Entscheidungsstichwort (Thema)
Feststellung der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und Nötigungszusammenhang
Leitsatz (amtlich)
Bei der Feststellung der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis kann - besonders bei Verfolgten mit niedrigem Bildungsniveau - nicht allein auf das Ergebnis der schriftlichen Sprachprüfung abgestellt werden.
Orientierungssatz
Bei Auswanderung aus den Vertreibungsgebieten vor dem 1.10.1953 ist der Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen des Vertreibungsgebietes unwiderleglich zu vermuten.
Normenkette
WGSVG § 10 Abs 1 Fassung: 1970-12-22, § 20 Fassung: 1970-12-22, § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2, § 20 S 2
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 18.07.1980; Aktenzeichen S 15 An 696/80) |
Tatbestand
Streitig ist das Recht des Klägers zur Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen nach den §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).
Der 1909 in Karpatho-Rußland geborene Kläger war früher tschechoslowakischer Staatsangehöriger und hat auch in der Tschechoslowakei gearbeitet sowie Militärdienst geleistet. Im Januar 1949 ist er nach Israel ausgewandert und besitzt jetzt die israelische Staatsangehörigkeit. Er ist Verfolgter und hat Entschädigung nach § 160 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) erhalten. Seinen Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen vom 8. Dezember 1975 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 2. Juli 1979 und Widerspruchsbescheid vom 7. März 1980 mit der Begründung ab, daß er nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehöre und deshalb die Anrechnung von Versicherungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) über § 20 WGSVG ausscheide. Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin durch Urteil vom 18. Juli 1980 mit folgender Begründung abgewiesen: Es sei schon nicht überwiegend wahrscheinlich, daß der Kläger dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe; auch wenn er angegeben habe, in seinem persönlichen Bereich deutsch gesprochen zu haben, so ließen doch das Ergebnis der durchgeführten Sprachprüfung in Verbindung mit den Schriftproben erkennen, daß der Kläger Ende 1948 die deutsche Sprache in seinem persönlichen Lebensbereich nicht überwiegend gebraucht habe; darüber hinaus sei der Kläger nicht vertriebener Verfolgter, weil er das Vertreibungsgebiet nicht wegen seiner Beziehungen zum deutschen Volkstum verlassen habe; er habe vor seiner Ausreise aus der Tschechoslowakei nicht der Gruppe der Volksdeutschen angehört, die von einem Restvertretungsdruck betroffen gewesen seien; für ihn sei vielmehr entscheidend gewesen, daß er nicht unter einem kommunistischen Regime habe leben wollen und Angst vor neuerlichen Verfolgungen als Jude gehabt habe.
Mit der Sprungrevision trägt der Kläger vor: Er habe sehr wohl dem deutschem Sprach- und Kulturkreis angehört, denn durch vier Zeugenaussagen werde bestätigt, daß er einem deutschsprachigen Elternhaus entstamme und er sich dieser Sprache überwiegend in seinem persönlichen Lebensbereich bedient habe; er spreche und lese fließend deutsch; die erheblichen Mängel bei der Schriftprobe seien auf seine niedere Schuldbildung und seinem mangelnden Bildungsstand zurückzuführen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 2. Juli 1979 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 7. März 1980 zu verpflichten, ihm die
Nachentrichtung von Beiträgen in der Rentenversicherung der
Angestellten gemäß der §§ 9, 10 WGSVG zu gestatten, hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Auch wenn mit Rücksicht darauf, daß der Kläger die Tschechoslowakei schon vor dem 1. Oktober 1953 verlassen habe, ein Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen des Vertreibungsgebietes nicht zu fordern sei, wäre § 20 WGSVG nicht anzuwenden, weil der Kläger nach den Feststellungen des SG nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehöre.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des SG ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Das SG hat seiner Entscheidung einen zu engen Begriff der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zugrundegelegt, so daß zu einer rechtsfehlerfreien Beantwortung der Frage, ob der Kläger dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zum Zeitpunkt des Verlassens der Tschechoslowakei als seines früheren Heimatlandes angehört hat, weitere Tatsachenfeststellungen erforderlich sind. Überdies beruhen die der Entscheidung zugrundegelegten Tatsachenfeststellungen auf einem wesentlichen und vom Kläger mit der Revision gerügten Verfahrensfehler, weil das Vordergericht ohne hinreichende Begründung nicht die vom Kläger aufgebotenen Zeugen gehört hat.
Gemäß § 10 Abs 1 Satz 1 WGSVG steht das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen Verfolgten iS des BEG (vgl § 1 Abs 1 WGSVG) zu, die nach § 9 zur Weiterversicherung berechtigt sind. Zur Weiterversicherung berechtigt sind nach § 9 Satz 1 WGSVG Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit zurückgelegt haben. Da der Kläger - bisher - keine Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt hat, könnte das Erfordernis der Vorversicherungszeit nach § 9 Satz 1 WGSVG nur durch Zeiten, die nach den §§ 15, 16 FRG anrechenbar sind, erfüllt werden, was entweder die Anwendung des FRG unmittelbar oder über § 20 WGSVG voraussetzt. Die unmittelbare Anwendung des FRG ist hier ausgeschlossen, weil der Kläger kein anerkannter Vertriebener ist (§ 1 Buchst a FRG). Nach § 20 Satz 1 WGSVG in der Fassung des 20. Rentenanpassungsgesetzes stehen jedoch bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des Bundesvertriebenengesetzes(BVFG) vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Nach § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG, der gemäß § 20 Satz 2 WGSVG entsprechend gilt, genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, wenn die Verfolgten im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben.
Diese Sonderregelung für vertriebene Verfolgte gilt auch für Vertriebene iS des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG; danach ist Vertriebener auch, wer als deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die in dieser Vorschrift genannten Gebiete - ua die Tschechoslowakei - verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler). Als deutscher Volkszugehöriger ist dabei gemäß § 6 BVFG anzusehen, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. An die Stelle des so umschriebenen Begriffs der deutschen Volkszugehörigkeit tritt bei vertriebenen Verfolgten nach der bereits erwähnten Sonderregelung in § 20 iVm § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis.
Ob der Kläger dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zum Zeitpunkt seines Verlassens der Tschechoslowakei angehört hat, hängt davon ab, welche Kenntnisse der deutschen Sprache er damals besaß und in welchem Umfang er die deutsche Sprache tatsächlich verwendete. Eine etwaige Mehrsprachigkeit, die besonders in der Nähe von Sprachgrenzen vorkommen kann, steht dabei der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis dann nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht (vgl dazu BGH, RzW 70, 505 ff; BSG SozR 5070 § 20 Nr 2 = RzW 78, 160). Bei der Feststellung, ob der Verfolgte dem deutschen Sprachkreis zuzurechnen ist, wird vor allem das Ergebnis seiner eigenen Anhörung, sofern es durch eine Niederschrift urkundlich festgehalten ist, heranzuziehen sein. Da es aber nicht allein auf den schriftlichen Gebrauch der Sprache ankommt, sondern auf deren Verwendung im gesamten persönlichen Lebensbereich, müssen auch insoweit angebotene Zeugen gehört werden, damit ein umfassendes Bild von der Situation zur Zeit der Vertreibung gewonnen werden kann. Solche Zeugen hat der Kläger im Verfahren vor dem SG benannt. Die Nichtanhörung dieser Zeugen (Morchedai Davidovidts, Sara Rosenbaum, Josef Kahan , Morchedai Jankowitz ), ohne daß vom SG dafür eine nähere Begründung gegeben worden ist, stellt eine Verletzung der dem Tatrichter gemäß § 103 SGG obliegenden Aufklärungspflichten dar. Die Vernehmung der benannten Zeugen hätte sich umso mehr aufgedrängt, als das SG in der Würdigung der schriftlichen Sprachprobe von der Bewertung des Prüfers, daß der Kläger dem deutschen Sprachkreis angehöre, abgewichen ist. Schon aus diesem Grunde ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Im übrigen hat das SG den Begriff der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zu eng ausgelegt, wenn es seine Entscheidung allein auf die Bewertung der Schriftprobe des Klägers gestützt hat. Das SG räumt selbst ein, daß die Angaben des Klägers über sein deutsches Elternhaus, den Besuch eines deutschen Kindergartens und einer deutschen Volksschule sowie seine Arbeit in einer deutschsprachigen Firma zunächst für eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis sprächen, meint dann aber, daß diese Zugehörigkeit wegen der erheblichen Mängel im schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache zu verneinen sei. Dieses ausschließliche Abstellen auf eine Schriftprobe ist rechtsfehlerhaft. Denn es darf, wie auch der Bundesgerichtshof (BGH) in einer Entscheidung zum Wiedergutmachungsrecht ausgeführt hat (RzW 80, 22 f), nicht danach unterschieden werden, welche Bereiche des kulturellen Lebens sich der Angehörige einer Sprachgemeinschaft durch den Gebrauch der Sprache erschließt, weil andernfalls die Angehörigen gehobener Schichten eine bevorzugte Behandlung erführen. Auch ein Analphabet, bei dem naturgemäß nur auf die mündliche Ausdrucksfähigkeit abgestellt werden könne, oder ein Kind, das bis zum maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht die Gelegenheit gehabt habe, die schriftliche Sprache zu erlernen, könnten dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehören. Das SG hätte deshalb den Vortrag des Klägers, er habe die Grundschule nur fünf jahre besucht und sein intellektuelles Niveau sei sehr niedrig, nicht übergehen dürfen. Treffen diese Behauptungen zu, so hätte das Ergebnis der Schriftprobe des Klägers nur einen sehr geringen Aussagewert für die Frage seiner Muttersprache. Auch zur Nachholung von tatsächlichen Feststellungen in dieser Hinsicht ist der Rechtsstreit zurückzuverweisen. Im Interesse einer Beschleunigung der Verfahren hat der Senat dabei von der Möglichkeit des § 170 Abs 4 Satz 1 SGG Gebrauch gemacht und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen.
Im Falle der Bejahung der Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis wird das LSG bei seiner Entscheidung die übrigen Tatbestandsmerkmale der §§ 9, 10 WGSVG, insbesondere die Unterbrechung der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen, zu prüfen haben, zu denen der Senat mangels tatsächlicher Feststellungen im aufgehobenen Urteil keine Ausführungen machen konnte. Nicht zu prüfen ist dagegen entgegen der Ansicht des SG, ob der Kläger im Jahre 1949 (auch) wegen einer etwaigen Deutschsprachigkeit nach Israel ausgewandert ist; jedenfalls bei Auswanderungen aus den Vertreibungsgebieten vor dem 1. Oktober 1953 ist, wie offenbar auch die Beklagte annimmt, ein Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, sofern diese im Einzelfall anzunehmen ist, und dem Verlassen des Vertreibungsgebietes unwiderleglich zu vermuten (vgl SozR 5070 § 20 Nr 2).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen