Entscheidungsstichwort (Thema)

Auskunftspersonen für Arbeitsangebote und Arbeitsplätze. Drei-Stufen-Schema

 

Leitsatz (redaktionell)

Das LSG muß sich genauere, mehr ins einzelne gehende Beschäftigungsmöglichkeiten von technischen Sachverständigen aufzeigen lassen. Die an der Vor- und Ausbildung orientierte Rangordnung wird zunehmend fragwürdiger; sie verfehlt häufig die Wirklichkeit der Arbeitswelt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. September 1970 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger fordert die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit. Er hat im Kriege das linke Bein bis zum Oberschenkel verloren; ferner ist er infolge einer Kriegsverletzung auf dem linken Ohr hochgradig schwerhörig. Wegen dieser Befunde und einer geringfügigen Wirbelsäulenverbiegung wird der 1922 geborene Kläger nur noch für fähig gehalten, leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen, vorwiegend, aber nicht ausschließlich, im Sitzen zu ebener Erde, ohne Bücken, Heben und Tragen von Lasten, ohne Hetze und Zeitdruck, wenn auch 6 bis 8 Stunden täglich, zu verrichten.

Der Kläger legte nach mehr als dreijähriger Lehre die Facharbeiterprüfung als Maschinenschlosser ab. Diesen Beruf übte er, bevor er zur Wehrmacht einberufen wurde, 3 1/2 Monate lang aus. Nach dem Kriege war er mehrere Jahre hindurch in einer Zuckerfabrik als Wachmann sowie mit dem Schärfen und Schleifen von Maschinenmessern beschäftigt. Zuletzt war er vier Jahre lang Schlosser in einer Blechvorrichterei. Seit Ende 1957 ist er keiner Erwerbsarbeit mehr nachgegangen. Auf das Angebot berufsfördernder Maßnahmen ging er nicht ein, weil er sich für dauernd erwerbsunfähig hält.

Die Beklagte lehnte die Bewilligung der Rente ab (Bescheid vom 19. Oktober 1967). Der Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) stattgegeben. Für das Berufungsgericht war entscheidungserheblich, daß es für den Kläger keine Tätigkeiten mehr gebe, die auszuüben er gesundheitlich imstande sei, die ihm als gelerntem Schlosser zugemutet werden könnten, bei denen er nicht überfordert werde und die ihm im freien Wettbewerb zugänglich seien. Nicht zumutbar seien dem Kläger Arbeiten, die nur Teilbereiche seines Berufsgebietes ausmachten, wie die des Schloß- und Schlüsselmachers, die, soweit sie nicht von Automaten oder Maschinen geleistet würden, in den Händen angelernter oder ungelernter Kräfte lägen. Gleiches gelte für andere Gebiete, die sich zu selbständig anerkannten Lehrberufen entwickelt hätten, so die des Drehers, Bohrers, Fräsers, Stanzers, Schweißers. Wo als Prüfer, Kontrolleure oder Fehlerbestimmer nicht Ungelernte oder Angelernte eingesetzt seien, würden Techniker, Fachingenieure oder ausgesprochene Spezialisten benötigt, zu denen der Kläger nicht zähle. Es treffe ferner nicht zu, daß - wie das LSG Nordrhein-Westfalen in mehreren Urteilen festgestellt habe - gelernte Schlosser dort Verwendung fänden, wo es auf schwierige Messungen, das Lesen von Zeichnungen und dergleichen mehr ankomme. Als Materialausgeber oder Lager- bzw. Magazinverwalter scheide der Kläger aus, weil solche Arbeiten entweder nicht genügend aus dem Kreis einfacher Aufgaben herausragten oder weil kaufmännische Vorkenntnisse verlangt würden, die der Kläger nicht besitze. - Für dieses Beweisresultat bezieht sich das LSG auf seine eigene Erfahrung und die Gutachten des Verwaltungsamtmanns Sonntag vom Landesarbeitsamt Niedersachsen/Bremen und des Angestellten Springhorn vom Arbeitsamt Celle. - Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt; sie beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Sie hat an dem Verfahren des Berufungsgerichts wesentliche Mängel auszusetzen. Ua beanstandet sie die Feststellung in dem angefochtenen Urteil, es fehle an für den Kläger angemessenen Arbeitsgelegenheiten. (1) Diese Feststellung beruht nach Ansicht der Revision auf einem Sachverständigengutachten, welches die vom Gericht gestellten Beweisfragen umformuliert und dann nicht korrekt und vollständig beantwortet habe. (a) So habe der Sachverständige Sonntag den Kreis der für einen Schlosser oder sonst in der Metall- und Maschinenindustrie in Betracht kommenden Beschäftigungen von sich aus dahin eingeengt, daß er seine Darlegungen auf "sozial adäquate Beschäftigungen" des genannten Bereichs begrenzt habe. Damit sei eine Erörterung anderer - vom Gutachter als nicht sozial adäquat angesehener - Wirkungsfelder zu kurz gekommen. (b) Weiterhin habe der Sachverständige sich auf die Antwort der Frage beschränkt, ob Schlosser die Eingangs- und Ausgangskontrolle in der Revisionsabteilung metallverarbeitender Betriebe durchführten. Er habe aber den weitergehenden Auftrag gehabt, zu untersuchen, ob solche Arbeitsplätze zwar nicht nur, aber auch mit Schlossern, vielleicht mit diesen sogar bevorzugt, besetzt würden. Diese Erkenntnis - meint die Revision - sei von doppeltem Wert gewesen: einmal, weil sie ein Indiz für die Sonderstellung eines solchen Arbeitsplatzinhabers sein könne, und zum anderen, weil sie einen Rückschluß auf die Verwendbarkeit spezifischer Berufskenntnisse und Berufserfahrung zulasse. (2) Darüber hinaus bezweifelt die Revision die Sachkunde der zu Rate gezogenen Sachverständigen. Der eine verfüge über Beobachtungen eines vorwiegend ländlich strukturierten Arbeitsmarktes; damit könne er für das hier entscheidungserhebliche Beweisthema nicht ohne weiteres als kompetent gelten. Der andere Sachverständige sei kaum in der Lage gewesen, die Einsatzmöglichkeiten des Klägers im gesamten Bundesgebiet zu beurteilen. Darauf sei aber abzustellen. Hinzu komme, daß sich das LSG nicht allein auf die Auskünfte von Beamten oder Angestellten der Arbeitsverwaltung hätte stützen dürfen. (3) Unvertretbar sei ferner die Tatsachenwürdigung in dem Berufungsurteil insoweit, als darin dem Kläger schon nach einer Beschäftigungsdauer von 3 1/2 Monaten der volle "Berufsschutz" eines Facharbeiters zuerkannt, andererseits aber die Berufspraxis von 4 Jahren in der Blechvorrichterei als unbeachtlich abgetan werde. Dabei habe das Berufungsgericht die Aufgabe der gebotenen Sacherforschung vernachlässigt, indem es nicht ermittelt habe, um was für Arbeiten es sich gehandelt habe, ob diese sich auf die gesamte Breite des Schlosserberufs erstreckten, ob sie Spezialkenntnisse und Spezialfertigkeiten erforderten und weshalb der Kläger sie nicht mehr verrichten könne.

Die Revision ist zulässig, weil mit ihr wesentliche Verfahrensmängel formgerecht geltend gemacht worden sind (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das gilt jedenfalls für die zuletzt angeführte Rüge. Das Berufungsgericht hat nicht klargestellt, mit welchen Arbeiten sich der Kläger in den Jahren 1953 bis 1957 befaßte, in denen er in einem größeren Unternehmen (Senking-Werke) als Schlosser tätig war. Es ist infolgedessen offengeblieben, ob er aus gesundheitlichen Gründen diesen Arbeitsplatz aufgab, ferner ob und in welchem Umfang sein Obliegenheitsbereich in dieser Zeit sich mit dem des ursprünglich erlernten Berufs deckte oder ob der Kläger in ein neues Wirkungsfeld hineingewachsen war, sowie welche soziale Stellung er damals einnahm oder - umgekehrt - warum es ihm nicht gelang, beruflich und auf der sozialen Stufenleiter vorwärtszukommen. In diesem Zusammenhang hat die Beklagte zutreffend darauf aufmerksam gemacht, daß der Kläger durch seine Kriegsbeschädigungen zu einer Zeit getroffen wurde, als er seinen Berufsweg noch kaum begonnen hatte. Es kann also keine Rede davon sein, daß der Kläger bereits einen gefestigten und für den erreichten sozialen Rang anzuerkennenden beruflichen Besitzstand erworben hatte (BSG 19, 217, 220; ferner BSG 16, 18, 20, wonach nur eine vorübergehende Tätigkeit im erlernten Beruf unbeachtlich ist; ebenso BSG 17, 191, 194). Andererseits stand er damals in einem Lebensalter, in dem von den Menschen nach allgemeiner Erfahrung größte geistige Beweglichkeit und Lernfähigkeit erwartet sowie die volle Chance zu beruflicher Anpassung oder gar Neuorientierung vorausgesetzt werden kann. Ein näheres Eingehen, insbesondere ein Befragen der damaligen Vorgesetzten des Klägers hätte veranschaulichen können, welche Chance er gehabt sowie ob und wie er sie genutzt hat. Vor allem und vorab war aber zu klären, ob der Kläger nicht in seinem erlernten Beruf geblieben war, wenn auch infolge seiner zusammengeschrumpften Arbeitsfähigkeit auf Teilbereichen.

Der Pflicht zur Nachforschung in den erwähnten Richtungen war das Berufungsgericht nicht schon deshalb enthoben, weil der Kläger während der fraglichen Zeit oft krank war. Welche Bedeutung diese Erkrankungen für die hier anzustellenden Erwägungen haben könnten, ließe sich nur ermessen, wenn Ursache und Art der Erkrankungen verdeutlicht worden wären, vor allem, wenn Anzeichen für eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung des Klägers bestanden hätten. Darüber enthält das Berufungsurteil jedoch keine Hinweise. Zur weiteren Sachaufklärung hätte sich das LSG schon deshalb gedrängt fühlen müssen, weil der Sachverständige Sonntag in seinem Gutachten hervorgehoben hatte, es sei offen, welche Funktion der Kläger bei den Senking-Werken gehabt habe. Hinzu kam, daß nach der Bekundung dieses Sachverständigen Facharbeiter mit der Produktionskontrolle befaßt werden. Auch der Sachverständige Springhorn erklärte, es gebe in Industrie und Gewerbe, wenn auch vereinzelt, Arbeitsplätze, die der Kläger mit seinem Leistungsvermögen im engeren Bereich seiner Berufssparte ausüben könnte. Zu besonderer Sorgfalt war der Berufungsrichter außerdem veranlaßt, weil das LSG Nordrhein-Westfalen in mehreren, von dem Berufungsgericht zitierten Entscheidungen zu einem anderen Beweisresultat gekommen war, nämlich zu der Überzeugung, daß man auf gelernte Schlosser dort zurückgreife, wo es auf schwierige Messungen, das Lesen von Zeichnungen, die Nachprüfung kleinerer Teilaggregate und auf das Nacharbeiten von Teilen ankomme. Daß die eigenen Erfahrungen, auf die sich das Berufungsgericht gestützt hat, ihm ein besseres Wissen vermittelten, als es das LSG Nordrhein-Westfalen besaß, ist nicht erläutert. Ebensowenig ist dargetan, daß der Sachverständige Springhorn, auf den sich das Berufungsgericht bezieht, über eine Sachkunde verfügt, welche seiner Schilderung einen in jedem Falle zu bevorzugenden Beweiswert verlieh. Zum Dienstbereich dieses Sachverständigen gehört die Arbeitsvermittlung; man darf annehmen, daß er einen beachtlichen Überblick über Arbeitsangebote und Arbeitsplätze auch auf dem hier interessierenden Sektor besitzt. Dennoch mußte es als geboten erscheinen, daß sich das LSG genauere, mehr ins einzelne gehende Beschäftigungsmöglichkeiten von technischen Sachverständigen aufzeigen ließ. Dabei kamen als Auskunftspersonen zB technische Betriebsleiter, Lehrer an Ingenieurschulen für Maschinenwesen, die in betrieblichen und überbetrieblichen Lehrwerkstätten tätigen Ausbilder und die bei den Berufsgenossenschaften angestellten technischen Aufsichtsbeamten in Frage. Weitere Sachverständige könnten die Handels- und Handwerkskammern benennen.

Die Nichtaufklärung des Sachverhalts in den angeführten Beweisfragen und durch zuverlässige Beweismittel verstößt gegen das Verfahrensrecht (§ 103 SGG). Mit dem darauf gegründeten Revisionsangriff hat sich die Beklagte das Rechtsmittel eröffnet. Weil nicht auszuschließen ist, daß das Berufungsurteil ohne die bezeichneten Mängel anders ausgefallen wäre, ist die Revision auch begründet. Damit die noch nötigen Beweiserhebungen nachgeholt werden können, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. - Für die Entscheidung in diesem Rechtszuge kann es auf sich beruhen, ob auch die übrigen Revisionsgründe gerechtfertigt sind. Das Berufungsgericht hat Gelegenheit, dieses Vorbringen zu beachten.

Für die neue Verhandlung und Entscheidung wird zusätzlich bemerkt, daß der Kreis der dem Versicherten zumutbaren Tätigkeiten nicht ausschließlich und nicht zu eng nach dem sogenannten Drei-Stufen-Schema - gelernt, angelernt, ungelernt - bestimmt werden darf (BSG 29, 96). Für das Merkmal der sozialen Zumutbarkeit in § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist die berufliche Ausbildung nur eines von mehreren maßgeblichen Kriterien. Die an der Vor- und Ausbildung orientierte Rangordnung wird zunehmend fragwürdiger; sie verfehlt häufig die Wirklichkeit der Arbeitswelt. Das Verhalten der arbeitenden Menschen richtet sich immer weniger nach dieser Stufenfolge (vertikale Mobilität). Auch zeigt ein Vergleich der sogenannten Lehrberufe miteinander Unterschiede in der sozialen Bewertung, wie sie zwischen den Gelernten einerseits und den Angelernten oder Ungelernten andererseits nicht größer sind. Außerdem ist die Anerkennung eines Berufs als Lehrberuf häufig von Berufsorganisationen willentlich, politisch beeinflußt und damit nicht notwendig ein gültiger Wertmaßstab für die Anwendung des Begriffs der Berufsunfähigkeit. Hierauf wird das Berufungsgericht stärker als bisher seine Aufmerksamkeit zu richten haben.

Zumindest mißverständlich ist schließlich die Stelle in dem angefochtenen Urteil, an der es heißt, daß für den Kläger angemessene Arbeitsplätze im freien Wettbewerb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Damit könnte das Berufungsgericht die Verantwortlichkeit von Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung verschoben haben. Es ist darauf abzustellen, ob dem Versicherten der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Wann dies der Fall ist, hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG 30, 167) erläutert (dazu auch BSG SozR Nr. 89 zu § 1246 RVO).

Über die Pflicht zur Kostenerstattung für das Revisionsverfahren bleibt die Entscheidung dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649272

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