Leitsatz (redaktionell)
Zum Begriff "Nicht nur vorübergehender Aufenthalt."
Normenkette
SVAbk AUT 2 Art. 5 Fassung: 1953-07-11
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Juli 1963 aufgehoben, soweit die Beklagte zur Gewährung von Altersruhegeld vom 1. September 1960 an verurteilt worden ist. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 1. März 1962 wird auch insoweit zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Leistungen aus der deutschen Rentenversicherung beanspruchen kann.
Der Kläger, Vertriebener aus B (CSR), entrichtete bis 1945 Beiträge zur tschechoslowakischen Pensionsversicherung. Nach Kriegsende erhielt er von den tschechischen Behörden eine Ausreisegenehmigung nach Bayern, wurde jedoch auf dem Wege dorthin in Österreich zurückgehalten. Er fand mit seiner Familie (Ehefrau und Sohn) eine Wohnung in L und nahm dort auch eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf. Nach längeren Bemühungen gelang es ihm, im Juni 1953 einen deutschen Paß zu erhalten und im Februar 1956 zu seiner in M verheirateten Tochter überzusiedeln.
Den ersten Antrag des Klägers auf Altersruhegeld vom 2. November 1954 gab die Beklagte an die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten in W ab. Dieser Versicherungsträger sprach dem Kläger die Altersrente vom 1. Januar 1955 an zu und berechnete sie aus den tschechoslowakischen und österreichischen Versicherungszeiten.
Einen weiteren bei der Beklagten gestellten Antrag vom 10. April 1956 lehnte diese mit formlosem Schreiben vom 12. Dezember 1957 ab: Der Kläger habe sich am Tage der Unterzeichnung des Zweiten deutsch-österreichischen Sozialversicherungs-Abkommens (2. SV-Abk.) vom 11. Juli 1953 (BGBl II 1954 S. 773) nicht nur vorübergehend in Österreich aufgehalten, deshalb habe ihm nur der österreichische Versicherungsträger Leistungen zu gewähren.
Im September 1960 beantragte der Kläger unter Hinweis auf § 79 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) seine "Herausnahme aus dem deutsch-österreichischen Abkommen". Für seine Behauptung, er habe sich am Stichtag des 2. SV-Abk. nur vorübergehend und gezwungenermaßen in Österreich aufgehalten, legte er mehrere Unterlagen vor.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20. Dezember 1960 ab, weil der Anspruch des Klägers nach dem 2. SV-Abk. zu beurteilen sei und dieses Vorrang vor den Vorschriften des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes vom 25. Februar 1960 (FANG) habe.
Das Sozialgericht (SG) München wies die Klage ab (Urteil vom 1. März 1962). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) verurteilte die Beklagte unter Zurückweisung der Berufung im übrigen, dem Kläger Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung vom 1. September 1960 an zu gewähren. Es ging davon aus, die Beklagte habe mit ihrem Bescheid vom 20. Dezember 1960 ihre früheren ablehnenden Entscheidungen im Rahmen des § 79 AVG überprüft und vom 1. September 1960 an auf deren Bindungswirkung verzichten wollen. In diesem Umfang sei der Bescheid vom 20. Dezember 1960 sachlich nachzuprüfen; ein Vorverfahren sei nicht erforderlich. Zu Unrecht habe die Beklagte angenommen, daß sich der Kläger am 11. Juli 1953 nicht nur vorübergehend in Österreich aufgehalten habe. Er habe vielmehr von Anfang an die Absicht gehabt, nicht in Österreich zu bleiben, sondern in das Gebiet der Bundesrepublik zu verziehen. Dieser Wille sei nach dem Sinn und Zweck des 2. SV-Abk. zu berücksichtigen. Dem Kläger könne es nicht zum Nachteil gereichen, daß ihm der Umzug erst 1956 möglich und zumutbar gewesen sei (Urteil vom 30. Juli 1963).
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG München in vollem Umfang zurückzuweisen.
Sie hält die Vorschrift des § 79 AVG für verletzt. Das LSG habe zu Unrecht seine eigene Rechtsauffassung an die Stelle derjenigen der Beklagten gesetzt, statt lediglich zu beurteilen, ob die Beklagte bei der Überprüfung im Rahmen des § 79 AVG offensichtlich fehlerhaft vorgegangen sei. Das sei im Hinblick auf die Rechtsprechung zu dem Begriff des nicht nur vorübergehenden Aufenthaltes zu verneinen. Das LSG habe auch Art. 4 Abs. 1 Nr. 4 des Teiles III des 2. SV-Abk. unrichtig angewendet, weil es dem Willen des Klägers, in die Bundesrepublik überzusiedeln, wesentliche Bedeutung beigemessen habe.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und im Ergebnis begründet. Der Kläger hat auch für die Zeit vom 1. September 1960 an keinen Anspruch auf Leistungen aus der deutschen Rentenversicherung.
Das Berufungsgericht konnte den Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 1960 in vollem Umfang überprüfen. Zwar ist ein im Rahmen des § 79 AVG ergehender negativer "Zweitbescheid" vom Gericht regelmäßig nur daraufhin zu beurteilen, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner Überzeugung offensichtlich fehlerhaft gehandelt hat - und auch dies nur nach einem Vorverfahren und innerhalb einer Aufhebungs- und Verpflichtungs- (nicht Leistungs-)klage (vgl. BSG Urteil vom 18. November 1960 - 4 RJ 305/59 -, Breithaupt 1961 S. 342; vom 29. März 1963 - 2 RU 234/59 - BSG 19 S. 38; vom 23. April 1963 - 1 RA 15/60 - BSG 19 S. 93; vom 18. Februar 1964 - 11/1 RA 90/61 - BSG 20 S. 199; vom 10. Dezember 1964 - 5 RKn 85/61 - SozR RKG § 93 Bl. Aa 1 Nr. 1). Im vorliegenden Fall hat es sich aber - entgegen der Meinung der Beteiligten und des LSG - nicht um einen im Rahmen des § 79 AVG ergangenen Bescheid gehandelt. Ein solcher Bescheid liegt nur dann vor, wenn die Richtigkeit eines früheren Verwaltungsaktes, d. h. die aus dem seinerzeit gegebenen Sachverhalt nach damaligem Recht gezogene Rechtsfolge, überprüft wird. Wie der im angefochtenen Urteil wiedergegebene Inhalt des umstrittenen Bescheides ersehen läßt, hat aber die Beklagte nicht ihre früheren Entscheidungen auf Grund des z. Zt. ihres Erlasses geltenden Rechts überprüfen wollen und überprüft, sondern den erhobenen Anspruch erstmalig nach dem inzwischen erlassenen FANG vom 25. Februar 1960 (BGBl I S. 93) beurteilt. Wenn auch der Verfügungssatz dieses Bescheides mit dem der früheren übereinstimmte, stellte er deswegen doch eine neue sachliche Entscheidung dar, gegen die der Rechtsweg uneingeschränkt beschritten werden konnte (vgl. BSG Urt. vom 18. Oktober 1960 - 11 RV 240/58 - BSG 13, 86 (88) und auch BVerwG Urt. vom 29. Januar 1964 in Verw-Rechtspr. Bd. 16 S. 767).
Da der Kläger keine Revision eingelegt hat, hat der Senat nur zu prüfen, ob ihm vom 1. September 1960 an ein Anspruch auf Altersruhegeld aus der deutschen Rentenversicherung zusteht. Das ist, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts, zu verneinen. Der Kläger hat keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung geleistet. Die seit 1945 in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten gehören nach Art. 24 des Ersten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich vom 21. April 1951 zur österreichischen Versicherungslast. Das gleiche gilt für die Anwartschaft aus den bis 1945 in der CSR zurückgelegten Beitragszeiten. Nach Art. 4 Abs. 1 Ziff. 4; Art. 5 des 2. SV-Abk. werden für im Gebiet der Tschechoslowakei zurückgelegte Versicherungszeiten Leistungen ausschließlich von dem österreichischen Versicherungsträger gewährt, wenn sich der Versicherte zur Zeit der Unterzeichnung des Abkommens - am 11. Juli 1953 - nicht nur vorübergehend im Gebiet der Republik Österreich aufgehalten hat. Dieser Regelung, der - wie das LSG richtig erkannt hat - Vorrang vor den innerdeutschen Vorschriften des Fremdrentengesetzes (FRG) - § 2 Buchst. b - zukommt (vgl. auch Urt. vom 27. Mai 1964 - 1 RA 145/60 - BSG 21 S. 91, 93), unterliegt auch der Kläger, weil er sich nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG am Stichtag bereits etwa 8 Jahre ununterbrochen in Österreich aufhielt und darüber hinaus dort noch fast drei Jahre verblieb. Der Ansicht des Berufungsgerichts, der Aufenthalt in Österreich sei trotz dieser langen Dauer als vorübergehender anzusehen, weil der Kläger von Anbeginn an die Absicht gehabt habe, in das Gebiet der Bundesrepublik überzusiedeln, kann nicht gefolgt werden. Sie beruht auf einer Verkennung des Begriffs des "nicht nur vorübergehenden Aufenthaltes". Unter "Aufenthalt" ist - anders als bei dem rechtsgeschäftlich begründeten "Wohnsitz" - ein rein tatsächliches Verweilen zu verstehen, ohne daß es auf die Gründe hierfür ankäme (vgl. Entsch. d. RVA Nr. 3468 AN 1929 S. 272 und Nr. 4204 AN 1931 S. 447; BSG Urt. vom 21. Dezember 1955 - 3 RJ 191/51 - BSG 2 S. 150; vom 21. April 1959 - 2 RU 293/56 - BSG 9 S. 266; vom 7. März 1962 - 9 RV 846/59 - VersorgB 1962 Nr. 8 Rechtspr. Nr. 67). Ein "nicht nur vorübergehender Aufenthalt" setzt daher lediglich ein tatsächliches Verweilen von gewisser Dauer voraus; der Wille, den Aufenthalt aufrechtzuerhalten oder abzubrechen, hat demgegenüber keine Bedeutung. Diese Ansicht hat der Senat auch in seiner Entscheidung vom 27. Mai 1964 - 1 RA 145/60 - (BSG 21 S. 91, 93) vertreten; in gleicher Weise hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in einem späteren, nicht veröffentlichten Urteil für den Begriff des "ständigen Aufenthalts" im Sinne des § 1 FAG die Willensrichtung des Betreffenden als unmaßgeblich erachtet (Urt. vom 31. März 1965 - 2 RU 229/61 - mit ausführlichen Zitaten). Diese Auslegung stimmt nicht nur mit dem üblichen Verständnis der Begriffe des nicht nur vorübergehenden, des ständigen oder des gewöhnlichen Aufenthalts überein, sie wird auch allein dem Sinn und Zweck der im 2. SV-Abk. getroffenen Regelung gerecht: Mit der Bestimmung eines Stichtages soll eine klare Abgrenzung des von dem Vertrage betroffenen Personenkreises ermöglicht werden, um die davon abhängige Lastenverteilung zwischen der deutschen oder der österreichischen Sozialversicherung eindeutig festzulegen. Dieses Ziel ist aber nur dann zu erreichen, wenn die Grenzziehung nach objektiven, zweifelsfrei feststellbaren Merkmalen vorgenommen werden kann. Dem entspricht es, an die leicht zu ermittelnde tatsächliche Verweildauer anzuknüpfen, die Willensrichtung der betreffenden Personen aber unberücksichtigt zu lassen. Danach kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht darauf an, ob der Kläger von Anbeginn an die Absicht hatte, in das Gebiet der Bundesrepublik zu verziehen, und ob und wodurch er an der Verwirklichung dieser Absicht gehindert wurde. Bei einer Verweildauer von etwa 8 Jahren bis zum Stichtag hatte der Kläger damals seinen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt in Österreich. Die vom Kläger in der CSR zurückgelegten Beitragszeiten sind danach vom österreichischen Versicherungsträger ebenso zu honorieren wie die in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten.
Die Rechtslage hat sich insoweit auch nicht durch den deutsch-österreichischen Finanz- und Ausgleichsvertrag vom 27. November 1961 (in Kraft seit dem 11. Oktober 1962 - BGBl II 1457) und das dazu ergangene Gesetz vom 21. August 1962 (BGBl II 1041) geändert. Nach Art. 18 dieses Vertrages ist allerdings Teil III des 2. SV-Abk. mit den im vorliegenden Fall maßgeblichen Regelungen der Art. 4 und 5 rückwirkend zum 1. Januar 1961 außer Kraft gesetzt worden. Dadurch ist dem Kläger aber aus den in der CSR zurückgelegten Beitragszeiten kein Leistungsanspruch gegen den deutschen Versicherungsträger erwachsen. Das ergibt sich ausdrücklich aus der Note V zu dem Vertrag, in der sich die Republik Österreich verpflichtet hat, die von Teil III des 2. SV-Abk. erfaßten Leistungsansprüche und Anwartschaften deutscher Staatsangehöriger so zu behandeln, als wären sie im Gebiet der Republik Österreich entstanden. Damit sind die betreffenden Beitragszeiten endgültig in das österreichische Sozialversicherungssystem eingegliedert worden.
Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Zahlung eines Unterschiedsbetrages nach Art. 7 des Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 1961 zu. Die Voraussetzungen dieser der Besitzstandswahrung dienenden Vorschrift (vgl. Bundestag 4. Wahlperiode Drucks. IV/392 Begründung zu Art. 7 S. 5) liegen nicht vor: Weder hatte der Kläger vor dem Inkrafttreten des Finanz- und Ausgleichsvertrages einen Anspruch auf Leistungen gegen einen deutschen Versicherungsträger, der durch den Vertrag in die österreichische Versicherungslast gefallen ist, noch wurden ihm vor dem 2. SV-Abk. deutsche Versicherungsleistungen gewährt, die nach Teil III des 2. SV-Abk. vom österreichischen Versicherungsträger übernommen worden sind.
Danach kann der Kläger keine Leistung aus der deutschen Rentenversicherung beanspruchen; vielmehr sind ihm Leistungen ausschließlich vom österreichischen Versicherungsträger zu gewähren. Dieser hat seine Verpflichtung auch ausdrücklich anerkannt. Daß seine Leistungen zur Zeit geringer als die der deutschen Sozialversicherung sind, mag für den Kläger eine gewisse Härte bedeuten; sie beruht auf den unterschiedlichen Sozialversicherungssystemen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der beiden Länder. Dieser Umstand kann aber nicht dazu führen, die deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommen entgegen ihrem Wortlaut und Sinn auszulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen