Verfahrensgang
SG Hildesheim (Urteil vom 08.09.1982) |
Tenor
Auf die Revisionen der Klägerin und der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. September 1982 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um einen Anspruch auf den Arbeitgeberanteil zum Krankenversicherungsbeitrag.
Die Klägerin ist seit Jahren als Angestellte bei der Beklagten beschäftigt. Sie ist krankenversicherungspflichtig und Mitglied einer Ersatzkasse. Deren Beitrag war – jedenfalls zuletzt vor dem angefochtenen Urteil – niedriger als der der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK), die für die Klägerin als Pflichtkrankenkasse zuständig gewesen wäre. Die Klägerin erhielt von der Beklagten (nur) die Hälfte des Beitrags zu ihrer Ersatzkasse.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat demgegenüber durch Urteil vom 17. März 1981 – 12 RK 27/80 – (SozR 2200 § 520 Nr. 2) entschieden, der Arbeitgeber habe die Hälfte des Krankenversicherungsbeitrags, der als Arbeitgeberanteil an die Pflichtkrankenkasse zu entrichten wäre, auch dann abzuführen, wenn der Beitrag der Ersatzkasse niedriger sei als der der Pflichtkrankenkasse. Das genannte Urteil ist ohne mündliche Verhandlung ergangen (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) und den Beteiligten jenes Verfahrens am 16. bzw 17. September 1981 zugestellt worden.
Mit Schreiben vom 12. März 1982 forderte die Klägerin die Beklagte auf, die Differenzbeträge rückwirkend vom 1. September 1978 nachzuzahlen. Die Beklagte erklärte sich dazu ab 1. Oktober 1981 bereit, lehnte das Begehren der Klägerin jedoch im übrigen (für die Zeit von September 1978 bis September 1981) unter Berufung auf die geltende tarifvertragliche Ausschlußklausel von drei Monaten ab.
Durch Urteil vom 8. September 1982 hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim die Beklagte verurteilt, der Klägerin 148,23 DM nebst Zinsen zu zahlen. Dabei handelte es sich um den Differenzbetrag für die Zeit vom 1. April 1981 bis zum 30. September 1981. Im übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Anspruch der Klägerin werde zwar von der Ausschlußklausel nicht erfaßt. Ihre Forderung verstoße jedoch für die Zeit vor dem 1. April 1981 gegen Treu und Glauben. Die Beteiligten seien stets davon ausgegangen, daß die Klägerin Anspruch auf die Hälfte des tatsächlich von ihr gezahlten (Ersatzkassen-)Beitrags habe. Obwohl der Klägerin bekannt gewesen sei, daß dieser Beitrag niedriger als der der Pflichtkrankenkasse gewesen sei, habe sie zu keiner Zeit Vorbehalte gegen die Berechnung des Arbeitgeberanteils angemeldet. Unter diesen Umständen könne sie den Differenzbetrag erst von dem Zeitpunkt an verlangen, zu dem das erwähnte Urteil des BSG bekannt geworden sei. Dieses sei im April 1981 gewesen.
Gegen das Urteil haben beide Beteiligte Sprungrevisionen eingelegt.
Die Klägerin verfolgt ihren Anspruch weiter, soweit sie in erster Instanz keinen Erfolg hatte, dh für die Zeit vom 1. September 1978 bis zum 31. März 1981. Das SG habe die Rechtsgrundsätze von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch –BGB–) verkannt und zu Unrecht angenommen, die Forderung für die Zeit vor dem 1. April 1981 sei treuwidrig.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
- das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. September 1982 aufzuheben, soweit es die Klage abgewiesen hat, und die Beklagte zu verurteilen, weitere 365,58 DM nebst 4 % Zinsen ab dem 26. Mai 1982 zu zahlen,
- die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. September 1982 aufzuheben, soweit es der Klage stattgegeben hat, und die Klage in vollem
Umfang abzuweisen,
- die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beklagte macht geltend: Ungeachtet der Frage, ob die Klägerin nicht entgegen dem Urteil des BSG vom 17. März 1981 nur einen Anspruch auf die Hälfte des tatsächlich gezahlten (Ersatzkassen-)Beitrags habe, stehe ihrer Forderung die tarifliche Ausschlußklausel entgegen. Sie sei umfassend und beziehe sich auf alle Ansprüche, die aus dem Arbeitsverhältnis herrührten. Das Urteil des BSG vom 17. März 1981 sei erst im September 1981 bekannt geworden. Für die Zeit vor dem 1. Oktober 1981 sei der Anspruch daher unbegründet, weil sie (die Beklagte) als Arbeitgeber Vertrauensschutz genieße. Dem Vertrauensschutzgedanken habe das BSG in bezug auf die nachträgliche Erhebung von Beiträgen auch im Urteil vom 18. November 1980 – 12 RK 59/79 – (BSGE 51, 31) Geltung verschafft.
Entscheidungsgründe
II
Die Revisionen sind im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung begründet. Die bisher getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist § 520 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach § 520 Abs. 1 Satz 1 RVO hat die Ersatzkasse für die nach § 517 RVO von der Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse Befreiten Anspruch auf den vollen Beitragsteil, den der Arbeitgeber an die Krankenkasse abzuführen hätte, bei der der Beschäftigte ohne die Mitgliedschaft bei der Ersatzkasse versichert sein würde. Der Arbeitgeber hat den Beitragsteil unmittelbar an den Versicherten bei der Lohn- oder Gehaltszahlung abzuführen (§ 520 Abs. 1 Satz 2 RVO). Der erkennende Senat hat dazu in dem bereits erwähnten Urteil vom 17. März 1981 (SozR 2200 § 520 Nr. 2) entschieden, daß der Arbeitgeber die Hälfte des Krankenversicherungsbeitrags, der als Arbeitgeberanteil an die Pflichtkrankenkasse zu entrichten wäre, auch dann zu zahlen hat, wenn der Beitrag der Ersatzkasse niedriger ist als der der Pflichtkrankenkasse. Daran hält der Senat fest. Unstreitig hat die Beklagte der Klägerin in der Zeit, um die es geht (von September 1978 bis September 1981), nur die Hälfte des Ersatzkassenbeitrags gezahlt, der niedriger war, als der Beitrag zur Pflichtkrankenkasse es gewesen wäre. Demnach würde der Klägerin die von ihr geltend gemachte Forderung noch zustehen.
Die Ausschlußklausel des § 17 Nr. 2 des hier einschlägigen Manteltarifvertrages hindert die Klägerin nicht, die Forderung geltend zu machen. Nach dieser Bestimmung müssen die Ansprüche beider Seiten aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer Ausschlußfrist von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden (Satz 1). Nach Ablauf dieser Frist ist die Geltendmachung ausgeschlossen (Satz 2). Das gilt nicht, wenn die Berufung auf die Ausschlußfrist wegen des Vorliegens besonderer Umstände eine unzulässige Rechtsausübung ist (Satz 3). – Von dieser Klausel wird, wie das SG zutreffend ausgeführt hat, die Forderung der Klägerin nicht betroffen. Die Klausel bezieht sich nur auf zivilrechtliche Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis. Dazu gehört nicht der Anspruch der Klägerin nach § 520 Abs. 1 Satz 2 RVO gegen den Arbeitgeber auf Abführung des in Satz 1 geregelten Beitragsanteils. Denn er gehört dem öffentlichen Recht an und ist zwingend; er unterliegt nicht der Disposition der Tarifvertragsparteien. Deshalb kann auch die Ausschlußklausel, die im übrigen eng auszulegen ist (Wiedemann/Stumpf, Tarifvertragsgesetz, 5. Aufl 1977, § 4 RdNr. 417 mit Nachweisen), nicht auf ihn bezogen werden. Dem entspricht die Begründung, mit der der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes entschieden hat, daß für den Anspruch auf den Arbeitgeberzuschuß nach § 405 RVO der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben ist (BSGE 37, 292). Schließlich würde die Anwendung der Ausschlußklausel zu dem schwer verständlichen Ergebnis führen, daß die Krankenkassen Arbeitgeber und Versicherte regelmäßig noch innerhalb der Verjährungsfrist von vier Jahren auf Beitragszahlungen in Anspruch nehmen könnten (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – SGB IV), der Anspruch auf den Beitragszuschuß nach § 405 RVO ebenfalls in vier Jahren verjährt (Urteil des erkennenden Senats vom 2. Juni 1982 – 12 RK 66/81 –, Die Beiträge 1982, 311), die Geltendmachung des mit diesen Regelungen korrespondierenden Anspruchs auf den Beitragsanteil nach § 520 Abs. 1 Satz 2 RVO aber schon nach drei Monaten ausgeschlossen wäre.
Nicht abschließend zu entscheiden ist hingegen, ob die Klägerin nach Treu und Glauben gehindert ist, den Anspruch mit Erfolg geltend zu machen. Die allgemein gehaltenen Ausführungen des SG, die die Zeit vor dem 1. April 1981 betreffen, reichen zu einer solchen Annahme nicht aus. Sie stellen auch, soweit das SG der Klage stattgegeben hat, auf einen unzutreffenden Zeitpunkt ab, weil das Urteil des erkennenden Senats vom 17. März 1981 (SozR 2200 § 520 Nr. 2) nicht schon im April 1981 – davon ist das SG ausgegangen –, sondern erst im September 1981 bekannt geworden ist.
Zutreffend ist zunächst die Auffassung der Klägerin, daß ihr Anspruch nicht verwirkt ist. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung für zurückliegende Zeiten anerkannt. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, daß der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat und weitere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden „weiteren Umstände” liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, daß dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), und der Verpflichtete darauf vertraut hat, daß das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand), und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), daß ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BSGE 47, 194, 196 mwN; zum Zivilrecht vgl. Roth in Münchener Kommentar, § 242 RdNrn 336 bis 338). Ein konkretes Verwirkungsverhalten der Klägerin aus der Zeit von September 1978 an ist bisher nicht festgestellt.
Die Klägerin setzt sich jedoch mit der Geltendmachung ihres Anspruchs möglicherweise in Widerspruch zu eigenem früheren (vor September 1978) liegenden Verhalten (venire contra factum proprium). Auch diese Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben kann der erfolgreichen Geltendmachung ihres Anspruchs entgegenstehen. Bisher ist unklar, ob nicht früher einmal der Beitrag der Klägerin zu ihrer Ersatzkasse höher war, als der zur Pflichtkrankenkasse es gewesen wäre, und ob die Beklagte auch zu dieser Zeit – der damaligen beiderseitigen, von der Entscheidung vom 17. März 1981 (SozR 2200 § 520 Nr. 2) abweichenden Auffassung entsprechend – die (höhere) Hälfte des Ersatzkassenbeitrags gezahlt hat. Sollte dieses der Fall gewesen sein, so müßte die Klägerin die frühere Handhabung für die Vergangenheit auch insofern hinnehmen, wie sie ihr nachteilig gewesen ist. Es ist mit Treu und Glauben nicht vereinbar, daß ein Beteiligter eines Rechtsverhältnisses, der im Einvernehmen mit seinem Vertragspartner zu einer Rechtsfrage eine bestimmte Auffassung vertreten und praktiziert hat, später, wenn die Rechtsfrage anders entschieden wird, zwar die Nachteile der früheren Handhabung für die Vergangenheit ausgeglichen haben, die Vorteile der früheren Praxis aber behalten will. In einem solchen Fall kann der Beteiligte die Folgen aus der höchstrichterlichen Entscheidung vielmehr erst für die Zukunft ziehen.
Das LSG, an das der Senat die Sache verwiesen hat (§ 170 Abs. 4 Satz 1 SGG), wird daher noch festzustellen haben, seit wann die Klägerin bei der Beklagten beschäftigt war, ob früher ihr Ersatzkassenbeitrag höher war als der Pflichtkrankenkassenbeitrag und ob die Klägerin, wenn dieses der Fall war, von der Beklagten die Hälfte des höheren Ersatzkassenbeitrags erhalten hat. Sollte dieses der Fall gewesen sein, verstieße die Nachforderung der Klägerin jedenfalls für die Zeit vor dem 1. Oktober 1981, in der der Ersatzkassenbeitrag niedriger war, gegen Treu und Glauben, und die Klage wäre abzuweisen. Wenn hingegen der Ersatzkassenbeitrag ständig niedriger gewesen ist und auch ein späteres Verwirkungsverhalten der Klägerin nicht festzustellen ist, wird der Klage stattzugeben sein. Die Beklagte könnte sich dann ihrer Zahlungspflicht auch unter Hinweis auf das Urteil in BSGE 51, 31 nicht entziehen, weil dieses einen anderen Fall betrifft. Es ging dort einmal um das frühere Verhalten der Einzugsstelle als der für die Entscheidung über die Versicherungs-, die Beitragspflicht und die Beitragshöhe zuständigen Stelle zum Arbeitgeber und nicht – wie hier – um die Rechtsbeziehungen des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber. Ferner konnte sich der Arbeitgeber in jenem Fall auf eine durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigte Praxis berufen, bis eine Änderung der Rechtsprechung eintrat. Hier aber fehlte vor dem Urteil des Senats vom 17. März 1981 (SozR 2200 § 520 Nr. 2) eine höchstrichterliche Bestätigung für die Rechtsauffassung, nach der die Beteiligtenverfahren sind.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil vorbehalten, das das Verfahren abschließt.
Fundstellen