Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswürdigung. Sachkunde

 

Orientierungssatz

Zwar ist das Gericht in seiner Beweiswürdigung nach § 128 SGG frei und damit befugt, unter voneinander abweichenden Auffassungen verschiedener Sachverständiger sich für eine Auffassung zu entscheiden. Folgt es aber keinem der Sachverständigen und liegt die zu beantwortende Frage ausschließlich oder überwiegend auf medizinischem Wissensgebiet, so kann das Gericht diese Frage nicht selbst beantworten, es sei denn, es wiese seine Sachkenntnis aus.

 

Normenkette

SGG § 128

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.12.1965)

 

Tenor

1.) Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Dezember 1965 insoweit aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen, als die Klage abgewiesen worden ist.

2.) Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der im Jahre 1894 geborene Kläger wurde im Juli 1913 aktiver Soldat und trat die Laufbahn eines Berufsoffiziers an. Am 25. August 1914 erlitt er eine Kopfverletzung, derentwegen er längere Zeit im Lazarett und in Kurbehandlung war. Bei der Entlassungsuntersuchung am 2. Dezember 1919 klagte er über Reizbarkeit, Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen bei geistigen Anstrengungen und über Gefühlsstörungen an der rechten Hand. Am rechten Scheitelbein befand sich eine nicht verschiebliche Kopfschwarte und eine geringfügige Eindellung des Schädeldaches. Weiterhin ergab sich außer einer geringfügigen Gefühlsstörung im Bereich der linken Hand keine sonstige Ausfallserscheinung auf neurologischem Fachgebiet. Der Kläger wurde wegen ärztlich beobachteter Anfälle für zwei Jahre als dienstunfähig erklärt und im Jahre 1920 wegen der Kriegsbeschädigung als dienstunfähig mit Offizierspension verabschiedet. Er trat im Jahre 1935 wieder in den Dienst der früheren Deutschen Luftwaffe ein. Bei einer Einweisung in das Kurlazarett in W im Mai 1941 gab er an, daß die Kopfverletzung aus dem 1. Weltkrieg bis auf ein Kribbeln im rechten Arm ausgeheilt sei. Wegen eines Magen- und Darmkatarrhs befand er sich Ende 1941 im Luftwaffen-Lazarett in M in Behandlung.

Der Kläger beantragte im April 1947 Versorgung. Die Versorgungsbehörde erkannte 1949 vorläufig mit einer Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. "Folgen eines Kopfschusses, Ruhrfolgen, Schlüsselbeinbruch, leichte Zehenerfrierungen und Neigung zu rückfälligem Rotlauf" an. Bei der versorgungsärztlichen Untersuchung stellte der Neurologe Dr. Z in seinem Gutachten vom 20. Mai 1952 in der rechten Scheitelgegend eine 8 cm lange reizlose Narbe mit rinnenförmiger Knochenimpression fest. Röntgenologisch waren Knochenveränderungen am Schädel nicht festzustellen. Der linke Mundwinkel stand in Ruhe etwas tiefer als der rechte die linke Nasolabialfalte war leicht verstrichen, die Armreflexe waren links etwas lebhafter als rechts, während der rechte Fußsohlenreflex lebhafter als der linke war. Das linke Bein zeigte eine leichte Tonuserhöhung. Der Sachverständige führte aus, daß es sich bei dem Reflexunterschied wahrscheinlich um Restsymptome der initialen Halbseitenlähmung handele; die vom Kläger geklagten Kopfschmerzen seien wahrscheinlich vasaler Art. Der Sachverständige nahm "Splitterverletzungen der rechten Scheitelgegend mit Hirnverletzung, Halbseitenlähmung links, vasal bedingten Kopfschmerzen" als Wehrdienstbeschädigung an und schätzte die MdE auf seinem Fachgebiet auf 30 v. H. Nach dem internistischen Fachgutachten von Dr. B vom 21. Mai 1952 ergaben sich noch Folgen der vom Kläger in Rußland durchgemachten Ruhr in Form eines Reizzustandes und einer Bereitschaft zu funktionellen Störungen im Bereich des Magen-Darmkanals mit einer MdE um 30 v. H.

Mit Bescheiden vom 22. und 23. Oktober 1952 erkannte die Versorgungsbehörde "Neigung zu Dickdarmkrämpfen nach Ruhr, leichte Folgen nach Gehirnprellung infolge Splitterverletzung des rechten Scheitelbeines" als Leistungsgrund nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz und Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Sinne der Entstehung an. Die MdE wurde für die Zeit vom 1. Februar 1948 mit 80 v. H. und ab 1. Oktober 1952 mit 50 v. H. bemessen.

Das Sozialgericht (SG) hat als Sachverständigen Dr. C in der mündlichen Verhandlung vom 3. Oktober 1956 gehört, der hinsichtlich der Kopfverletzung ausgeführt hat, es müsse zu den Befunden des nervenfachärztlichen Gutachtens hinzugefügt werden, daß beim Kläger im letzten Jahr zwei Anfälle von Bewußtlosigkeit aufgetreten seien. Aus den vorhandenen Akten gehe hervor, daß im Anschluß an die Verwundung im 1. Weltkrieg Jackson-Anfälle aufgetreten seien. Es sei möglich, daß es sich bei dem Zustand der Bewußtlosigkeit im vergangenen Jahr um "Äquivalente des früheren Anfallsgeschehens" handele. Die Bewußtlosigkeit sei in der Höhe der MdE mitzubewerten; deswegen sei die Festsetzung der MdE durch das nervenfachärztliche Gutachten vom 20. Mai 1952 etwas zu niedrig. Zusammen mit den übrigen anerkannten Gesundheitsstörungen sei die Festsetzung einer MdE um 60 v. H. zu verantworten. Der auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gehörte Sachverständige Prof. Dr. Sch ist in seinem Gutachten vom 9. November 1956 zu dem Ergebnis gelangt, daß die Folgen der Hirnverletzung allein mit einer MdE um 50 v. H. zu bewerten seien und die Gesamt-MdE 80 v. H. betrage. Das SG hat mit Urteil vom 14. Juni 1957 die Klage abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat von der II. Medizinischen Universitätsklinik in M das Gutachten vom 20. Juli 1965 eingeholt. Die Sachverständigen haben ausgeführt, daß der Kläger sicherlich bei seiner Verwundung im 1. Weltkrieg eine Hirncontusion erlitten habe. Hierfür spreche die lange Bewußtlosigkeit von über 10 Stunden nach der Verwundung und die Halbseitenlähmung. Auf Grund der jetzt vom Kläger vorgetragenen Anfälle bestehe kein Zweifel, daß es sich hierbei um cerebrale Krampfanfälle handele. Die Schädigungsfolge dürfe daher nicht - wie im Bescheid geschehen - als "leichte Folgen nach Gehirnprellung infolge Splitterverletzung des rechten Scheitelbeins", sondern müsse als "Zustand nach Hirncontusion mit posttraumatischer Epilepsie" bezeichnet werden. Die MdE hierfür betrage 50 v. H. Als Ruhrfolge bestehe nicht nur eine Neigung zu Dickdarmkrämpfen, sondern auch eine histaminreversible Anacidität . Die Gesamt-MdE ab 1. Oktober 1952 betrage wie vorher 80 v. H. In der daraufhin erfolgten versorgungsärztlichen Stellungnahme des Nervenfacharztes Dr. K vom 4. Oktober 1965 hat dieser ausgeführt, daß die in der II. Medizinischen Universitätsklinik in München erhobenen Befunde völlig normal gewesen seien. Unter Hinweis auf den bisherigen Akteninhalt ist Dr. K der Auffassung, daß man auf Grund der nur vom Kläger gemachten Angaben nicht unterstellen könne, daß es sich bei den jetzt behaupteten Anfällen um cerebrale Krampfanfälle handele. Diese Anfälle seien bisher ärztlicherseits nicht beobachtet worden. Solange dies aber nicht der Fall sei, könnten die Anfälle nicht als cerebrale Krampfanfälle anerkannt werden. Sie könnten ebenso gut durch die fortgeschrittene Hirnarteriosklerose verursacht worden sein. Gegen das Vorhandensein von cerebralen Krampfanfällen spreche im übrigen auch der normale Berufsweg des Klägers.

Das LSG hat mit Urteil vom 9. Dezember 1965 auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG München vom 14. Juni 1957 aufgehoben und in Abänderung der Bescheide vom 22. und 23. Oktober 1952 den Beklagten verurteilt, dem Kläger für

"1. Neigung zu Dickdarmkrämpfen und histaminreversible Anacidität als Ruhrfolgen,

2. Hirnprellung mit leistungsbeeinträchtigenden Ausfallserscheinungen"

ab 1. Oktober 1952 Rente nach einer MdE um 60 v. H. zu zahlen. Es hat im übrigen die Klage abgewiesen.

Das LSG hat ausgeführt, die Klage sei insoweit begründet, als die anerkannten Schädigungsfolgen den Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit ab 1. Oktober 1952 um mehr als um 50 v. H., jedoch nicht mehr als um 60 v. H. minderten. Hinsichtlich der Darmerkrankung des Klägers ist das LSG auf Grund der vorhandenen Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, daß die im angefochtenen Bescheid insoweit aufgeführte Gesundheitsstörung den erhobenen Befund nicht völlig deckt, als darin nur "Dickdarmkrämpfe" anerkannt worden waren. Die Schädigungsfolge sei dahin zu ergänzen, daß eine histaminreversible Anacidität als Ruhrfolge bezeichnet werden müsse. Dadurch werde aber die Höhe der MdE nicht berührt; vielmehr sei sie wegen dieser Gesundheitsstörung mit 30 v. H. einzusetzen.

Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Neufassung 1958) sei bei einer Hirnverletzung mit geringen leistungsbeeinträchtigenden Ausfallserscheinungen eine MdE um 40 v. H., bei Hirnverletzungen mit schweren leistungsbeeinträchtigenden Ausfallserscheinungen eine solche von 50 bis 60 v. H. anzunehmen. Die MdE solle, wenn cerebrale Anfallsleiden - traumatische Epilepsie - bestehe, nicht weniger als 50 v. H. betragen. Die Sachverständigen der II. Medizinischen Universitätsklinik in M seien offenbar wegen dieses Grundsatzes zu einer MdE um 50 v. H. für die Hirnverletzung gelangt. Von einem Anfallsleiden in diesem Sinne könne beim Kläger jedoch nicht ausgegangen werden. Dies werde insbesondere durch die vom Kläger angegebenen Anfälle nicht bewiesen, weil diese auch durch andere Ursachen bei einer altersgemäß geminderten Beweglichkeit erklärbar seien. Gegen das Bestehen eines Anfallsleidens spreche auch der Lebenslauf des Klägers. Hinzu komme, daß seit dem Jahre 1919 ein Anfall weder ärztlich noch von Zeugen beobachtet worden sei. Daher könne im Ergebnis für Hirnverletzungsfolgen ein Grad der MdE um 50 v. H. nicht auf das Bestehen von cerebralen Krampfanfällen gestützt werden. Dies schließe indessen nicht aus, daß der Kläger an allgemeinen Beschwerden durch seine Hirnverletzung (Kopfschmerzen und Schwindel) leide, die sich zweifellos zu leistungsunfähigmachenden Zuständen steigerten, ohne der Umgebung als Anfälle aufzufallen oder ärztliche Hilfe erforderlich zu machen. Die Angabe des Klägers, es sei seit dem Jahre 1952 sechsmal zu solchen Zuständen gekommen, halte das LSG gerade wegen einer Begrenzung nach Zahl und Schwere für glaubhaft. Die Zustände könnten auch nicht rückblickend bis zum Jahre 1952 Ausdruck der jetzt in den Vordergrund tretenden arteriosklerotischen Beschwerden gedeutet werden. Der Senat sei zu der Überzeugung gelangt, daß der Kläger infolge der erlittenen Hirnverletzung auch noch seit dem 1. Oktober 1952 an geringen leistungsbeeinträchtigenden Ausfallserscheinungen leide. Daher sei unter Feststellung des Fortbestehens solcher Ausfallserscheinungen nach den vorbezeichneten Richtlinien ein Grad der MdE um 40 v. H. gerechtfertigt, der das Vorhandensein eines Anfallsleidens im eigentlichen Sinne nicht voraussetze. Dieser Grad der MdE könne auch nicht über § 30 Abs. 2 BVG erhöht werden. Es könne nicht festgestellt werden, daß der Kläger ohne die erlittenen Schädigungen in seinem Beruf zu günstigeren Verhältnissen gelangt wäre. Soweit Prof. Dr. Sch und Dr. H zu einem höheren Grad der MdE gelangten, könne ihnen nicht gefolgt werden, insbesondere schon deshalb nicht, weil Prof. Dr. Sch von falschen juristischen Voraussetzungen ausgehe und außerdem noch eine Bronchitis bewerte, die aber nicht Schädigungsfolge sei. Soweit der Kläger eine höhere MdE als um 60 v. H. begehre, müsse daher die Klage abgewiesen werden.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Gegen dieses, ihm am 11. Januar 1966 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 8. Februar 1966 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen Schriftsatz vom 7. Februar 1966 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 11. April 1966 mit einem am 23. März 1966 beim BSG eingegangenen Schriftsatz vom 18. März 1966 begründet.

Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt eine Verletzung der §§ 103 und 128 SGG durch das LSG und trägt hierzu vor, das LSG habe die Feststellung, daß cerebrale Krampfanfälle bei ihm - dem Kläger - nicht bestünden, unter Verletzung seines Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung getroffen. In dem Gutachten der II. Medizinischen Universitätsklinik in M vom 20. Juli 1965 seien die Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, daß bei ihm als Folge der während des 1. Weltkrieges durchgemachten Hirncontusion noch cerebrale Krampfanfälle bestünden, die für sich allein eine MdE um 50 v. H. bedingten. Diesem Gutachten sei das LSG nicht gefolgt, vielmehr habe es das Vorhandensein von cerebralen Krampfanfällen verneint und im Gegensatz zu den genannten Gutachten nur geringe leistungsbeeinträchtigende Ausfallserscheinungen als erwiesen erachtet. Diese Feststellung sei aber unter Verletzung des § 128 SGG zustande gekommen. Das LSG, das sich aus medizinischen Laien zusammensetze, habe keine ausreichende eigene Fachkunde für diese Feststellung gehabt, um die Krankheitserscheinung der Hirnverletzungsfolgen selbst bestimmen zu können. Es sei auch nicht befugt gewesen, unter Hinweis auf allgemein gehaltene und nur als Richtlinien anzusehende ärztliche Anhaltspunkte nach den vom Kläger geäußerten Beschwerden die Schädigungsfolge selbst zu bezeichnen. Gleichzeitig müsse insoweit auch eine Verletzung des § 103 SGG durch das LSG gerügt werden.

Im übrigen wird auf die Revisionsbegründung Bezug genommen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des 17. Senats des Bayerischen LSG vom 9. Dezember 1965 - Az.: L 17 V 1937/57 - zu verwerfen.

Er ist der Auffassung, daß die gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG nicht gegeben sind.

Die Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen und der Kläger eine Gesetzesverletzung bei der Anwendung der in der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht gerügt hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150). Werden mehrere Verfahrensmängel gerügt und liegt einer dieser Mängel vor, so kommt es für die Statthaftigkeit der Revision im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht mehr darauf an, ob auch die übrigen gerügten wesentlichen Verfahrensmängel gegeben sind (BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122). Im vorliegenden Fall rügt der Kläger zutreffend eine Verletzung des § 128 SGG durch das LSG.

Nach § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es hat in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Mangel in bezug auf die freie richterliche Beweiswürdigung liegt dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten, insbesondere gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze verstoßen hat (BSG 2, 236). Das Gericht überschreitet auch dann die Grenzen seines Rechts der Beweiswürdigung, wenn es sich ohne wohlerwogene stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinwegsetzt und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt (BSG in SozR SGG § 128 Nr. 2) oder eine nur von einem medizinischen Sachverständigen zu beurteilende Frage selbst beantwortet, ohne daß sich aus der Entscheidung ergibt, daß das Gericht insoweit selbst ausreichende eigene Sachkenntnisse auf diesem Gebiet hat. Das LSG hat entgegen der von den Sachverständigen der II. Medizinischen Universitätsklinik in München vertretenen Auffassung die vom Kläger behaupteten Anfälle nicht als "cerebrale Krampfanfälle" angesehen, die durch die Kopfverletzung im 1. Weltkrieg verursacht worden sind. Andererseits hat es sich aber auch nicht der Auffassung von Dr. K angeschlossen, der ausgeführt hat, das Anfallsleiden könne durch die fortgeschrittene Hirnarteriosklerose beim Kläger verursacht sein. Das LSG ist vielmehr zu dem Ergebnis gelangt, inso weit handele es sich - im Zusammenhang mit den übrigen geklagten Beschwerden, wie Kopfschmerzen und Schwindelanfällen - um leistungsbeeinträchtigende Ausfallserscheinungen, ohne in den Urteilsgründen anzugeben, auf Grund welcher medizinischer Erkenntnisquellen es zu dieser Schlußfolgerung gelangen konnte. Die Frage, ob und in welchem Umfange ein Anfallsleiden auf eine schädigende Einwirkung des BVG zurückzuführen ist, welche Folgeerscheinungen eine Hirnverletzung hat und wie diese Folgen medizinisch einzuordnen oder zu bezeichnen sind, kann regelmäßig nicht ohne die Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen beurteilt werden. Zu einer solchen medizinischen Beurteilung war das LSG nicht befugt, da es insoweit nicht sachkundig war. Die vorhandenen Gutachten reichten jedenfalls für die vom LSG vorgenommene Beurteilung nicht aus. Die vom Kläger behaupteten Anfälle sind von den Sachverständigen der II. Medizinischen Universitätsklinik in München in ihrem Gutachten vom 20. Juli 1965 als cerebrale Krampfanfälle gedeutet und auf die im 1. Weltkrieg erlittene Hirncontusion zurückgeführt worden. Im Gegensatz hierzu hat der Nervenarzt Dr. K in seiner Stellungnahme vom 4. Oktober 1965 ausgeführt, eine Anerkennung von Krampfanfällen könne so lange nicht erfolgen, als sie nicht von Ärzten beobachtet worden seien. Die Anfälle könnten "ebenso gut durch die fortgeschrittene Hirnarteriosklerose verursacht worden sein". Dieser Gutachter hat also auch von Krampfanfällen gesprochen, deren Vorkommen aber nicht als erwiesen angesehen und im übrigen auch deren Ursache nicht eindeutig bestimmt. Das LSG ist hinsichtlich der Art und Ursache der Anfälle weder dem Gutachten der II. Medizinischen Universitätsklinik in M vom 20. Juli 1965 noch der medizinischen Auffassung von Dr. K in seiner Stellungnahme vom 4. Oktober 1965 gefolgt, wenn es die Anfallserscheinungen in Verbindung mit den Kopfschmerzen und Schwindelanfällen des Klägers nur als "leistungsbeeinträchtigende Ausfallserscheinungen" bezeichnet, diese jedoch auf eine Hirnprellung zurückführt. Dies konnte das LSG weder den für den Kläger positiven Äußerungen der II. Medizinischen Universitätsklinik M noch der entgegenstehenden Auffassung des Dr. K entnehmen. Der mehrfache Hinweis auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen genügt insoweit schon deshalb nicht, weil es sich bei diesen Anhaltspunkten nur um allgemeine Richtlinien handelt, ohne daß daraus die Beurteilung des konkreten Einzelfalles möglich ist, insbesondere daraufhin, welcher Art ein Leiden ist und auf welcher Ursache es beruht. Zwar ist das Gericht in seiner Beweiswürdigung nach § 128 SGG frei und damit befugt, unter voneinander abweichenden Auffassungen verschiedener Sachverständiger sich für eine Auffassung zu entscheiden. Folgt es aber keinem der Sachverständigen und liegt die zu beantwortende Frage ausschließlich oder überwiegend auf medizinischem Wissensgebiet, so kann das Gericht diese Frage nicht selbst beantworten, es sei denn, es wiese seine Sachkenntnis aus. Da dies im vorliegenden Fall für die Beantwortung der medizinisch schwierigen Frage durch den Hinweis auf die Anhaltspunkte nicht geschehen konnte, setzte es seine eigene Auffassung an die Stelle einer von einem Sachverständigen zu beurteilenden Frage und verletzte § 128 SGG. Somit hat das LSG, das die vom Kläger behaupteten Anfälle nur als "leistungsbeeinträchtigende Ausfallserscheinungen" der Hirnverletzung gedeutet hat, das Recht der freien Beweiswürdigung im Sinne des § 128 SGG überschritten. Darin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so daß die Revision statthaft ist. Sie ist auch begründet, denn es besteht die Möglichkeit, daß das LSG ohne diesen Verfahrensmangel zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben, soweit das LSG "die Klage abgewiesen" hat. Da der Kläger mit seiner Berufung nur teilweise Erfolg gehabt hat, hätte das LSG nicht die Klage im übrigen abweisen, sondern die Berufung zurückweisen müssen. Die Sache mußte an das LSG zurückverwiesen werden, da ausreichende Feststellungen für eine abschließende Entscheidung des Senats fehlten (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379766

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