Leitsatz (amtlich)
Eine "andere Leistung" ist erheblich niedriger iS von BKGG § 8 Abs 2, wenn sie um mehr als 25 vom Hundert hinter dem gesetzlichen Kindergeld für das betreffende Kind zurückbleibt.
Normenkette
BKGG § 8 Abs. 2 Fassung: 1964-04-14
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. September 1965 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Anwendung und Auslegung des Begriffs "erheblich niedriger" in § 8 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) vom 14. April 1964 (BGBl I 265).
Im Haushalt der Klägerin leben sieben Kinder, darunter als fünftes ihr unehelicher Sohn J H, geb. 1956, Dessen Vater bezieht zu seiner Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung einen monatlichen Kinderzuschuß von 51,20 DM für J, der über das zuständige Jugendamt an die Klägerin ausgezahlt wird. Weitere Unterhaltsleistungen erhält sie für J nicht. Ihrem Antrag auf Zahlung von Kindergeld nach dem BKGG entsprach die beklagte Bundesanstalt nur teilweise. Für J lehnte sie das Kindergeld ab, weil der (uneheliche) Vater für ihn Kinderzuschuß aus der Rentenversicherung erhalte (Bescheid vom 5. August 1964). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. September 1964). Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, das Kindergeld zur Hälfte für J zu gewähren, da es den Kinderzuschuß im Verhältnis zum gesetzlichen Kindergeld für das fünfte Kind (70,- DM) als "erheblich niedriger" im Sinne des § 8 Abs. 2 BKGG ansah (Urteil vom 24. März 1965). Auf die Berufung der beklagten Bundesanstalt bestätigte das Landessozialgericht (LSG) die Rechtsauffassung des Sozialgerichts änderte jedoch die Entscheidung insoweit ab, als die Beklagte darin unmittelbar zur Leistung des halben Kindergeldes verurteilt worden war (Urteil vom 30. September 1965).
Die Gewährung von Kindergeld zur Hälfte (§ 8 Abs. 2 BKGG) sei eine Kann-Leistung. Der Beklagten dürfe daher eine Ermessensausübung nicht verwehrt werden, wenngleich der Begriff "erheblich niedriger" im Sinne des Gesetzes hier zutreffe.
Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Lübeck vom 24. März 1965 die Klage abzuweisen.
Sie hat in ihrer Revisionsbegründung im wesentlichen ausgeführt: Die Vorschrift des § 8 Abs. 2 BKGG sei als Ausnahmeregelung von Abs. 1, der zur Vermeidung von Doppelleistungen gleicher Zweckbestimmung den Kindergeldanspruch in den dort näher bezeichneten Fällen überhaupt ausschließe, eng auszulegen. "Erheblich niedriger" besage nicht das gleiche wie der Begriff "nicht unerheblich". Zwischen beiden bestehe ein gradueller Unterschied; schon deshalb dürfe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG 21, 155 ff) zu § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes (KGG) nicht herangezogen werden. Im Gegensatz zu § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG, der den Unterhalt von Pflegekindern betreffe, könne der Begriff "erheblich" in § 8 Abs. 2 BKGG nur nach einem objektiven Maßstab beurteilt werden; denn hier werde eine dem Betrage nach feststehende Leistung dem jeweils in Betracht kommenden Kindergeld gegenübergestellt. Gemessen an der Differenz werde dann festgestellt, ob sie erheblich niedriger sei. Eine Möglichkeit, nach den sozialen Verhältnissen des Einzelfalles zu entscheiden, lasse schon der Wortlaut des § 8 Abs. 2 BKGG nicht zu. In der früheren Regelung des § 3 Abs. 3 Satz 2 (zu Abs. 2 Nr. 7) KGG sei nur vorgesehen gewesen, als Härteausgleich den Kinderzuschuß aus den gesetzlichen Rentenversicherungen unter 90 v.H. gemessen am gesetzlichen Kindergeld bis zu dessen Höhe aufzustocken. Also sei dem Betroffenen dort ebenfalls eine Einbuße zugemutet worden. Von dem Grundsatz, den Kinderzuschuß nur bis zu 100 v.H. aufzustocken, dürfe nicht abgewichen werden. Ziehe man die obere Grenze für die andere Leistung nicht bei 50 v.H. des jeweils in Betracht kommenden Kindergeldes, so würde durch die Anwendung des § 8 Abs. 2 BKGG der Betrag des vollen gesetzlichen Kindergeldes überschritten. Das bewirke eine ungleiche Behandlung gegenüber den Beziehern des gesetzlichen Kindergeldes. Aus alledem folge, daß erst eine Abweichung von 50 v.H. als "erheblich niedriger" im Sinne des § 8 Abs. 2 BKGG gewertet werden könne.
Die Klägerin ist nicht vertreten, sie hat keine Erklärungen zur Revision abgegeben.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden. Sie kann jedoch keinen Erfolg haben.
Der Anspruch auf Kindergeld, dessen Voraussetzungen die Klägerin nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 und § 3 Abs. 3 BKGG auch für J H. erfüllt, wird durch § 8 Abs. 1 Nr. 1 BKGG ausgeschlossen, weil der Vater dieses unehelich geborenen Kindes einen Kinderzuschuß aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält. Der Klägerin kann jedoch nach § 8 Abs. 2 BKGG das Kindergeld zur Hälfte gewährt werden, wenn die andere Leistung erheblich niedriger ist als das Kindergeld. Bei dem hier wesentlichen Markmal "erheblich niedriger" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung einer richterlichen Überprüfung zugängig ist (Peters/Sautter/Wolff § 54 SGG Anm. 2 e, cc). Das Revisionsgericht kann die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe namentlich daraufhin nachprüfen, ob der Rechtsbegriff selbst verkannt ist oder ob bei der Unterordnung des Sachverhalts etwa Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt sind oder ob die Bewertung wegen Außerachtlassung wesentlicher Umstände offensichtlich fehlerhaft ist (Peters/Sautter/Wolff § 162 SGG Anm. 5 f). Das LSG hat keine dieser nachprüfbaren Möglichkeiten verletzt und zu Recht entschieden, daß ein Unterschied von 27. v.H. zwischen der anderen Leistung (Kinderzuschuß) und dem gesetzlichen Kindergeld als "erheblich niedriger" im Sinne des § 8 Abs. 2 BKGG anzusehen ist.
Das BKGG erläutert zwar nicht unmittelbar, was unter "erheblich niedriger" zu verstehen ist, es verwendet aber den ähnlichen (unbestimmten) Rechtsbegriff "nicht unerheblich" in § 2 Abs. 1 Nr. 6 BKGG hinsichtlich des Unterhalts von Pflegekindern. Hierzu hat das BSG bei der dem Inhalt nach gleichen früheren Fassung des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG bereits entschieden (BSG 21, 155 ff), daß ein Betrag dann als "nicht unerheblich" anzusehen ist, wenn er nominell ins Gewicht fällt und im Hinblick auf den Gesamtaufwand des Pflegevaters etwa 25 v. H. des maßgeblichen Gesamtbetrages ausmacht. Zwar ist der Beklagten zuzugeben, daß ein objektiver Maßstab anzulegen ist. Dennoch bestehen keine grundsätzlichen Bedenken, in Anlehnung an die vorausgegangene Rechtsprechung bei § 8 Abs. 2 BKGG ebenfalls eine Leistung als "erheblich niedriger" anzusehen, die um mehr als 25 v.H. hinter dem gesetzlichen Kindergeld für das betreffende Kind zurückbleibt. Zudem besagt auch sprachlich die doppelte Negation "nicht unerheblich" im wesentlichen das gleiche wie das positive Wort "erheblich"; jedenfalls gilt dies für den Bereich sozialer Aufwendungen und Leistungen.
Der Auslegung, die die Beklagte dem § 8 Abs. 2 BKGG in ihren internen Verwaltungsvorschriften gibt (vgl. Nr. 148 des Runderlasses 261/66 vom 5. August 1966, abgedruckt in Berndt/Draeger, VIII zu §§ 6-8 BKGG), ist nicht zu folgen. Schon aus der Amtlichen Begründung zu § 8 Abs. 2 BKGG (Bundestags-Drucks. IV/818 vom 7. Dezember 1962 S. 16) läßt sich entnehmen, daß unter Umständen die andere Leistung und das halbe Kindergeld zusammen einen höheren Betrag ergeben als das volle Kindergeld für das betreffende Kind. Nach der Amtlichen Begründung sollte, wenn die andere Leistung ausnahmsweise niedriger ist als das Kindergeld, unter bestimmten Voraussetzungen der halbe Betrag des Kindergelds gewährt werden können: "Da das Kindergeld durch Rechenmaschinen angewiesen werden soll, würde die Gewährung des Unterschiedsbetrages zwischen dem Kindergeld und den niedrigeren Leistungen die Verwaltungsarbeit unangemessenerweise vermehren". Danach hat der Gesetzgeber erkannt, daß der volle Satz des gesetzlichen Kindergelds hin und wieder überschritten werden kann, wenn die Hälfte des Kindergelds zusätzlich zu der anderen Leistung gewährt wird. Er hat indessen diese Folge hingenommen, um unangemessene Verwaltungsarbeit zu vermeiden. Schließlich sprechen auch diese den Gesetzgeber leitenden Erwägungen dagegen den Begriff "erheblich niedriger" in § 8 Abs. 2 BKGG auf einen Unterschiedsbetrag von mindestens 50 v.H. zum vollen gesetzlichen Kindergeld zu begrenzen. Wenn der Gesetzgeber bei der Aufgabe der alten Regelung des § 3 Abs. 3 Satz 2 KGG und ihrem Ersatz durch § 8 Abs. 2 BKGG weiterhin ausschließen wollte, daß der Kinderzuschuß aus der gesetzlichen Rentenversicherung und die Leistung nach dem BKGG zusammen den Betrag des vollen gesetzlichen Kindergeldes nicht überschreiten, so hätte es nahegelegen, dies im Wortlaut der Neufassung zum Ausdruck zu bringen. Dies ist jedoch im Abschnitt "Leistungen" des BKGG nirgendwo geschehen. Vielmehr ist die alte Ausnahmeregelung (Härteklausel) des § 3 Abs. 3 Satz 2 KGG allein durch die neue "Kann-Vorschrift" des § 8 Abs. 2 BKGG ersetzt worden, die durch die Einführung des Begriffs (Merkmals) "erheblich niedriger" die Ermächtigung gibt, im Rahmen zweckbedingten Ermessens durch die Gewährung des Kindergeldes zur Hälfte in den entsprechenden Fällen jeweils Härten auszugleichen.
Nach alledem steht es mit Wortlaut und Zielsetzung des § 8 Abs. 2 BKGG im Einklang, Kinderzuschüsse aus den gesetzlichen Rentenversicherungen, die um mehr als 25 v.H. unter dem Betrag des gesetzlichen Kindergelds (§ 10 BKGG) liegen, als Leistungen zu bewerten, die erheblich niedriger sind als das Kindergeld. Deshalb hat das LSG die Bescheide der Beklagten vom 5. August 1964, soweit darin Kindergeld für J H. versagt wird, und vom 18. September 1964 zu Recht aufgehoben. Die Revision der Beklagten ist daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2374844 |
BSGE, 292 |