Entscheidungsstichwort (Thema)
Standrechtliche Erschießung
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Vorliegen eines offensichtlichen Unrechts iS des BVG § 1 Abs 2d kann nur verneint werden, wenn die betreffende Strafmaßnahme materiell- und verfahrensrechtlich heutigen rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entspricht. Daraus folgt, daß eine Strafmaßnahme bereits dann als offensichtliches Unrecht in diesem Sinn anzusehen ist, wenn sie auch nur gegen eines der beiden oben angeführten Kriterien verstößt.
2. Rechtsstaatliche Grundsätze besagen im Strafrecht, daß eine Strafe nur für ein den Tatbestand eines Gesetzes erfüllendes Verhalten verhängt und dabei der im Gesetz enthaltene Strafrahmen sowie der Gedanke der Verhältnismäßigkeit beachtet wird.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. d Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 1969 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin ist die Witwe des am 15. Februar 1945 standrechtlich erschossenen W E (E.). Ihren im Juli 1957 gestellten Antrag auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) lehnte das Versorgungsamt B durch den Bescheid vom 31. Juli 1959 ab, weil der Tod des E. nicht im ursächlichen Zusammenhang mit einem der Tatbestände des § 1 BVG gestanden habe. Ihren Widerspruch hiergegen wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Nordrhein-Westfalen im Bescheid vom 3. Januar 1961 als unbegründet zurück.
Im Urteil vom 31. Januar 1964 hob das Sozialgericht (SG) Detmold die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin ab 1. Juli 1957 Witwenrente in gesetzlicher Höhe zu zahlen und ihr darüber einen Bescheid zu erteilen. Der Tatbestand des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG sei erfüllt, weil das Urteil gegen E. auf § 13 Abs. 1 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 17. August 1938 beruhe und solche Urteile nach Art. I § 1 Abs. 2 der Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit vom 3. Juni 1947 (VOBl für die britische Zone, S. 68 - Straffreiheits-VO -) aufgehoben seien.
Gegen das Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 3. Dezember 1969 vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen erklärt, daß sie ihren Anspruch für die Zeit vor dem 1. Juni 1960 nicht mehr aufrechterhalte. Im Urteil vom 5. Dezember 1969 wies das LSG die Berufung des Beklagten zurück; das SG habe der Klägerin zu Recht Versorgung zugesprochen. Die hierfür gegebene Begründung sei allerdings unzutreffend. Die KSSVO enthalte keinen § 13, und der § 13 der Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) vom 17. August 1938, den das SG offenbar meine, gehöre nicht zu den Vorschriften, die nach Art. I § 1 Abs. 2 Straffreiheits-VO zur Straffreiheit führten, weil von der Besatzungsmacht aufgehobene verfahrensrechtliche Vorschriften nach der Straffreiheits-VO keine Rolle spielten.
Das LSG hat der Klägerin nach eingehenden Erhebungen auf Grund des von ihm festgestellten folgenden Sachverhalts Versorgung zugesprochen: E. habe etwa ab 24. Januar 1945 beim Luftzeugamt K Dienst geleistet. Als ab 11. Februar 1945 K gegen sowjetische Truppen verteidigt wurde, sei E. beim Beziehen eines Schützengrabens ohne Gewehr und Munition erschienen. Deshalb sei er von einem Standgericht des Feldjäger-Regiments (mot) 2, das damals im Raum von Sagan eingesetzt gewesen sei, wegen militärischen Ungehorsams und Feigheit vor dem Feind zum Tode verurteilt worden; das Urteil sei am 15. Februar 1945 durch Erschießen vollstreckt worden. In dem Standgerichtsverfahren der damaligen Zeit habe es nach allgemeiner Erfahrung keine umfassende Sachaufklärung und keine ordnungsgemäße Verteidigung gegeben; der Grundsatz "Im Zweifel zugunsten des Angeklagten" sei nicht beachtet worden. Ein Rechtsmittel oder ein Gnadenverfahren habe es nicht gegeben; bei der Strafzumessung sei die persönliche Schuld des Angeklagten nicht ausreichend berücksichtigt, vielmehr seien härteste Strafen, in der Regel die Todesstrafe, aus Gründen der Abschreckung verhängt und die Urteile im allgemeinen sofort vollstreckt worden.
Das LSG ist der Ansicht, daß das gegen E. verhängte und vollstreckte Todesurteil eine Strafmaßnahme darstellt, die als offensichtliches Unrecht anzusehen ist. Das folge zwar nicht daraus, daß nach Art. I § 1 Abs. 4 Straffreiheits-VO in diesem Falle Straffreiheit gewährt werde. Das bedeute nur, daß die verhängte Strafe für die Zukunft erlassen sei und nicht mehr vollstreckt werden dürfe. Das Strafurteil selbst sei aber durch die Straffreiheits-VO nicht aufgehoben worden. Dies gelte nach Art. IV § 7 nur für Urteile über Straftaten der in Art. I § 1 Abs. 1 und 2 Straffreiheits-VO bezeichneten Art. Dazu gehöre dieser Fall nicht, weil Versagen aus Feigheit im militärischen Dienst schon vor der nationalsozialistischen Herrschaft strafbar gewesen sei.
Trotzdem sei die standrechtliche Erschießung des E. ein offensichtliches Unrecht i.S. des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG. Er habe diese Maßnahme als ein Opfer des Krieges erlitten, was vom BVG zur Voraussetzung für Versorgungsansprüche gemacht worden sei. Bei ihm sei durch die verhängte Strafmaßnahme eine schicksalhafte Gefahren- und Opferlage gegeben, die für die Art der Kriegsführung unter den damaligen Umständen typisch gewesen sei. Der kriegsdiensteigentümliche Charakter der Strafmaßnahme habe in ihrem offensichtlichen Unrecht gelegen, eine Frage, die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu beurteilen sei. Daraus, daß die Todesstrafe nach Art. 102 des Grundgesetzes (GG) mit Wirkung von 1949 an "abgeschafft" worden sei, folge allerdings noch nicht das offensichtliche Unrecht gegen E. Dieser Rechtssatz habe in Deutschland unter rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere im Militärstrafrecht, vorher noch nicht gegolten.
Die gegen E. getroffene Maßnahme sei im übrigen schon nach nationalsozialistischer Auffassung offensichtliches Unrecht gewesen. Die gesetzlichen Vorschriften - vor allen Dingen das Militärstrafgesetzbuch (MStGB) idF vom 10. Oktober 1940, die KSSVO vom 17. August 1938 und die in den letzten Kriegsjahren ergangenen Weisungen der militärischen Führung - seien Mitte Februar 1945 nach damals geltenden obersten nationalsozialistischen Grundsätzen nur noch scheinbar verbindliche Rechtssätze gewesen. Für den Nationalsozialismus sei die Grundlage für Recht und Ordnung, für Gehorsam und für die Bestrafung von Ungehorsam der Führerwille gewesen. Diese Rechtsquelle sei am 15. Februar 1945 nicht mehr wirksam gewesen. Das nationalsozialistische Herrschaftssystem mit dem ihm eigentümlichen Befehls- und Gehorsamsgefüge sei im Februar 1945 bereits brüchig gewesen, weil der Soldat damals nicht mehr habe darauf vertrauen können, daß die ihm erteilten Befehle nach dem Willen des Führers und Oberbefehlshabers noch galten. Daß die Maßnahme gegen E. als Unrecht i.S. des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG betrachtet werde, sei nicht dadurch ausgeschlossen, daß er seinen militärischen Eid gebrochen habe. Der den deutschen Soldaten seit dem Gesetz vom 20. Juli 1935 abverlangte Eid habe deutscher Eidestradition widersprochen und sei in sich widerspruchsvoll und keine tragfähige Grundlage für eine Pflicht, alle militärischen Befehle zu befolgen, gewesen. Er sei auch nach damals geltendem Recht rechts- und sinnwidrig gewesen, weil es nach § 128 des Strafgesetzbuches strafbar gewesen sei, sich innerhalb einer Verbindung gegenüber einem bekannten Oberen zu unbedingtem Gehorsam zu verpflichten. Darüber hinaus habe Hitler den Eid, der nach geschichtlich-deutscher Auffassung eine wechselseitige Verpflichtung auferlege, durch sein eigenes verbrecherisches, das deutsche Volk in höchstem Maße schädigendes Verhalten selbst gebrochen. Ein solcher volksschädlicher Führerwille habe nach nationalsozialistischer Auffassung nicht mehr die oberste Rechtsquelle sein können.
Die Erschießung des E. habe erst recht auch rechtsstaatlich-demokratischen Grundsätzen widersprochen. Dazu gehöre vor allem ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er besage im Strafrecht, daß eine Strafe nicht im krassen Mißverhältnis zu dem zu sühnenden Verhalten stehen dürfe. Gegen diesen Rechtsgrundsatz habe die Hinrichtung des E. im Februar 1945 verstoßen. Da über die Tatumstände und die Persönlichkeit des Hingerichteten im einzelnen nicht genügend bekannt sei, müsse das Verhältnis der Tat zu ihrer Ahndung auf dem Hintergrund der allgemeinen politischen und militärischen Lage beurteilt werden. Die militärische "Ordnung", die durch das Verhalten des E. gestört worden sei, habe im Februar 1945 in Wirklichkeit nicht mehr bestanden. Sie habe nur mit äußerem Zwang unter rücksichtsloser Anwendung von Machtmitteln notdürftig aufrechterhalten werden können. Dies zeige sich darin, daß der Gedanke der Abschreckung durch die Verhängung von strengen Strafen im Vordergrund gestanden habe. Diese Überbewertung des Abschreckungsgedankens sei aber mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar.
Auch das Strafverfahren gegen E. sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar gewesen. Die Feldjäger-Standgerichte hätten im Februar 1945 in Schlesien keine echte Rechtsprechung ausgeübt. Es habe sich vielmehr um ein willkürliches Hinrichten im äußeren Scheingewand eines gerichtsförmigen Verfahrens gehandelt. Diese Verfahrensweise der Standgerichte habe den Grundsätzen entsprochen, die damals allgemein den Auftrag der Feldjägereinheiten gekennzeichnet hätten; diese hätten "notfalls mit rücksichtslosen Mitteln bis zum sofortigen Waffengebrauch die militärische Zucht und Ordnung in jeder Lage aufrechterhalten" sollen.
Aus diesen Gründen ergebe sich, daß die Hinrichtung des E. als offensichtliches Unrecht i.S. des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG zu werten sei, so daß die Berufung des Beklagten als unbegründet zurückgewiesen werden müsse.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 10. Februar 1970 zugestellte Urteil am 9. März 1970 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 10. Mai 1970 am 8. Mai 1970 begründet. Er rügt die Verletzung der §§ 102, 103, 123, 128, 157 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 1 BVG.
Das LSG habe § 128 SGG verletzt, weil es die Aussage des Zeugen G als "widerspruchsfrei" bezeichnet und dabei übersehen habe, daß G in seinem Schreiben vom 22. Juli 1960 an die Klägerin etwas anderes bekundet habe als in seinen beiden Vernehmungen vom 11. Mai 1967 und vom 3. Dezember 1969. Nach dem Schreiben an die Klägerin habe G, als er im Februar 1945 bei einer Dienstfahrt auf einem Plakat in E die Namen von wegen Feigheit vor dem Feind erschossenen Soldaten gelesen habe, nur vermutet, daß es sich bei einem der dort genannten Soldaten um den Ehemann der Klägerin gehandelt haben könnte; dagegen habe er in seinen Aussagen vor Gericht bekundet, daß er den Namen des Ehemannes der Klägerin auf dem Plakat gelesen bzw. gesehen habe. Angesichts der Unvereinbarkeit der Angaben hätte das LSG Anlaß gehabt, sich in den Entscheidungsgründen damit auseinanderzusetzen. Bei einer gehörigen Würdigung des Widerspruchs zwischen dem Schreiben und den Angaben des Zeugen vor Gericht hätte das LSG Zweifel an der Zuverlässigkeit seines Erinnerungsvermögens haben müssen. Dann wäre die Feststellung verhindert worden, daß E. im Februar 1945 ohne Gewehr und Munition beim Beziehen des Schützengrabens erschienen und deshalb zum Tode verurteilt worden sei.
Es bestehe auch kein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, daß das Verfahren der Standgerichte regelmäßig unter den vom LSG angenommenen Mängeln gelitten habe; denn der Verlauf dieser Verfahren sei wahrscheinlich in der Mehrheit der Fälle nur einem beschränkten Personenkreis, aber nicht allgemein bekannt geworden. Das LSG könne den von ihm angenommenen allgemeinen Erfahrungssatz auch nicht über den Weg des Anscheinsbeweises nachweisen; der insoweit gehörte Zeuge P beweise nur eigene persönliche Erfahrungen. In der Anwendung eines nicht bestehenden allgemeinen Erfahrungssatzes liege ein Verstoß gegen § 128 SGG.
Trotz des von ihm angenommenen Erfahrungssatzes habe das LSG weitere Ermittlungen zur Klärung der Art und Weise dieser standgerichtlichen Verfahren für erforderlich gehalten. Der Zeuge P habe nur über zwei einzelne Verfahren berichten können. Daher habe sich das LSG gem. § 103 SGG gedrängt fühlen müssen, den Oberfeldrichter a.D. W H zu vernehmen. Dieser habe keinem Standgericht, sondern dem Gericht des Feldjägerkommandos II angehört und kraft dieser Stellung mehr über die Art der Verfahren vor den Standgerichten bekunden können als der Zeuge P..
Die gerügten Verfahrensverstöße seien wesentlich, weil ohne die verfahrensfehlerhaft festgestellten Tatsachen - das zur Verurteilung führende Verhalten des E., die Begründung des Urteils mit militärischem Ungehorsam und Feigheit vor dem Feind und die Mangelhaftigkeit des Strafverfahrens - das LSG sich wohl nicht davon überzeugt hätte, daß die Strafmaßnahme gegen E. offensichtliches Unrecht gewesen sei.
Dem LSG sei darin zuzustimmen, daß die Todesstrafe für Ungehorsam und Feigheit vor dem Feind eine auch nach rechtsstaatlicher Auffassung nicht von vornherein und unter allen Umständen unvertretbare Sühne darstelle. Wenn das LSG aber deshalb, weil nicht genügend Einzelheiten festzustellen gewesen seien, das Verhältnis der Tat zur Hinrichtung auf dem Hintergrund der allgemeinen politischen und militärischen Lage untersuche, begehe es einen Fehler, den es im Prinzip selber den Standgerichten vorwerfe, nämlich den, die in der Person des Täters liegenden rechtserheblichen Gegebenheiten nicht gebührend bei der strafrechtlichen Beurteilung zu berücksichtigen. Es sei unrichtig, wenn das LSG davon ausgehe, daß in jedem Fall nach den im Februar 1945 herrschenden Verhältnissen es sittlich nicht gerechtfertigt gewesen sei, durch Todesurteile die Befolgung militärischer Pflichten zu erzwingen. Diese Frage müsse in jedem Einzelfall entschieden werden.
Das LSG habe auch die §§ 102, 123, 157 SGG verletzt, als es trotz der Beschränkung des Klageanspruchs durch die Klägerin die Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil in vollem Umfang zurückgewiesen habe. Es hätte vielmehr im Umfange der Klagerücknahme das Urteil der ersten Instanz aus verfahrensrechtlichen Gründen abändern und insoweit die Klage abweisen müssen.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung der Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 1969 und des SG Detmold vom 31. Januar 1964 die Klage in vollem Umfang abzuweisen,
hilfsweise,
das mit der Revision angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. -
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte Revision ist vom Beklagten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist daher zulässig. Sachlich konnte sie dagegen keinen Erfolg haben.
Nach den §§ 38 Abs. 1, 1 Abs. 5 BVG hat die Klägerin Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung, weil ihr Ehemann an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Das LSG hat zu Recht angenommen, daß E. einer Strafmaßnahme zum Opfer gefallen ist, die den Umständen nach als offensichtliches Unrecht angesehen werden muß (§ 1 Abs. 2 Buchst. d BVG).
Die vom Beklagten gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG über Hergang und Gründe der Erschießung des E. erhobenen Rügen greifen nicht durch. Das gilt zunächst für die Rüge, das LSG habe § 128 SGG verletzt, weil es die Aussage des Zeugen G als "widerspruchsfrei" behandelt habe. Der Zeuge hat in seiner Vernehmung vor dem LSG vom 3. Dezember 1969 einen Widerspruch seiner jetzigen Aussage mit seinem Schreiben aus dem Jahre 1960 an die Klägerin verneint und damit das frühere Schreiben klargestellt. Das ist dem Fall vergleichbar, daß ein Zeuge eine in dem ersten Stadium seiner Vernehmung gemachte und bereits protokollierte Aussage später richtigstellt. Hier handelt es sich für das Gericht auch nicht darum, wie es den sich aus den Akten ergebenden Widerspruch zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Zeugenaussage überwindet, sondern nur um die Prüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen. Genauso kann es hier nicht darauf ankommen, daß der Brief an die Klägerin teilweise einen anderen Inhalt hatte als die später vor Gericht gemachten Aussagen. Das LSG hatte sich nur damit zu befassen, ob es dem Zeugen G glauben wollte. Mit dieser Frage hat sich das LSG in den Entscheidungsgründen ausführlich auseinandergesetzt und dabei nicht erkennbar gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung verstoßen. Es hat in umfangreicher widerspruchsfreier Würdigung dargelegt, warum es den Aussagen des Zeugen G in dessen richterlichen Vernehmung folgt, und ist dabei auch auf gewisse Widersprüche zu Aussagen anderer Zeugen eingegangen. Es brauchte sich dabei aber nicht gedrängt fühlen (§ 103 SGG), weiter in G. zu dringen oder sich auch mit dem vom Beklagten behaupteten Widerspruch zwischen dem Inhalt des Briefes vom 22. Juli 1960 an die Klägerin und seiner Aussage vor Gericht auseinanderzusetzen; denn G selbst hatte auf Vorhalt des o.a. Briefes in seiner Vernehmung vor Gericht zu dessen Inhalt Stellung genommen. Wenn das LSG danach seiner Aussage glaubte und ihr folgte, ergibt sich daraus nicht, daß es dabei die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten hätte.
Hiernach hat das LSG in einer für das Bundessozialgericht (BSG) bindenden Weise (§ 163 SGG) festgestellt, daß E. mit der Begründung des Ungehorsams und der Feigheit vor dem Feind zum Tode verurteilt worden ist, weil er im Februar 1945 ohne Waffen und Munition in einem Schützengraben erschienen ist. E. ist demnach auf Grund einer mit dem militärischen Dienst zusammenhängenden Strafmaßnahme getötet worden (vgl. BSG SozR Nrn. 48 und 71 zu § 1 BVG), die den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist (§ 1 Abs. 2 d BVG). Dabei kommt es auf die Erwägungen des LSG, ob die Hinrichtung des E. auch nach nationalsozialistischen Rechtsvorstellungen als offensichtliches Unrecht anzusehen gewesen ist, nicht an. Eine Strafmaßnahme ist bereits dann ein offensichtliches Unrecht i.S. von § 1 Abs. 2 d BVG, wenn sie heutigen rechtsstaatlichen Anschauungen widerspricht (vgl. BSG 6, 195, 196; 12, 175, 176; Urteile vom 14. Februar 1968 - 8 RV 709/66 - und vom 6. Juli 1971 - 9 RV 346/70 -). Das ist hier der Fall. Rechtsstaatliche Grundsätze besagen im Strafrecht, daß eine Strafe nur für ein den Tatbestand eines Gesetzes erfüllendes Verhalten verhängt und dabei der im Gesetz enthaltene Strafrahmen und der Gedanke der Verhältnismäßigkeit (vgl. dazu BVerfG 17, 108, 117) beachtet wird. Daran fehlt es hier.
Den Feststellungen des LSG zufolge wurde E. wegen Ungehorsams und Feigheit vor dem Feind zum Tode verurteilt. Nach § 92 MStGB idF vom 10. Oktober 1940 (RGBl I S. 1347) lag Ungehorsam vor, wenn der Täter einen Befehl in Dienstsachen nicht befolgte und dadurch vorsätzlich oder fahrlässig einen erheblichen Nachteil, eine Gefahr für Menschenleben oder in bedeutendem Umfang für fremdes Eigentum oder eine Gefahr für die Sicherheit des Reiches oder für die Schlagfertigkeit oder Ausbildung der Truppe herbeiführte. Hierfür war regelmäßig Arrest nicht unter einer Woche oder Gefängnis bzw. Festungshaft bis zu 10 Jahren angedroht. Nach Abs. 2 konnte auf Todesstrafe oder auf lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus erkannt werden, wenn die Tat im Felde begangen wurde oder ein besonders schwerer Fall vorlag. Ein solcher Tatbestand ist nach Auffassung des Senats allein dadurch, daß E. ohne Waffen und Munition im Schützengraben erschien, jedenfalls nicht verwirklicht worden. Nach § 84 MStGB idF vom 10. Oktober 1940 konnte wegen Dienstpflichtverletzung aus Furcht auf Arrest oder Gefängnis erkannt werden, wenn der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr eine militärische Dienstpflicht verletzte. Nach § 85 MStGB konnte in besonders schweren Fällen der Dienstpflichtverletzung wegen Feigheit die Todesstrafe ausgesprochen werden. Auch insoweit ist aus dem festgestellten Verhalten des E. ein besonders schwerer Fall nicht zu entnehmen. Wenn demnach vom regelmäßigen Strafrahmen abgewichen und sogleich die absolute Höchststrafe verhängt und vollstreckt wurde, so ist schon nach dem damals geltenden gesetzlichen Strafrahmen die Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zwischen der Tat und Ihrer Ahndung festzustellen, auch ohne daß auf die besonderen Umstände im Februar 1945 und auf die Frage der Rechtsverbindlichkeit der damaligen Strafvorschriften und ihrer Vereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen eingegangen zu werden braucht. Die Verhängung der Todesstrafe gegen E. kann ferner nicht dadurch gerechtfertigt werden, daß nach § 5 a KSSVO idF der Fünften Verordnung zur Ergänzung der KSSVO vom 5. Mai 1944 (RGBl I S. 115) eine Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens bis zur Todesstrafe möglich war. Dies setzte stets voraus, daß der Täter eine vorsätzliche strafbare Handlung verübt hatte, beseitigte also nicht das Erfordernis, daß die Handlung einen Tatbestand des MStGB erfüllte. Im übrigen mußte durch die strafbare Handlung auch ein schwerer Nachteil oder eine ernste Gefahr für die Kriegsführung oder die Sicherheit des Reiches verschuldet sein, Tatbestandsmerkmale, die schon dem festgestellten äußeren Verhalten des E. nicht zu entnehmen sind.
Es kann ferner keinem vernünftigen Zweifel unterliegen, daß die gegen E. verhängte und an ihm vollstreckte Todesstrafe gegen allgemeine rechtsstaatliche Grundsätze verstieß; denn dieses Strafmaß steht schon auf den ersten Blick zum Unrechtswert der festgestellten Tat in einem solch krassen Mißverhältnis, daß von einer Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Strafe hiernach nicht mehr die Rede sein kann (vgl. BSG vom 18.8.1966 - 8/11 RV 612/63 -). Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist aber gerade bei Eingriffen in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit besonders zu beachten. Um ihm zu entsprechen, muß der Eingriff unerläßlich sein und immer unzweifelhaft in angemessener Relation zur Schwere der Tat stehen (vgl. BVerfG 17, 108, 117). Wenn aber schon nach den äußeren Umständen dieses Falles und nicht zuletzt auch in Anbetracht der gerichtsbekannten Haltung des damaligen Truppenbefehlshabers in dem betreffenden Gebiet dem Strafmaß hier offenkundig die Bedeutung einer allgemeinen extrem überbewerteten Abschreckung beigemessen wurde, dann sind die typischen Merkmale der Unverhältnismäßigkeit erfüllt, deretwegen die Vorschrift des § 1 Abs. 2 d BVG nicht zuletzt geschaffen wurde (vgl. BSG 6, 195, 197 mit weiteren Nachweisen; vgl. ferner BSG in SozR Nr. 30 zu § 41 VerwVG). Der Senat tritt den Schlußfolgerungen des LSG zu dieser Frage in vollem Umfang bei. Die Angriffe der Revision hiergegen gehen fehl, weil sie verkennen, daß anders als zum Begriff der persönlichen Schuld eines Täters für die Fragen der Verhältnismäßigkeit einer Strafe zur Tat über die Verhältnisse des Einzelfalles hinaus auch die bei der Strafzumessung im Zeitpunkt der Urteilsfällung allgemein gehandhabten Maßstäbe der Bewertung zugänglich sind.
Bei dieser Sachlage kam es auf die Frage, ob auch das gegen E. durchgeführte Standgerichtsverfahren gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstößt, nicht mehr an. Das Vorliegen eines offensichtlichen Unrechts i.S. des § 1 Abs. 2 d BVG kann nur verneint werden, wenn die betreffende Strafmaßnahme materiell- und verfahrensrechtlich rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht (vgl. BSG vom 18.8.1966 - 8/11 RV 612/63 -). Daraus folgt, daß eine Strafmaßnahme bereits dann als offensichtliches Unrecht in diesem Sinn anzusehen ist, wenn sie auch nur gegen eines der beiden o.a. Kriterien verstößt. Der Senat teilt die Bedenken des LSG gegen die Rechtsstaatlichkeit des bei E. angewendeten Verfahrens. Es bedurfte jedoch aus dem oben erwähnten Grunde insoweit keiner Entscheidung über die Tatsachen- und Rechtsrügen des Beklagten.
Das LSG hat daher zutreffend die Verurteilung und Hinrichtung des E. als eine Strafmaßnahme angesehen, die den Umständen nach ein offensichtliches Unrecht ist.
Das Urteil ist auch nicht deshalb teilweise aufzuheben, weil es trotz der Erklärung der Klägerin vom 3. Dezember 1969 die Berufung des Beklagten in vollem Umfang zurückweist. In jener Erklärung der Klägerin liegt eine teilweise Rücknahme der Klage, die nach § 102 Satz 2 SGG insoweit eine Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache zur Folge hat. Durch die Erledigung in der Hauptsache verlieren automatisch alle in dieser Sache vorher ergangenen Urteile ihre Wirksamkeit, ohne daß es einer besonderen Aufhebung bedarf (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG, § 102 Anm. 4 a). Da diese Rechtsfolge kraft Gesetzes eintritt, kann durch ein nach der Klagerücknahme ergehendes Urteil das frühere Urteil nicht wiederhergestellt werden. Das Urteil des SG "lebt" somit nicht dadurch wieder "auf", daß das LSG die hiergegen eingelegte Berufung zurückgewiesen hat. Die Rücknahme der Klage kann sich auch auf einen Teil des Streitgegenstandes beschränken; dann treten die genannten Wirkungen hinsichtlich dieses Teiles ein (vgl. BSG in Der Versorgungsbeamte 1964, S. 6). Um dem aus dem Urteilstenor des LSG möglicherweise resultierenden Rechtsschein zu entgehen, konnte der Beklagte gemäß § 102 Satz 3 SGG beantragen, durch Beschluß auszusprechen, daß durch die teilweise Klagerücknahme das Urteil des SG in diesem Umfange seine Wirksamkeit verloren hat.
Das LSG hat daher zutreffend die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Infolgedessen ist die Revision des Beklagten unbegründet und muß gleichfalls als unbegründet zurückgewiesen werden, § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen