Leitsatz (redaktionell)
Ein Unfall auf dem Wege zur Beschaffung von Arbeitskleidung liegt nur in Ausnahmefällen im Interesse auch des Betriebes und genießt lediglich dann Unfallversicherungsschutz.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Juni 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die im Jahre 1898 geborene Klägerin ist von Beruf Kontoristin; sie war als Buchhalterin und Kassiererin tätig gewesen. Anfang Oktober 1944 wurde sie im Rahmen des "totalen Kriegseinsatzes" für die Maschinen- und Werkzeugfabrik der Firma F W AG. in Berlin dienstverpflichtet und in deren in der L.-straße gelegenem Werk als Maschinenarbeiterin beschäftigt. Sie wohnte schon damals in Berlin-Lichterfelde, G.-weg .... Zur Arbeit und nach Hause zurück fuhr sie mit der Straßenbahn. Sie brauchte wegen der kriegsbedingten Verkehrsschwierigkeiten zu einer Fahrt mindestens eine Stunde. Am 17. Oktober 1944 hatte ihr die Werksleitung eine Bescheinigung über die Notwendigkeit der Beschaffung eines Arbeitskittels ausgestellt. Mit dieser Bescheinigung begab sie sich am gleichen Tage auf der Heimfahrt, die sie gegen 17,00 Uhr nach Arbeitsschluß angetreten hatte, zu dem Ecke Augustastraße und Hindenburgdamm gelegenen Wirtschaftsamt ihres Wohnbezirks, um sich auf der Kartenstelle den zur Beschaffung des Arbeitskittels erforderlichen Bezugsschein ausstellen zu lassen. Sie stieg am Händelplatz um und fuhr bis zur Haltestelle Augustastraße. Die Besorgung des Bezugsscheins dauerte etwa eine Stunde. Gegen 19,15 Uhr wollte die Klägerin mit der Straßenbahn über den Händelplatz zurück weiter nach Hause fahren. Beim Überschreiten des Hindenburgdamms wurde sie von einem Lastkraftwagen umgerissen und erheblich verletzt, so daß sie insbesondere wegen mehrfachen Bruches des linken Unterschenkels mehrere Monate im Krankenhaus behandelt werden mußte.
Im Januar 1950 hat die Klägerin bei der Versicherungsanstalt Berlin (VAB.) Antrag auf Rente gestellt. Dies wurde als Antrag auf die Gewährung einer Versichertenrente (Invalidenrente) angesehen und mangels ausreichender Erwerbsunfähigkeit abgelehnt. Im Beschwerdeverfahren sind die Akten schließlich im Jahre 1953 an die Beklagte gelangt, die inzwischen für die Bearbeitung des von Anfang an auf die Folgen des Unfalles vom 17. Oktober 1944 gestützten Antrages der Klägerin auf Verletztenrente zuständig geworden war. Die Beklagte hat die Entschädigungsansprüche der Klägerin durch Bescheid vom 5. November 1953 abgelehnt, da sich der Unfall während einer privaten Zwecken dienenden Unterbrechung des Heimweges ereignet habe, für die der Versicherungsschutz des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgehoben gewesen sei. Hiergegen hat die Klägerin beim Sozialversicherungsamt Berlin Berufung eingelegt und geltend gemacht, daß sie von ihrem Werkmeister "Befehl" erhalten habe, sich einen Arbeitskittel zu besorgen, da sie "so nicht in der Fabrik arbeiten könne". Das Sozialgericht (SG.) Berlin, auf das der Fall gemäß § 218 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, hat die Klage im wesentlichen aus den Gründen des angefochtenen Bescheides abgewiesen. Mit der Berufung hiergegen hat die Klägerin geltend gemacht, daß der Weg zur Kartenstelle für sie ein Betriebsweg gewesen sei, den sie nur auf Verlangen ihrer Arbeitgeberfirma zurückgelegt habe, und daß der Unfall auf einem nur geringfügigen Umweg eingetreten sei.
Die Beklagte hat demgegenüber darauf hingewiesen, daß die Beschaffung und Bereitstellung der Arbeitskleidung dem Arbeitgeber und nicht den Bediensteten obliege, wenn sie im Betriebsinteresse getragen werden müsse; das private Interesse der Klägerin ergebe sich daraus, daß damals wegen der Textilknappheit größtmögliche Schonung der Zivilkleidung erforderlich gewesen sei. Gegen den Zusammenhang mit dem Betrieb spreche auch, daß die Klägerin die Kartenstelle nicht während der Arbeitszeit aufgesucht habe.
Das Landessozialgericht (LSG.) hat mit Beschluß vom 15. Juni 1955 die VAB. - Abwicklungsstelle - hinsichtlich der Ansprüche der Klägerin für die Zeit vor dem 1. Januar 1951 gemäß §§ 75 Abs. 2 und 106 Abs. 3 Nr. 6 SGG zum Verfahren beigeladen.
Durch Urteil vom 16. Juni 1955 hat das LSG. den ablehnenden Bescheid der Beklagten sowie die Entscheidung des SG. aufgehoben und die Beklagte sowie die beigeladene VAB. - Abwicklungsstelle - verurteilt, die Klägerin aus Anlaß ihres Unfalls vom 17. Oktober 1944 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 40 v. H. zu entschädigen, und zwar die VAB.: durch Gewährung einer Verletztenrente nach Maßgabe des § 61 ihrer Satzung für die Zeit vom 1. Februar 1950 bis 31. Dezember 1950, die Beklagte: durch Gewährung einer Dauerrente mit Wirkung vom 1. Januar 1951 an.
Das LSG. hat in Übereinstimmung mit dem erstinstanzlichen Urteil verneint, daß sich der Unfall der Klägerin auf einem nach § 543 Abs. 1 RVO geschützten Wege ereignet habe und daß der Versicherungsschutz aus § 543 Abs. 2 RVO herzuleiten sei. Es hat jedoch den Weg der Klägerin zur Kartenstelle als einen nach § 542 RVO versicherten Betriebsweg angesehen und dazu im wesentlichen ausgeführt: Das Aufsuchen der Kartenstelle habe im Interesse des Betriebes gelegen. Die über Anlaß und Hergang der Besorgung des Bezugsscheins gemachten Angaben der Klägerin könnten als wahr unterstellt werden, zumal sie auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen worden seien. Während in normalen Fällen die Beschaffung eines Arbeitskittels die Interessen des Betriebs nicht berühre, seien im vorliegenden Falle außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen, nach denen die Annahme gerechtfertigt sei, daß die Beschaffung der Arbeitskleidung für die Klägerin im Betriebsinteresse lag. Die Klägerin habe unter dem Zwang ihrer Dienstverrichtung eine für sie berufsfremde Tätigkeit verrichten müssen, die sie nur als vorübergehende Beschäftigung betrachtet habe. Daher sei verständlich, daß sie kein besonderes Interesse an der Beschaffung eines Arbeitskittels für sich gehabt habe, den sie für ihren Beruf als Kontoristin auch gar nicht habe gebrauchen können. Dagegen wäre das Tragen des Arbeitskittels dem Betrieb zugute gekommen, weil er die in der ihr zugewiesenen Maschinenarbeit ungewandte und unbeholfene Klägerin in die Lage gesetzt habe, ungehemmt durch Scheu vor Schmutz und Unfallgefahr an die ungewohnte Arbeit zu gehen. Diese Erwägungen seien offenbar auch der Grund für die Aufforderung des Meisters an die Klägerin gewesen, sich einen Arbeitskittel zu beschaffen. Das Interesse der Firma sei durch die Ausstellung des Bedarfsscheines eindeutig zum Ausdruck gekommen. Hinsichtlich der Beurteilung der Unfallfolgen hat sich das LSG. auf die vom Sozialversicherungsamt und der VAB. eingeholten ärztlichen Gutachten gestützt und in Übereinstimmung mit den Sachverständigen die MdE. auf 40 v. H. geschätzt.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage, ob die Beschaffung des Arbeitskittels für eine berufsfremde dienstverpflichtete Arbeitskraft im Interesse des Betriebes liegt, hat das LSG. die Revision zugelassen. Gegen das am 8. Juli 1955 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 2. August 1955 Revision eingelegt, nachdem sie schon am 25. Juli 1955 eine Revisionsschrift übersandt hatte, die keinen bestimmten Revisionsantrag enthielt. Mit der am 27. August 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Revisionsbegründung rügt sie folgendes: Der Vorderrichter habe gegen die verfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 103; 106; 112 ff. SGG verstoßen. In dem angefochtenen Urteil seien ohne nähere Begründung die tatsächlichen Angaben der Klägerin darüber, wie es zur Beschaffung des Bezugsscheines gekommen sei, entgegen den von der Beklagten in ihren Schriftsätzen erhobenen Zweifeln als wahr unterstellt worden. Da das LSG. auf diese Feststellung entscheidenden Wert legte, hätte es versuchen müssen, den Werkmeister als Zeugen zu ermitteln. Außerdem sei nicht genügend aufgeklärt worden, in welcher Weise die Klägerin als Maschinenarbeiterin beschäftigt worden ist. Das sei erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, ob der Arbeitskittel auch späterhin für die Klägerin bei ihrer Berufsarbeit verwendbar gewesen wäre. In sachlich-rechtlicher Hinsicht rügt die Revision im wesentlichen: Der Vorderrichter verkenne, daß die Arbeitskleidung auch bei einem besonderen Zuschnitt und dem Erfordernis, bei der Arbeit eine angemessene Kleidung zu tragen, in den privaten Bereich des Versicherten gehöre. Die für die Begründung eines Ausnahmefalles vom LSG. dargelegten Gesichtspunkte seien nicht überzeugend. Es gehe nicht an, jede Maßnahme als versichert anzusehen, die der Bereitwilligkeit eines Arbeitnehmers zum Tätigwerden im Betrieb diene. Angesichts der Textilknappheit sei die Klägerin die einzige Nutznießerin des Bezugsscheins gewesen, für dessen Ausstellung das angebliche Betriebsinteresse möglicherweise nur vorgeschoben war, um der Klägerin zu dem Kleidungsstück zu verhelfen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG. vom 16. Juni 1955 aufzuheben, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Mai 1955 zurückzuweisen und die Klage abzuweisen;
hilfsweise das Urteil des LSG. mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten und der Beigeladenen zurückzuweisen.
Sie hält die auf unzureichende Sachaufklärung gestützten Verfahrensrügen der Beklagten für unbeachtlich, weil sie nicht vom Revisionsantrag gedeckt würden. Ihnen könnte nur stattgegeben werden, wenn ein Antrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz wirksam gestellt sei. Ein derartiger Antrag sei jedoch erst in der nach Ablauf der Revisionsfrist beim BSG. eingegangenen Revisionsbegründungsschrift enthalten. Eine Vernehmung des Meisters sei überdies für die Entscheidung unerheblich gewesen, da auch ohne sein Zutun die Ausstellung des Bedarfsscheins durch das Betriebsbüro ohne weiteres auf das Vorliegen eines betrieblichen Interesses an der Beschaffung eines Arbeitskittels schließen lasse. Bei ihrer damaligen persönlichen Lage habe die Klägerin auf eine Wiederbeschäftigung als Kontoristin keine Aussicht gehabt. Ihr Schicksal sei im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zum Kreise der politisch und rassisch Verfolgten (jüdischer Mischling) überhaupt ungewiß gewesen, so daß die Beschaffung eines Arbeitskittels etwa unter Berücksichtigung seiner späteren Verwendbarkeit nicht in Betracht gekommen sei. Die Besorgung des Bezugsscheins habe im übrigen kein so erhebliches Abweichen vom Heimweg bedingt, daß der Versicherungsschutz während der Unterbrechung des Weges aufgehoben worden sei. Im übrigen macht sich die Klägerin im wesentlichen die Ausführungen des angefochtenen Urteils zu eigen und betont, daß auf jeden Fall ihre Stellung als Zwangsarbeiterin und ihr Ausschluß von der erlernten Berufstätigkeit wegen ihrer nichtarischen Abstammung zu berücksichtigen sei.
Die vom LSG. zugelassene Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Der nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG erforderliche bestimmte Antrag ist zwar nicht schon in der ersten Revisionsschrift vom 16. Juli 1955 enthalten; er ist aber mit einer zweiten, noch innerhalb der Revisionsfrist beim BSG. am 2. August 1955 eingegangenen Revisionseinlegungsschrift wirksam nachgeholt worden. Die wiederholte Revisionseinlegung ist, wie auch die Klägerin nicht verkennt, zulässig und wirksam, da die erste Einlegung des Rechtsmittels wegen Fehlens des bestimmten Antrags unwirksam war (BSG. 1 S. 246 (250)). Die Revision ist somit zulässig. Sie ist jedoch unbegründet.
Zunächst hatte der Senat die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen zu prüfen. Die Ansicht der Klägerin, daß diese Rügen mangels eines fristgerecht gestellten Antrags auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz unbeachtlich seien, geht fehl. Schon der von der Beklagten ordnungsmäßig gestellte Antrag auf Klagabweisung ermöglicht dem Revisionsgericht, falls eine abschließende Sachentscheidung nicht ohne weitere tatsächliche Feststellungen ergehen kann, die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen, auch ohne daß ein entsprechender Antrag ausdrücklich gestellt ist (§§ 123; 153 Abs. 1; 165 SGG). Außerdem hat die Beklagte den Antrag auf Zurückverweisung der Sache an das LSG. in ihrer Revisionsbegründungsschrift noch wirksam geltend gemacht, da die Anträge der Beteiligten bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung geändert und ergänzt werden können (§§ 112 Abs. 3; 153 und 165 SGG) und dem Erfordernis des bestimmten Antrags gemäß § 164 Abs. 2 SGG lediglich formale Bedeutung für die Zulässigkeit der Revision zukommt (vgl. Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO, 18. Aufl., Anm. III 1 und V zu § 554 und Anm. II zu § 559).
Von der Beurteilung der somit sachlich zu prüfenden Verfahrensrügen hängt gemäß § 163 SGG die Bindung des Revisionsgerichts an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen ab. Diese Rügen sind nicht begründet. Das LSG. hat die ihm obliegende Aufklärungspflicht nicht verletzt, wenn es unterlassen hat, den Meister der Werksabteilung, in der die Klägerin gearbeitet hat, als Zeugen zu ermitteln und zu vernehmen. Denn die in sein Wissen gestellte Behauptung der Klägerin, daß er sie nach etwa 14-tägiger Beschäftigungszeit aufgefordert habe, sich einen für ihre Maschinenarbeit notwendigen Arbeitskittel zu beschaffen, und daß es überhaupt aus betrieblichen Gründen zur Besorgung des Bezugsscheins für diese Arbeitskleidung gekommen sei, hat das LSG. mit Recht als wahr unterstellt. Es konnte dabei ohne Bedenken von der Tatsache ausgehen, daß die Beklagte selbst jene Angaben der Klägerin über Anlaß und Hergang der Beschaffung des Bezugsscheins nicht in Zweifel gezogen hatte. Im Gegensatz zu ihrem Revisionsvorbringen hat die Beklagte vor Erlaß der angefochtenen Entscheidung nichts Gegenteiliges geltend gemacht. In ihrem Schriftsatz zur Entgegnung auf die Berufung der Klägerin - ihrem einzigen im sozialgerichtlichen Verfahren eingereichten Schriftsatz - hat sie zu dem strittigen Punkte nur erklärt, die Behauptung, es hätte im Interesse der Firma Werner gelegen, daß die Klägerin bei der Arbeit bestimmte Kleidung trägt, werde aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen bestritten. Auf die wiederholten konkreten Angaben der Klägerin ist sie jedoch nicht näher eingegangen. Sie hat sich in diesem Zusammenhange lediglich allgemein mit der Frage auseinandergesetzt, ob Arbeitskleidung zum "Arbeitsgerät" gehöre, und unter welchen Umständen das Tragen von Arbeitskleidung ausnahmsweise im Betriebsinteresse liege. Allerdings würde trotzdem die Vorinstanz zu weiterer Sachaufklärung verpflichtet gewesen sein, wenn sonstige Gründe irgendwelche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin erkennen ließen. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Klägerin hat von Anfang an einheitliche Angaben gemacht und schon im Juli 1950 im Rentenverfahren vorgebracht, daß sie sich für die schmutzige Arbeit als dienstverpflichtete Maschinenarbeiterin im Oktober 1944 einen Arbeitskittel "besorgen sollte". Im März 1953 hat sie der Beklagten gegenüber erklärt, daß sie für die Firma nach Arbeitsschluß zur "Kartenstelle mußte". Wenn daher das LSG. die Darlegung der Klägerin für glaubhaft gehalten und ohne weitere Beweiserhebung seinen Feststellungen zugrunde gelegt hat, so hat es weder seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verletzt noch die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs. 1 SGG überschritten. Die Glaubwürdigkeit der Klägerin überhaupt hatte übrigens auch die Beklagte selbst wiederholt ausdrücklich bejaht.
Die weitere Verfahrensrüge, das LSG. habe ohne ausreichende Klärung des Sachverhalts festgestellt, daß die Klägerin den Arbeitskittel nicht für ihre eigentliche Berufsarbeit als Kontoristin späterhin habe gebrauchen können, ist nicht begründet, weil die angefochtene Entscheidung nicht auf dieser Feststellung beruht. Mit ihr sollte der für das Urteil maßgebliche Gesichtspunkt, daß die Klägerin angesichts ihrer persönlichen Lage kein privates Interesse an der Beschaffung eines Arbeitskittels haben konnte, lediglich unterstrichen werden, wie schon die Erwähnung in einem bloßen Nebensatz zeigt. Im Verhältnis der verschiedenen Entscheidungsgründe zueinander kommt der Erwägung, daß die Verwendbarkeit des Arbeitskittels auf die Tätigkeit der Klägerin als Maschinenarbeiterin beschränkt sei, jedenfalls nur eine nebensächliche Bedeutung zu. Da die erhobenen Verfahrensrügen somit unbegründet sind, ist der Senat bei der sachlich-rechtlichen Prüfung des angefochtenen Urteils an die darin getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden.
Die Annahme des LSG., daß der Weg der Klägerin zur Besorgung des Bezugsscheins ein versicherter Betriebsweg gewesen sei, ist entgegen der Auffassung der Beklagten, die mit der Revision die Verletzung der Vorschrift des § 542 RVO rügt, frei von Rechtsirrtum. Der Vorderrichter ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß die allgemeine Arbeitskleidung des Beschäftigten nicht anders als seine sonstige Kleidung zu seinen privaten Besitz- und Gebrauchsgegenständen gehört, insbesondere kein Arbeitsgerät ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., 5. Aufl., Bd. II S. 486; Lauterbach, UV., 2. Aufl., S. 76, Anm. 4 a und S. 78 e Anm. 18 zu § 543; RVO., Mitgl. Komm., 2. Aufl., Bd. III, S. 87; Anm. 3 zu § 545 b; EuM. Bd. 26 S. 346; BG. 1955 S. 224). Das Tragen einer solchen Kleidung dient nicht wesentlich dem Betrieb, sondern der Schonung der Alltagskleidung des Beschäftigten, und demzufolge hängt auch ihre Beschaffung in der Regel nicht mit der Betriebstätigkeit des Versicherten zusammen. Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt jedoch nur, soweit es sich um normale Beschäftigungs- und Betriebsverhältnisse handelt, wie sie z. Zt. in der Bundesrepublik und West-Berlin gegeben sind. Unter normalen Verhältnissen wäre auch das Tragen und dementsprechend die Beschaffung eines Arbeitskittels, wie er für die Tätigkeit einer Maschinenarbeiterin in Betracht kam, nicht als eine Angelegenheit des Betriebes, sondern des privaten Lebens der Arbeitnehmerin anzusehen. Um solche Verhältnisse handelte es sich im vorliegenden Streitfalle indessen nicht. Hinter den Bemühungen der Klägerin um die Anschaffung eines Arbeitskittels stand der Betrieb, wie schon das Verhalten des Meisters und die Tatsache der Ausstellung des Bedarfsscheines durch die Werksleitung zeigen. Das betriebliche Interesse der Firma W erscheint auch verständlich, wenn man berücksichtigt, daß die Klägerin unter dem Zwang der Dienstverpflichtung eine ihr berufsfremde Arbeit übernehmen mußte, die sie nicht gewöhnt war und an die sie sich im Hinblick auf ihre persönliche Lage begreiflicherweise auch nicht gewöhnen wollte, ferner daß es in der damaligen Zeit des totalen Kriegseinsatzes auch auf die höchste Ausnutzung ihrer Arbeitskraft ankam und die Arbeitskleidung als Mittel geeignet erschien, leistungshemmende Scheu vor Schmutz und erhöhter Unfallgefahr beim Tragen alltäglicher Kleidung zu überwinden. Diese Umstände kennzeichnen die vorliegende Streitsache als Ausnahmefall, der auf die gesonderte Lage der Klägerin bezogen eine gegenüber normalen Fällen abweichende Betrachtungsweise rechtfertigt. Das LSG. hat die besonderen Umstände, die sich aus den Kriegsverhältnissen im Zeitpunkt des Unfalls und vor allem aus der Stellung der Klägerin als Zwangsverpflichtete in einem ihr berufsfremden Arbeitsbereich ergeben, mit Recht zu ihren Gunsten berücksichtigt. Es ist daher ohne Verletzung des § 542 RVO zu dem Ergebnis gelangt, daß die Beschaffung des Arbeitskittels der Klägerin wesentlich im Betriebsinteresse lag. Daß gleichzeitig auch ein privates Interesse der Klägerin an der Zuteilung eines solchen Arbeitskittels bestanden hat, schließt den Versicherungsschutz nicht aus (vgl. Lauterbach a. a. O. S. 73, Anm. 3 I w zu § 542).
Die Ansicht der Beklagten, daß in der Ausstellung des Bedarfsscheins nur ein Vorwand dafür zu erblicken sei, der Klägerin von Betriebswegen zu einem zusätzlichen Kleidungsstück zu verhelfen, ist abwegig. Eine solche Handlungsweise gegenüber einem dienstverpflichteten nichtarischen Belegschaftsmitglied wäre umso unverständlicher, als die Firma der Klägerin dadurch die Hand zu der strafbaren Beschaffung zwangsbewirtschafteter Textilien geboten haben würde.
Das Revisionsvorbringen, das die besondere persönliche Lage der Klägerin zur Zeit des Unfalles nicht berücksichtigt, sondern auf normale Arbeitsverhältnisse in einem geordneten Rechtsstaat abstellt, ist nicht geeignet, die Auffassung des LSG. zu entkräften, daß der zum Zwecke der Besorgung des Bezugsscheins zurückgelegte Weg der Klägerin, auf dem sie den Unfall erlitt, dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 542 RVO unterlag.
Ob der Versicherungsschutz der Klägerin auch unter dem Gesichtspunkt eines unbedeutenden Umweges oder einer nur geringfügigen Unterbrechung ihres Heimweges nach beendeter Arbeit gemäß § 543 Abs. 1 RVO begründet ist, brauchte hiernach nicht erörtert zu werden.
Gegen die Schätzung des Grades der durch die Unfallfolgen bedingten MdE. der Klägerin haben die Beteiligten keine Einwendungen erhoben. Sie läßt auch keine unrichtige Rechtsanwendung erkennen.
Die Revision war demnach unbegründet und mußte deshalb zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen