Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtswegzuweisung im Schwerbehindertenrecht. Feststellung gesundheitlicher Merkmale. Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Ausweis mit dem Merkzeichen H (Hilflosigkeit) ist bei der Erfüllung des Tatbestands (§ 3 Abs 4 SchwbG) ungeachtet der Tragweite auszustellen, die diese Bescheinigung für die Entscheidung über den Anspruch auf Pflegegeld nach § 69 Abs 3 BSHG hat.

 

Orientierungssatz

1. Bei Streit über die Feststellung des gesundheitlichen Merkmals "Hilflosigkeit" ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten kraft Zuweisung (§ 51 Abs 4 SGG) gegeben. Nach dieser Vorschrift entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über sonstige öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, für die durch Gesetz der Rechtsweg vor diesen Gerichten eröffnet wird. § 3 Abs 6 S 1 SchwbG enthält eine solche Zuweisung bei Streitigkeiten ua über die Feststellung gesundheitlicher Merkmale.

2. Mit dem Schwerbehindertenausweis soll neben der Schwerbehinderteneigenschaft der Nachweis der Voraussetzungen für alle Vergünstigungen geführt werden können. Mithin hat der Schwerbehinderte ein berechtigtes Interesse an einer seinen gesundheitlichen Verhältnissen entsprechenden Feststellung nach § 3 Abs 1, 3 und 4 SchwbG. Die Entscheidung darüber obliegt der Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung. Deren Zuständigkeit entfällt auch dann nicht, wenn nur über ein gesundheitliches Merkmal und nicht auch über die Höhe der MdE zu befinden ist.

3. Die durch die Versorgungsbehörden erfolgten Statusfeststellungen sind zumindest beweiserheblich bedeutsam und haben eine wesentlich stärkere Rechtswirkung als eine für die Sozialhilfeverwaltung abgegebene gutachtliche Äußerung.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs 4; SchwbG § 3 Abs 5 S 2; SchwbG § 3 Abs 6 S 1; BSHG § 69 Abs 3; SchwbG § 3 Abs 1; SchwbG § 3 Abs 3; SGG § 51 Abs 4

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 07.07.1981; Aktenzeichen 32 VS 104/81)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung des gesundheitlichen Merkmals "Hilflosigkeit" (Merkzeichen H) nach dem Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz - SchwbG -).

Die Versorgungsbehörde bewertete verschiedene Behinderungen der Klägerin zunächst mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vh; außerdem stellte sie für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen verschiedene gesundheitliche Merkmale fest. Später erhöhte sie die MdE ua auf 100 vH, lehnte jedoch die Anerkennung der "Hilflosigkeit" ab, da die gesundheitlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben seien.

Mit der Klage trug die Klägerin vor, sie habe Anspruch auf Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), denn sie sei hilflos. Die Sozialhilfebehörde gewähre ihr bereits diese Sozialleistung; allerdings vorbehaltlich der nach dem SchwbG zu treffenden Feststellung der Hilflosigkeit iSd § 69 Abs 3 BSHG.

Das Sozialgericht (SG) hat die darauf gerichtete Klage abgewiesen und ausgeführt: Gegenstand des Rechtsstreites seien die gesetzlichen Voraussetzungen, die nach dem BSHG zum Bezug von Pflegegeld berechtigten. Damit handele es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, für die der Rechtsweg zu den Sozialgerichten nicht eröffnet sei. Eine gesetzliche Zuweisung nach § 51 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 3 Abs 6 SchwbG läge nicht vor.

Mit der - zugelassenen - Sprungrevision will die Klägerin diese Rechtsfrage geklärt wissen.

Sie beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Sache zur erneuten

Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht

zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision  der    Klägerin hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Zu Unrecht meint das SG, der Rechtsweg zu den Sozialgerichten sei in einem Fall wie diesem unzulässig.

Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist kraft Zuweisung (§ 51 Abs 4 SGG) gegeben. Nach dieser Vorschrift entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über sonstige öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, für die durch Gesetz der Rechtsweg vor diesen Gerichten eröffnet wird. § 3 Abs 6 Satz 1 SchwbG enthält eine solche Zuweisung bei Streitigkeiten ua über die Feststellung gesundheitlicher Merkmale. Diese gesetzlich normierten Voraussetzungen liegen hier vor.

Nach § 3 Abs 4 SchwbG treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Abs 1, wenn neben einer Minderung der Erwerbsfähigkeit weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen sind. Der Hinweis auf § 3 Abs 1 SchwbG bedeutet, daß vor dem 1. Januar 1981 sich das Verwaltungsverfahren nach dem Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVfG - idF der Bekanntmachung vom 6. Mai 1976 (BGBl I 1169) richtet (dazu neuerdings Art 2 §§ 16 und 40 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches -SGB 10- vom 18. August 1980 - BGBl I 1469). Zuständig ist die Versorgungsbehörde der Beklagten (§ 2 Satz 1 KOVVfG; § 85 Abs 2 Nr 1 SGG iVm § 3 des Gesetzes über die Errichtung der Verwaltungsbehörden der KOV vom 12. März 1051 in der Bekanntmachung vom 24. Juli 1972 - BGBl I 1284). Sie entscheidet durch Bescheid, der seiner Rechtsnatur nach ein Verwaltungsakt ist (§ 22 KOVVfG aF; § 31 SGB 10). Die damit getroffenen Feststellungen nach § 3 Abs 1, 2, 3 und 4 SchwbG bilden, sofern unanfechtbar und aufgrund dessen verbindlich geworden, die Grundlage für den Schwerbehindertenausweis. Er dient nach § 3 Abs 5 Satz 2 SchwbG dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Rechten und Vorteilen, die Schwerbehinderten nach diesem Gesetz oder nach anderen Vorschriften zustehen. Dieser Ausweis bezeichnet umfassend den Status des Schwerbehinderten.

Die Klägerin strebt die Eintragung des Merkzeichens "H" in dem Schwerbehindertenausweis an. Voraussetzung dafür ist die Feststellung der Hilflosigkeit. Sie ist gegeben, wenn der Schwerbehinderte infolge der Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf (Richtlinien über Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte, Stand Januar 1977, neuerdings vgl § 3 Abs 1 Nr 2 der 4. Verordnung zur Durchführung des SchwbG - SchwbAwV - vom 15. Mai 1981 - BGBl I 431). Welche Gründe die Klägerin bewogen haben, einen entsprechenden Antrag zu stellen - etwa wegen des Anspruchs auf Pflegegeld nach § 69 Abs 3 BSHG -, bzw auf welche Weise eine zuerkannte günstige Rechtsposition nutzbar gemacht werden könnte, ist ohne Belang. Auch kommt es nicht darauf an, inwieweit ggf die Sozialbehörde geneigt ist, die gesundheitlichen Feststellungen zu übernehmen. Das SchwbG bezweckt, wie bereits die Gesetzesüberschrift deutlich hervorhebt, die Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft. Dieser auf Rehabilitation gerichteten Zielvorstellung wird das Gesetz in der Weise gerecht, daß es die globale Feststellung aller gesundheitlichen Erfordernisse ermöglicht, die geeignet sind, rechtliche Erleichterungen zu bewirken. Dies bestätigt die durch das 8. Anpassungsgesetz KOV vom 24. Juni 1976 (BGBl I S 1482) geschaffene Neufassung des § 3 Abs 4 SchwbG zusätzlich. Mit dem Schwerbehindertenausweis soll nunmehr neben der Schwerbehinderteneigenschaft der Nachweis der Voraussetzungen für alle Vergünstigungen geführt werden können (Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung BT-Drucks 7/4960, zu Nr 1 -§3-, zu Buchst c, S 6). Mithin hat der Schwerbehinderte ein berechtigtes Interesse an einer seinen gesundheitlichen Verhältnissen entsprechenden Feststellung nach § 3 Abs 1, 3 und 4 SchwbG (so im Ergebnis auch Gröninger, SchwbG, § 3 Anm 2 Buchst c und Anm 7). Die Entscheidung darüber obliegt der Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung (BT-Drucks 7/4960, I, 3, S 5). Deren Zuständigkeit entfällt auch dann nicht, wenn nur über ein gesundheitliches Merkmal und nicht auch über die Höhe der MdE zu befinden ist. Dies ergibt die am Willen des Gesetzes ausgerichtete Auslegung des § 3 Abs 4 SchwbG.

Einzuräumen ist, daß die vom SG offenbar für unvermeidlich gehaltene Wortinterpretation des Textes "neben einer Minderung der Erwerbsfähigkeit weitere gesundheitliche Merkmale ..." an eine nicht uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis der Versorgungsbehörde denken läßt. Demzufolge wäre sie nur zuständig, wenn die Vergünstigungen sowohl einen bestimmten Grad der MdE als auch ein weiteres gesundheitliches Merkmal - kumulativ - voraussetzten. Ein solche Auslegung ginge aber am Sinn und Zweck des Gesetzes vorbei. Gerade die Gesetzesmaterialien zum 8. Anpassungsgesetz-KOV lassen das gesetzgeberische Bestreben erkennen, den Zuständigkeitsbereich der Versorgungsbehörde im Interesse einer Vereinheitlichung und größeren Effektivität zu erweitern. Die Neuregelung soll der Versorgungsverwaltung ein Monopol für die Statusfeststellungen verschaffen. Nach der ursprünglichen Fassung des § 3 Abs 4 SchwbG war die Versorgungsverwaltung zuständig für Feststellungen der Behinderungen und dem darauf beruhenden Grad der MdE (§ 3 Abs 1 und 3 SchwbG). Die Neufassung brachte insofern eine Ergänzung des Zuständigkeitsbereiches, als nunmehr auch über die gesundheitlichen Merkmale Feststellungen zu treffen sind. In der Wortfassung "neben der MdE", die mehrdeutig ist, findet der Gesetzesplan nur einen unzulänglichen Ausdruck. Die Vorschrift will besagen, daß die Versorgungsbehörde ebenso über weitere gesundheitliche Umstände zu befinden hat. Jedenfalls ist damit eine untrennbare Verknüpfung zwischen dem Grad der MdE und weiteren gesundheitlichen Verhältnissen nicht gewollt gewesen. Beides muß nicht notwendig in ein und demselben Akt zu bestimmen sein.

Die im SchwbG geschaffene Zuständigkeitsregelung ist sinnvoll. Sie gewährleistet eine Gleichbehandlung aller Behinderten anhand eines einheitlichen Beurteilungsmaßstabes. Er ist durch die zu diesem Zweck vom Bundesarbeitsminister herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem SchwbG" gewährleistet. Sie entsprechen dem jeweiligen medizinischen Erkenntnisstand. Die Versorgungsbehörden sowie die zu Rate gezogenen medizinischen Sachverständigen halten sich daran.

Die Statusfeststellungen der Versorgungsbehörden sind zumindest beweiserheblich bedeutsam und haben eine wesentlich stärkere Rechtswirkung als eine für die Sozialhilfeverwaltung abgegebene gutachtliche Äußerung. Auch dies rechtfertigt es, das Rechtsschutzinteresse der Klägerin zu bejahen. Ob darüber hinaus die Entscheidungen der Versorgungsämter den Status des Schwerbehinderten betreffend verbindlich sind, kann hier dahinstehen (vgl zu dieser Rechtsproblematik: Urteil des erkennenden Senats vom 6. Oktober 1981 - 9 RVs 3/81 -; zur Veröffentlichung bestimmt).

Im Hinblick darauf, daß nunmehr sachlich über das Klagebegehren zu entscheiden ist und hierzu weitere Feststellungen zu treffen sind, war das Urteil des SG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Das SG hat auch über die Kosten dieses Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1655219

Breith. 1983, 153

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