2. NOG vom 21. Februar 1964 (BGBl I 85) eine neue Fassung erhalten. Danach ist der Personenkreis nunmehr durch Verweisung auf § 1 des Bundesvertriebenen-Flüchtlingsgesetzes (BVFG) abgegrenzt. § 2 Abs. 2 BVG ist aber weder in der neuen noch in der früheren Fassung auf den Kläger anwendbar.
Es kann, obwohl das LSG hierüber nichts festgestellt hat, unterstellt werden, daß der Kläger - mindestens - deutscher Volkszugehöriger ist. Er gehört aber nicht zu den in § 2 Abs. 2 BVG aF genannten Personen, die ausgewiesen, umgesiedelt oder geflüchtet sind. Damit sind nur Umsiedlungen, Ausweisungen und Fluchten im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg gemeint. Dies geht zwar nicht unmittelbar aus § 2 Abs. 2 BVG aF hervor; der Wortlaut dieser Vorschrift könnte alle jemals aus fremden Staaten ausgewiesenen, umgesiedelten oder geflüchteten Personen betreffen, auch Ereignisse im Zusammenhang mit dem 1. Weltkrieg umfassen. Aus den Gesetzesmotiven ist insoweit nichts zu entnehmen, ebensowenig aus den Verwaltungsvorschriften zu § 2 BVG. Aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift folgt aber, daß sie sich nicht auf Ereignisse beziehen kann, die - wie die Flucht des Klägers aus Rußland nach der Niederlage der Weißen Armee im Jahre 1921 - allenfalls im Zusammenhang mit dem 1. Weltkrieg und dessen Auswirkungen stehen. Auch das von der Beklagten erwähnte Urteil des Bayerischen LSG vom 12. März 1963 (Bayer. Amtsbl. 64 B 13) bezieht § 2 Abs. 2 BVG aF nur auf Ereignisse im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg, weil das Gesetz nur den Zweck verfolgen könne, die 1940 planmäßig einsetzenden Umsiedlungsmaßnahmen usw. zu erfassen. In der Literatur vertreten Röckner/Bluschke (BVG § 2 Anm. 6) die Ansicht, daß jedenfalls seit dem Inkrafttreten des BVFG (5. Juni 1953) auch im Rahmen des § 2 Abs. 2 BVG aF die Abgrenzung des § 1 BVFG maßgeblich sei; sie stützten ihre Auffassung auf § 104 BVFG, der bestimmt, daß dort, wo Bundesgesetze den Vertriebenen- oder Flüchtlingsbegriff verwenden, die Vorschriften des 1. Titels des BVFG zugrunde zu legen sind. Dieser Auffassung tritt der Senat bei.
§ 104 Abs. 1 BVFG spricht von dem "Vertriebenen- und Flüchtlingsbegriff"; diese Vorschrift ist deshalb auch da anzuwenden, wo nicht wörtlich, aber wie in § 2 Abs. 2 BVG aF sinngemäß die Vertriebenen angesprochen sind. Dabei fällt auf, daß das BVFG sonst den Begriff "Flüchtling" nicht kennt, sondern nur den "Sowjetzonen-Flüchtling" (§§ 3 und 4 BVFG). Diese anscheinend ungenaue Ausdrucksweise in § 104 BVFG spricht ebenfalls dafür, daß es nicht von der Verwendung der Worte "Vertriebener" oder "Flüchtling" in den anderen Bundesgesetzen abhängen kann, ob § 104 BVFG eingreift. Diese Vorschrift will vielmehr erreichen, daß in allen Gesetzen, die sich mit Angelegenheiten der Vertriebenen befassen, ein einheitlicher Begriff zugrunde gelegt wird.
§ 2 Abs. 2 BVG aF ist eine Vorschrift, die diesem Bereich angehört. Bei den Umsiedlern ist dies besonders deutlich, weil dieser Personenkreis in § 1 Abs. 1 Nr. 2 BVFG ausdrücklich beschrieben wird. Aber auch die Tatbestände der Ausweisung und der Flucht sind in § 1 Abs. 1 BVFG erwähnt. § 2 Abs. 2 BVGG aF behandelt also die gleichen Begriffe wie § 1 BVFG, die Vorschrift muß daher als ein Gesetz angesehen werden, das den Vertriebenen- und Flüchtlingsbegriff verwendet. Die hier genannten Tatbestände sind deshalb im Sinne des § 1 BVFG zu beurteilen, der sich nach Wortlaut und Sinn nicht auf Ereignisse bezieht, die - wie die Flucht des Klägers aus Rußland im Jahre 1921 - nur mit dem 1. Weltkrieg in Zusammenhang gebracht werden können. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird durch die Neufassung, die § 2 Abs. 2 BVG durch die beiden Neuordnungsgesetze erfahren hat, bestätigt: Diese Gesetze haben den Personenkreis auf "Vertriebene im Sinne des § 1 BVFG, die Deutsche oder deutsche Volkszugehörige sind", abgegrenzt. Bei dieser Neufassung handelt es sich nach Auffassung des Senats nicht um eine Einschränkung des bisher berechtigten Personenkreises (die Motive sprechen vielmehr von einer "Erweiterung" - vgl. Begründung zu § 2 in BT-Drucks. III. Wp., Nr. 1825 S. 3), sondern um eine Klarstellung dessen, was schon bisher - jedenfalls seit dem Inkrafttreten des § 104 BVFG - gegolten hat.
Der Kläger ist nicht Vertriebener im Sinne von § 1 BVFG. Da er somit nicht von § 2 Abs. 2 BVG erfaßt wird, sind die von ihm in Rußland zurückgelegten Militär- und Kriegsdienstzeiten keine Ersatzzeiten im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Seinem Begehren nach Anrechnung dieser Zeiten als Ersatzzeiten und der vorhergehenden Schulzeit als Ausfallzeit kann daher nicht entsprochen werden.
Die Revision des Klägers erweist sich deshalb als im Ergebnis unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen