Leitsatz (amtlich)
1. Hat eine KÄV gegen das Urteil eines SG, durch das eine Honorarkürzungsentscheidung ihres Beschwerdeausschusses - Ersatzkassen - aufgehoben wurde, Berufung eingelegt, so wirkt das Rechtsmittel auch für die an der Honorarabrechnung beteiligten Ersatzkassen, die keine Berufung eingelegt haben (ZPO § 62).
Die Revision einer solchen Ersatzkasse gegen das die Berufung zurückweisende Urteil des LSG ist zulässig.
2. Wirkt der Vorsitzende eines Ortsausschusses des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen mit beratender Stimme bei der Entscheidung des Beschwerdeausschusses - Ersatzkassen - über eine Honorarkürzung mit, so stellt dies auch dann keinen Mangel des Verfahrens vor dem Beschwerdeausschuß dar, wenn der Vorsitzende namens des Ortsausschusses gleichfalls Widerspruch gegen die Entscheidung des Prüfungsausschusses eingelegt hatte und der Beschwerdeausschuß über diesen Widerspruch mitentscheidet.
Orientierungssatz
Zur Frage, ob SGG § 60 Abs 1 S 1 iVm ZPO § 41 Nr 4 im Verfahren der Beschwerdeausschüsse (Kassenarztrecht) entsprechend anzuwenden ist.
Normenkette
ZPO §§ 62, 41 Nr. 4; SGG § 60 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; EKV-Ä § 14
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. April 1966 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger ist in K Facharzt für innere Krankheiten, zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen und an der Ersatzkassenpraxis beteiligt. Durch Bescheide vom 28. September 1961, 29. Dezember 1961, 26. März 1962 und 28. Juni 1962 kürzte der Prüfungsausschuß für Ersatzkassen die Honorarforderung des Klägers für die Quartale II/1961 bis einschließlich I/1962 wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise, indem er prozentuale Abstriche von der Honorarforderung für kleine und große Sonderleistungen sowie eigene Sachleistungen vornahm. Hiergegen erhoben der Kläger in vollem Umfange und der Vorsitzende des Ortsausschusses des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen e. V. (VdAK), Direktor H, bezüglich der Quartale III/1961 bis einschließlich I/1962 "Einspruch". An der Verhandlung des Beschwerdeausschusses - Ersatzkassen K - am 28. November 1962, in der der persönlich erschienene Kläger mangelnde Bekanntgabe von Einzelfällen unwirtschaftlicher Behandlungsweise gerügt hatte, haben ein Arzt als Vorsitzender und vier Ärzte als Beisitzer und außerdem mit beratender Stimme Direktor H als Kassenvertreter teilgenommen. Es wurde beschlossen, die "Einsprüche" des Klägers und die des Ortsausschusses des Verbandes der Ersatzkassen abzulehnen. Der Bescheid darüber wurde unter dem 21. Januar 1963 ausgefertigt und dem Kläger am 23. Januar 1963 zugestellt.
Mit seiner Klage hat der Kläger beantragt,
die Bescheide vom 28. September 1961, 29. Dezember 1961, 26. März 1962 und 28. Juni 1962 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1963 aufzuheben,
und zur Begründung vorgetragen, die genannten Bescheide seien fehlerhaft. Sie beruhten auf besonders krassen Verletzungen des geltenden Ersatzkassenvertrages, auf völlig unzureichenden und teilweise falschen tatsächlichen Feststellungen und unzutreffenden Erwägungen. Ferner wurde gerügt, daß an der Beratung des Beschwerdeausschusses als Vertreter der Ersatzkassen Direktor H teilgenommen habe und auch bei der Abstimmung des Ausschusses zugegen gewesen sei. Außerdem sei ihm, dem Kläger, das rechtliche Gehör verweigert worden. Ihm sei nämlich keine Gelegenheit gegeben worden, zu den vom Beschwerdeausschuß erstmals erhobenen Beanstandungen in ausreichendem Maße Stellung zu nehmen. Ein in diesem Zusammenhang gestellter Vertagungsantrag sei vom Ausschuß abgelehnt worden. Ferner sei der Beschwerdeausschuss seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen und habe ihm, dem Kläger, zu Unrecht das Verschulden an der unzureichenden Sachaufklärung zugeschoben.
Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KÄV) und die beigeladenen Ersatzkassen haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte und die beigeladene Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) haben geltend gemacht, der angefochtene Verwaltungsakt lasse weder Rechts- noch Ermessensfehler erkennen. Direktor H sei zwar bei der Beratung und Abstimmung des Beschwerdeausschusses zugegen gewesen, habe aber an der Abstimmung nicht teilgenommen. Die Barmer Ersatzkasse (BEK) hat bezüglich der Besetzung des Beschwerdeausschusses auf einen gemäß § 19 des Arzt/Ersatzkassenvertrages vom 12. Mai 1950 (EKV) ergangenen Beschluß der Arbeitsgemeinschaft vom 27. Mai 1959 verwiesen, wonach der gemäß § 14 Abs. 5 EKV tätige Kassenvertreter das Recht habe, auch bei der Beschlussfassung des Beschwerdeausschusses anwesend zu sein. Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 29. November 1963 die angefochtenen Bescheide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1963 aufgehoben, weil die Beklagte bei der Verhandlung über den Widerspruch des Klägers den Grundsatz der Gewährung des rechtlichen Gehörs verletzt habe.
Gegen dieses Urteil haben die beklagte KÄV und der beigeladene VdAK Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die vom Kläger angefochtenen Kürzungsbescheide des Prüfungsausschusses wieder hergestellt und im übrigen die Berufungen der beklagten KÄV und des beigeladenen VdAK zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 26. April 1966). Es hat angenommen, das SG hätte von seinem Standpunkt aus, dem Kläger sei das rechtliche Gehör im Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss nicht ausreichend gewährt worden, nur den Widerspruchsbescheid des Beschwerdeausschusses, nicht aber auch die Kürzungsbescheide des Prüfungsausschusses aufheben dürfen. Den Bescheid des Beschwerdeausschusses hat es wegen der beratenden Mitwirkung des Dir. H als rechtswidrig angesehen.
Gegen dieses Urteil haben die beklagte KÄV, der beigeladene VdAK und die beigeladene BEK Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit dies nicht bereits
durch das angefochtene Urteil geschehen ist,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die beklagte KÄV hält die beratende Mitwirkung Dir. H im Beschwerdeverfahren für rechtmäßig. Wenn es in diesem Verfahren überhaupt zulässig sei, daß ein von der Entscheidung mitbetroffener Beteiligter bei der Beschlußfassung mitwirke, so sei es nicht erheblich, ob dieser Beteiligte auch noch selbst Anträge zur Sache gestellt habe.
Im gleichen Sinne haben sich der VdAK und die BEK ausgesprochen. Die beigeladenen Ersatzkassen zu 3) bis 7) haben sich diesem Standpunkt angeschlossen.
Der Kläger hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Auffassung des LSG für zutreffend. Der Beschwerdeausschuß habe eine gerichtsähnliche Funktion. Deshalb müsse gewährleistet sein, daß nicht ein Kassenvertreter, der als Beschwerdeführer in besonderem Maße an der Entscheidung des Beschwerdeausschusses interessiert sei, beratend auf diese Entscheidung Einfluß nehme.
II
1.) Die Revisionen sind zulässig. Das gilt auch von der Revision der beigeladenen BEK. Das SG hatte der Klage in vollem Umfange stattgegeben und die angefochtenen Kürzungsbescheide in der Gestalt der Entscheidung des Beschwerdeausschusses aufgehoben. Dadurch wurden die an der Honorarabrechnung beteiligten Ersatzkassen - nicht etwa der VdAK als solcher - beschwert. Der Honoraranspruch ist nicht von den Ersatzkassen in ihrer Gesamtheit, sondern jeweils von der einzelnen Kasse, deren Mitglieder - einschließlich der Familienangehörigen - der Vertragsarzt behandelt hat, zu erfüllen. Das Honorar wird von jeder Kasse nach Einzelleistungen) entrichtet (vgl. §§ 8, 10 des Arzt/Ersatzkassenvertrages), so daß der Honoraranspruch, auch wenn in einem Honorarbescheid der KÄV die Honorarforderungen gegen mehrere Vertragskassen zusammengefaßt sind, auf verschiedenen Rechtsverhältnissen beruht (BSG 17, 97, 98; vgl. auch BSG 17 89, 95).
Das gilt auch dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Honorarabstriche nicht für einzelne Behandlungsfälle, sondern durch "prozentuale Streichungen" an ganzen Leistungsgruppen gemäß § 15 Nr. 2 Satz 3 des EKV durchgeführt worden sind. Dann ist zwar die Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des betreffenden Vertragsarztes insgesamt in einem einheitlichen Prüfverfahren - insbesondere auf der Grundlage von Vergleichen mit Durchschnittswerten der betreffenden Fachgruppe - gewürdigt worden (vgl. BSG 17, 97, 98). Aber auch diese zusammenfassende Beurteilung und die darauf gestützte prozentuale Streichung bei bestimmten Leistungsgruppen führen im Ergebnis immer nur zu Kürzungen des Honoraranspruchs gegen die jeweils beteiligten Ersatzkassen, für die der Vertragsarzt die von der Kürzung erfaßten Leistungen erbracht hat.
Wird ein Prüfungsbescheid, der einen Honorarabstrich zugunsten einer oder mehrerer Ersatzkassen enthält, durch gerichtliche Entscheidung aufgehoben, so wird demnach jede dieser Ersatzkassen durch die Aufhebung des Verwaltungsakts in dem sie betreffenden Umfang beschwert. Im vorliegenden Fall trat das bei der beigeladenen BEK durch die Entscheidung des SG ein. Indessen ist dadurch, daß sie versäumt hat, ihre Beschwer durch das hiergegen gegebene Rechtsmittel - die Berufung - geltend zu machen, ihre Revision nicht unzulässig geworden. Hier greift § 62 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i. V. m. § 74 SGG ein. Ähnlich wie die Krankenkasse als Einzugsstelle über die Versicherungspflicht, die Beitragspflicht und die Beitragshöhe mit Wirkung für und gegen die Träger der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung entscheidet (BSG 15, 118, 120 ff), bindet auch der Honorarbescheid der KÄV unmittelbar die beteiligten Ersatzkassen (BSG 17, 89, 93 f.). Wie deshalb die Einzugsstelle, die den vom Versicherten oder Arbeitgeber angefochtenen Beitragsbescheid im gerichtlichen Verfahren als Beklagte verteidigt, im Verhältnis der notwendigen Streitgenossenschaft zu den mitbeteiligten Trägern der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung steht, kann auch gegenüber der KÄV und den beteiligten Ersatzkassen das streitige Rechtsverhältnis nur einheitlich festgestellt werden (§ 62 Abs. 1 ZPO). Deshalb verhütet das Rechtsmittel der KÄV gegen ein sie beschwerendes Urteil, daß die Entscheidung gegen die beteiligten Ersatzkassen rechtskräftig wird, auch wenn diese selbst kein Rechtsmittel eingelegt haben.
Da im vorliegenden Fall die KÄV Berufung eingelegt hat und der Suspensiveffekt dieses Rechtsmittel auch der beigeladenen BEK zugute kommt, ist deren Revision zulässig, obwohl sie versäumt hatte, ihre Beschwer durch das erstinstanzliche Urteil mit der Berufung geltend zu machen.
2.) Die Revisionen sind begründet. Zu Unrecht hat das LSG den Bescheid des Beschwerdeausschusses schon deshalb als rechtswidrig angesehen, weil der Vorsitzende des Ortsausschusses des VdAK an der Beschlußfassung mit beratender Stimme mitgewirkt hatte und selbst namens des Ortsausschusses gegen mehrere der vom Kläger angefochtenen Honorarbescheide Beschwerde eingelegt hatte.
Dem Beschwerdeausschuß kommt nicht die gerichtsähnliche Funktion zu, die das LSG ihm beigemessen hat. Wie der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seiner Entscheidung vom 30. November 1965 (BSG 24, 134, 135 f.) unter Hinweis auf die Vorgeschichte der Regelung über das Vorverfahren (§§ 77 SGG ff) näher dargelegt hat, sollen die Widerspruchsstellen nach dem ihnen zugedachten Zweck keine "neutralen" Einrichtungen sein. Das Vorverfahren soll gerade nicht Rechtsmittelinstanz sein; es soll nicht bereits Teil des in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) garantierten Rechtsweg sein. Vielmehr soll das Vorverfahren ein Verfahren der Verwaltung sein. Vor allem soll die Verwaltung davor geschützt werden, voreilig verklagt zu werden, bevor sie nicht noch einmal ihren Verwaltungsakt selbst hat überprüfen können, was zugleich auch auf eine Entlastung der Gerichte hinausläuft. Somit erübrigt sich sowohl jede "Objektivierung" des Vorverfahrens als auch eine besondere Gewährleistung der "Unabhängigkeit" der Widerspruchsstelle oder ihres "sachlichen" oder "persönlichen" Abstands zu dem angefochtenen Verwaltungsakt.
Das gilt auch für die Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Wenn die Ersatzkassen auch bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung der Honorarforderungen ebenso wie bei der Auswahl der für sie tätigen Vertragsärzte und -zahnärzte auf eine beschließende Mitwirkung bei den entsprechenden Verwaltungsakten verzichtet haben - mit den Folgen, die sich daraus für die Besetzung der Kammern und Senate in den Streitsachen ergeben (vgl. BSG 11, 102, 105) -, so bleibt doch erkennbar, daß die Wirtschaftlichkeitsprüfung letztlich zur gemeinsamen Selbstverwaltung der KÄVen und der Ersatzkassen gehört. Der Beschwerdeausschuß besitzt nämlich nicht das den Widerspruchsstellen sonst vielfach eingeräumte Maß an Weisungsfreiheit: Der Zentralprüfungsausschuß (vgl. § 14 Nr. 8 Abs. 1 des EKV) hat Weisungsrecht u. a. gegenüber dem Beschwerdeausschuß (vgl. Abs. 4 daselbst); er kann unter bestimmten Voraussetzungen das jeweilige Prüfungsverfahren in stärkster Weise beeinflussen (vgl. Abs. 2 und 3 daselbst); schließlich kann auch die Arbeitsgemeinschaft der Vertragspartner des EKV (§ 19 dieses Vertrages) in grundsätzlichen Fragen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses im Einzelfall richtungweisend bestimmen (vgl. § 15 Nr. 8 des EKV). Selbst wenn aber diese Abhängigkeit des Beschwerdeausschusses in der Praxis nicht sehr in Erscheinung träte, so erhielte die Tätigkeit auch eines verhältnismäßig weisungsfrei arbeitenden Beschwerdeausschusses immer noch ihr Gepräge dadurch, daß er Entscheidungen in Sachen der Verwaltung, also in eigener Sache trifft. Schon das verbietet aber für das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuß die entsprechende Anwendung von Vorschriften, die die Objektivität des Richterspruchs, insbesondere das Fehlen eines persönlichen Interesses an der Entscheidung bei dem mit der Sache befaßten Richter, sicherstellten sollen. Der Bescheid, den die Verwaltung in der zweiten Stufe nach Durchführung des Vorverfahrens erläßt, bleibt eine Entscheidung der an der Sache selbst beteiligten Verwaltung, auch wenn davon ausgegangen werden kann, daß sie im Rahmen des zwingenden Rechts zu handeln bemüht ist.
Demnach kann entgegen der Auffassung des LSG im vorliegenden Falle nicht § 60 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 41 Nr. 4 ZPO entsprechend angewendet werden. Die Revision ist begründet. Mangels entsprechender Feststellungen des LSG in der Sache selbst muß der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dabei wird zu berücksichtigen sein, daß nach der Rechtsprechung des BSG (BSG 24, 134, 137) entgegen der Annahme des SG ein Verwaltungsakt nicht allein deshalb aufgehoben werden darf, weil er unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist, wenn er in der Sache richtig ist.
Ein Vertragsarzt, der der Auffassung ist, er habe vor dem Beschwerdeausschuß nicht ausreichend Gelegenheit erhalten, zu den ihm vorgehaltenen Wirtschaftlichkeitsverstößen substantiiert Stellung zu nehmen, kann seiner Mitwirkungspflicht auch noch während des gerichtlichen Verfahrens genügen (vgl. für den Kassenarzt Urteil des erkennenden Senats vom 16. März 1967 - 6 RKa 24/65 -).
Fundstellen