Entscheidungsstichwort (Thema)
Verbindlichkeit einer früheren Entscheidung
Leitsatz (redaktionell)
Die Vorschrift des BVG § 85 findet dann Anwendung, wenn eine bindend gewordene Entscheidung über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs nach bisherigen Vorschriften bereits in dem Zeitpunkt vorliegt, in dem erstmals nach dem BVG über die Zusammenhangsfrage zu entscheiden ist.
Dabei genügt es, wenn der Bescheid im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Gericht bindend ist, falls es sich um eine Aufhebungs- und Leistungsklage handelt.
Normenkette
BVG § 85 S. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Januar 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger hat im Juni 1918 als Soldat in Frankreich eine Gasvergiftung erlitten. Durch Benachrichtigung vom 22. Dezember 1938 wurde ihm für "infektiöser Katarrh der mißbildeten Harnwege, verschlimmert durch Dienstbeschädigung", Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. als Rechtsanspruch gewährt; nachdem sie ihm schon vorher als Kannbezug zugebilligt worden war (Bescheid vom 21. Februar 1934).
Ein im Juli 1947 nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 gestellter Rentenantrag wurde von der Landesversicherungsanstalt S... durch Bescheid vom 5. November 1948 abgelehnt, weil insbesondere die "Mißbildung der ableitenden Harnwege mit Einschränkung der Nierenfunktion und Neigung zu infektiösen Katarrhen (Sackniere links)" keine Wehrdienstbeschädigung sei. Nachdem der Einspruch gegen diesen Bescheid durch Beschluß vom 19. Januar 1949 zurückgewiesen worden war, legte der Kläger beim damaligen Oberversicherungsamt (OVA) S... Berufung ein, die durch Urteil vom 8. Juli 1949 ebenfalls zurückgewiesen wurde. Hiergegen legte der Kläger Rekurs ein.
Im Juni 1951 beantragte der Kläger Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Versorgungsamt L... lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Dezember 1952 ab, weil die Entscheidung über die Zusammenhangsfrage im Bescheid vom 5. November 1948 nach § 85 BVG auch für die Entscheidung nach dem BVG rechtsverbindlich sei. Der Einspruch hiergegen wurde durch Beschluß vom 20. März 1953 zurückgewiesen. Der Kläger hat daraufhin beim damaligen OVA S... Berufung eingelegt, die nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG) Hamburg übergegangen ist.
Inzwischen hatte der Kläger mit einem Schreiben vom 22. September 1954 beantragt, über seinen Rekurs gegen das Urteil des OVA S... vom 8. Juli 1949 zu entscheiden. Das Landessozialgericht (LSG) Schleswig hat dieses Schreiben als Berufung nach § 214 Abs. 1 SGG angesehen und diese durch Urteil vom 26. April 1956 zurückgewiesen, weil nach den vorliegenden Gutachten der ursächliche Zusammenhang des Leidens mit dem Wehrdienst zu Recht abgelehnt worden sei.
Das SG Hamburg hat die Klage gegen den Beschluß vom 20. März 1953 durch Urteil vom 9. April 1957 abgewiesen: Nachdem der SVD-Bescheid vom 5. November 1948 durch das Urteil des LSG Schleswig vom 26. April 1956 nunmehr endgültig bestätigt sei, könne sich der Beklagte nach § 85 BVG mit Recht auf diesen die Zusammenhangsfrage verneinenden Bescheid berufen. Auch gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu 2) am 30. September 1957 noch einen auf § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) gestützten Berichtigungsbescheid erlassen, in dem die in den Bescheiden des früheren Versorgungsamts S... vom 21. Februar 1934 und 22. Dezember 1938 erfolgte Anerkennung des Nierenleidens und der Erkrankung der Harnwege als zweifelsfrei unrichtig aufgehoben wurde. Das LSG Hamburg hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 28. Januar 1959 zurückgewiesen: Die Versorgungsverwaltung habe sich bei ihrer Entscheidung nach dem BVG hinsichtlich der Zusammenhangsfrage zu Recht an die negative Entscheidung nach der SVD Nr. 27 gebunden gefühlt. Diese Entscheidung sei die bei der Bescheiderteilung nach dem BVG vorliegende letzte rechtsverbindliche Entscheidung nach früherem Recht gewesen, da sie durch das Urteil des OVA vom 8. Juli 1949 rechtskräftig gewesen sei. Urteile der Oberversicherungsämter seien damals endgültig gewesen, so daß es unerheblich gewesen sei, daß der Kläger seinerzeit trotzdem Rekurs eingelegt habe. Das vom Kläger angeführte Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 5, 34 ff., stehe dieser Auffassung nicht entgegen, da in dem dort entschiedenen Falle gegen das Urteil des OVA ein zulässiger Rekurs eingelegt worden sei, der das Urteil nicht habe rechtswirksam werden lassen. Wenn der Kläger später von der in § 214 Abs. 1 SGG gewährten Möglichkeit, nachträglich Berufung beim LSG einzulegen, Gebrauch gemacht habe, so ändere das nichts daran, daß das Urteil des OVA bis zum Inkrafttreten des SGG, d.h. bis zum Ablauf des 31. Dezember 1953, rechtskräftig gewesen sei. Aber selbst wenn die Entscheidung für das BVG nicht rechtsverbindlich gewesen sei, so sei die Berufung auch deshalb unbegründet, weil der Bescheid vom 2. Dezember 1952 auch als Berichtigungsbescheid nach Ziff. 26 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11 rechtlich haltbar sei. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe das Gericht die Überzeugung gewonnen, daß die Voraussetzungen, die 1934 zur Anerkennung der Veränderungen im Bereich des ableitenden Harnsystems geführt haben, sich eindeutig als unrichtig herausgestellt hätten. Bei dieser Rechtslage sei der am 30. September 1957 erlassene weitere Berichtigungsbescheid, der nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens sei, bedeutungslos. Eine Aufhebung erübrige sich, da er den Kläger nicht beschwere. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 25. Februar 1959 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 23. März 1959 beim BSG eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,
den Bescheid vom 2. Dezember 1952,
den Beschluß vom 20. März 1953,
das Urteil des SG Hamburg vom 9. April 1957, den Berichtigungsbescheid vom 30. September 1957 und das Urteil des LSG Hamburg vom 28. Januar 1959 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, wegen infektiösen Katarrhs der mißbildeten Harnwege eine Versorgungsrente nach einer MdE in Höhe von 50% vom 1. Juni 1951 an zu zahlen.
In der - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 25. Mai 1959 beim BSG eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Kläger die Verletzung formellen (§ 128 SGG, Ziff. 26 SVA Nr. 11) und materiellen (§ 85 BVG) Rechts: Zur Zeit der Bescheiderteilung nach dem BVG sei der SVD-Bescheid noch nicht rechtsverbindlich gewesen, weil der Kläger gegen das Urteil des OVA rechtzeitig Rekurs eingelegt habe; über diesen sei erst am 26. April 1956 rechtskräftig entschieden worden. Zur Zeit der Bescheiderteilung hätten die Bescheide vom 21. Februar 1934 und 22. Dezember 1938 als nach § 85 BVG allein zu beachtende rechtsverbindliche Entscheidungen vorgelegen. Auch die Hilfsbegründung des LSG sei rechtsirrig. Der Bescheid vom 2. Dezember 1952 könne nicht als Berichtigungsbescheid nach Ziff. 26 der SVA Nr. 11 ausgelegt werden. Schließlich sei die Entscheidung des LSG auch weder durch den Berichtigungsbescheid vom 30. September 1957 noch durch die getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu rechtfertigen; das Berufungsgericht habe seine Überzeugung hinsichtlich der zweifellosen Unrichtigkeit der früheren Anerkennungen unter Verstoß gegen § 128 SGG - Grundsatz der freien Beweiswürdigung - gewonnen.
Die Beklagte zu 2) beantragt,
die Revision gegen das Urteil des LSG Hamburg vom 28. Januar 1959 als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung beruft sie sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig.
Die Revision ist aber nicht begründet.
Der Streit der Parteien geht im wesentlichen um die Frage, ob für die nach dem BVG zu treffende Entscheidung über den Versorgungsanspruch die in der Entscheidung nach der SVD Nr. 27 (vom 5. November 1948) enthaltene Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Wehrdiensteinflüssen und den Leiden des Klägers nach § 85 BVG rechtsverbindlich ist oder nicht.
Das LSG hat diese Frage im Ergebnis zu Recht bejaht.
Nach § 85 BVG ist, soweit nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG entschieden worden ist, diese Entscheidung auch nach dem BVG rechtsverbindlich. Die Vorschrift findet dann Anwendung, wenn eine bindend gewordene Entscheidung über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs nach bisherigen Vorschriften bereits in dem Zeitpunkt vorliegt, in dem erstmals nach dem BVG über die Zusammenhangsfrage zu entscheiden ist (vgl. BSG 4, 116, 119, 120). Das LSG hat es in seinem Urteil auf den Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung abgestellt. Ist der Verwaltungsakt aber angefochten, so muß entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Gericht maßgebend sein, wenn es sich wie vorliegend um eine kombinierte Aufhebungs- und Leistungsklage handelt (vgl. BSG 8, 108, 111; Peters/Sautter/Wolff, § 54 Anm. 6 b). Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn § 85 BVG nach seinem Wortlaut und Sinn lediglich bei der Verwaltungsentscheidung zu beachten wäre. Die Vorschrift gilt jedoch nach der Rechtsprechung des BSG für die Entscheidung nach dem BVG schlechthin, bindet also auch die Gerichte, wenn diese nach Anfechtung der Verwaltungsentscheidung über den Anspruch zu entscheiden haben (vgl. BSG 4, 116, 120). Im vorliegenden Falle war im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG der Bescheid nach der SVD Nr. 27 inzwischen rechtskräftig geworden, nachdem nämlich das LSG durch Urteil vom 26. April 1956 die Berufung gegen das Urteil des OVA endgültig (§ 214 Abs. 5 SGG) zurückgewiesen hatte.
Das hat zur Folge, daß das Berufungsgericht an die im SVD-Bescheid entschiedene Frage des Ursachenzusammenhangs nach § 85 BVG gebunden war. Deshalb konnte vorliegend dahingestellt bleiben, ob dieser SVD-Bescheid auch schon bei Erlaß des angefochtenen Verwaltungsakts verbindlich gewesen ist, welche Wirkung die nach § 214 Abs. 1 SGG eingelegte Berufung gehabt hat und ob schon die Versorgungsverwaltung zu Recht oder zu Unrecht den SVD-Bescheid ihrer Entscheidung nach dem BVG zugrunde gelegt hat.
Diese Auffassung entspricht dem Sinn und Zweck des § 85 BVG, einen Streit über die Zusammenhangsfrage, falls über diese nach früheren Vorschriften bereits rechtsverbindlich entschieden worden ist, in jedem Falle, auch vor den Gerichten, zu vermeiden. Sie wird durch das Urteil des erkennenden Senats vom 20. März 1956 (BSG 2, 265) bestätigt, in dem er entschieden hat, daß bei der Urteilsfällung durch das Revisionsgericht eine nach § 85 BVG zu beachtende Entscheidung noch nicht vorliegt, wenn die Entscheidung nach früherem Recht gleichzeitig mit der nach neuem Recht in die Revisionsinstanz gelangt ist; denn in einem solchen Falle liege im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Revisionsgericht über den Anspruch nach neuem Recht deshalb noch keine rechtsverbindliche Entscheidung - nach früherem Recht - vor, weil über beide Ansprüche (nach früherem und nach neuem Recht) gleichzeitig entschieden werde. Im Urteil in BSG 4, 116 hat der 10. Senat eine Anwendung des § 85 BVG mit der gleichen Begründung abgelehnt. Beiden Entscheidungen liegt die Auffassung zugrunde, daß bei Anwendung des § 85 BVG durch das Gericht maßgeblicher Zeitpunkt derjenige der letzten mündlichen Verhandlung ist.
Das von der Revision angeführte Urteil des 9. Senats (BSG 5, 34 ff) steht dem nicht nur nicht entgegen, sondern es enthält dieselbe Rechtsauffassung wie die des erkennenden und des 10. Senats. Auch dort, wo durch das LSG die Entscheidung nach der SVD Nr. 27 zugleich mit der Entscheidung über den Anspruch nach dem BVG getroffen und erst mit Erlaß dieses Urteils rechtskräftig geworden ist, wurde die Verbindlichkeit der SVD-Entscheidung deshalb verneint, weil im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung und der Entscheidung durch das LSG der - erst von ihm zu beurteilende - Bescheid nach der SVD Nr. 27 noch nicht rechtskräftig geworden war.
Ist aber, wie dargelegt, die im Bescheid nach der SVD Nr. 27 (vom 5. November 1948) enthaltene Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs nach § 85 BVG für die Entscheidung nach dem BVG rechtsverbindlich, so erübrigte sich ein Eingehen auf den vom Kläger gerügten Verfahrensmangel, da es auf die angegriffenen Feststellungen nicht mehr ankam.
Die Revision ist daher unbegründet und war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen