Leitsatz (amtlich)

Ein Versicherter ist nicht infolge Feindeinwirkung im Sinne des RVO § 1263a Abs 1 Nr 3 aF invalide geworden oder gestorben, wenn die Ursache des den Versicherungsfall herbeigeführten Leidens in den Folgen des Kriegsgefangenschaft als solcher lag, ohne daß besondere, bewußt auf eine Schädigung des Versicherten gerichtete feindliche Maßnahmen getroffen worden sind.

 

Leitsatz (redaktionell)

An der ständigen Rechtsprechung des BSG, daß die Wartezeitbestimmungen des RVO nF § 1251 auf Versicherungsfälle vor dem 1957-01-01 nicht angewandt werden können, wird festgehalten.

 

Normenkette

RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1949-06-17, § 1251 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts in Schleswig vom 18. Dezember 1958 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts in Lübeck vom 10. September 1958 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1926 geborene Kläger, der nach seiner Schulentlassung zunächst zum Reichsarbeitsdienst und anschließend von Mitte 1944 an zur Wehrmacht eingezogen war, geriet im Mai 1945 in sowjetrussische Gefangenschaft, aus der er am 19. September 1946 entlassen wurde. Nach dieser Entlassung besuchte er zunächst die Mittelschule. Er begann dann am 1. Mai 1948 eine landwirtschaftliche Lehre, die er am 31. März 1951 mit Ablegung der Prüfung als landwirtschaftlicher Gehilfe beendete; als solcher war er noch bis Ende Januar 1953 invalidenpflichtversichert beschäftigt. Nach kürzerem Besuch einer höheren Landbauschule erkrankte der Kläger im Herbst 1953 an einer Schultergelenkstuberkulose, die nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) auf die ungünstigen Einflüsse der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen ist und die Ausübung einer Berufstätigkeit für ihn unmöglich machte. Für seine Schädigung bezog der Kläger eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H., seit dem 1. September 1958 noch nach einer MdE von 80 v. H.

Einen Antrag des Klägers auf Rentengewährung vom 25. September 1957 lehnte die Beklagte ab, weil mit insgesamt 55 nachgewiesenen Beitragsmonaten die Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt sei.

Das Sozialgericht (SG) Lübeck wies aus demselben Grunde die vom Kläger erhobene Klage gegen jenen Bescheid durch Urteil vom 10. September 1958 ab; da bei dem Kläger der Versicherungsfall der Invalidität bereits vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sei, könne auf ihn § 1251 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF, der unter gewissen Umständen die Anrechnung der Wehrdienstzeit als Ersatzzeit auch ohne vorherige Versicherung zulasse, nicht angewendet werden; das alte Recht, das hier noch anzuwenden sei, lasse demgegenüber keine anderweite Anrechnung zu.

Mit seiner Berufung hatte der Kläger Erfolg; das LSG Schleswig verurteilte die Beklagte unter Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils und ihres Bescheids zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. September 1957 an.

Das LSG folgert aus dem engen inneren Zusammenhang und den in den Vorschriften enthaltenen Verweisungen, daß nach Art. 2 § 8 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nicht nur der dort ausdrücklich erwähnte § 1249 RVO nF, sondern auch die §§ 1250 und 1251 RVO nF rückwirkend auf alte Versicherungsfälle anzuwenden seien; dies ergebe sich zusätzlich auch noch daraus, daß in Art. 2 § 7 des später erlassenen Knappschafts-Versicherungs-Neuregelungsgesetzes (KnVNG) die Anwendung der dem § 1251 RVO entsprechenden §§ 50 Abs. 2-5 und 51 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ausdrücklich auch für alte Versicherungsfälle vorgeschrieben sei. Da der Kläger innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen habe (§ 1251 Abs. 2 Nr. 1 RVO), müßten die Zeiten des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft auch ohne vorhergehende Versicherungszeiten auf die Wartezeit angerechnet werden, die damit erfüllt sei.

Das LSG hält darüber hinaus die Wartezeit aber auch dann für erfüllt, wenn auf den Kläger noch die bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Vorschriften anzuwenden seien. Nach § 1263 a RVO aF gelte die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte infolge Feindeinwirkung invalide geworden sei. Zwar sei unter Feindeinwirkung vor allem ein Ereignis zu verstehen, daß vom Gegner selbst mit den von ihm eingesetzten und gelenkten Mitteln nach seinem Kriegsplan hervorgerufen sei (BSG 7, 159). Über derartige Ereignisse hinaus müßten jedoch nach dem Sinnzusammenhang des Wortes "Feindeinwirkung" und der geschichtlichen Entwicklung der fraglichen Vorschrift über die Personenschadensverordnung auch alle sonstigen Maßnahmen (Handlungen wie Unterlassungen) des Kriegsgegners einbezogen werden, selbst wenn sie überhaupt nicht beabsichtigt gewesen seien. Das gelte demnach auch für die Kriegsgefangenschaft, da die Kriegsgefangenen schutzlos allen Maßnahmen des Gegners unterworfen gewesen seien, ohne daß für diesen ein Zwang bestanden habe, etwaige schädigende Einwirkungen hinzunehmen, da er bei übermächtig werdenden ungünstigen Verhältnissen die Gefangenen stets wieder habe entlassen können.

Da der Kläger im Sinne des § 1263 a RVO aF auch als Versicherter anzusehen sei - diese Voraussetzung müsse nach Wortlaut und Sinn der Vorschrift zwar im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles, nicht aber außerdem bereits vorher im Zeitpunkt der schädigenden Feindeinwirkung erfüllt gewesen sein - und schließlich kein Zweifel daran bestehen könne, daß der Kläger infolge der durch die Kriegsgefangenschaft entstandenen Leiden invalide geworden sei, kommt das LSG dazu, den Rentenanspruch des Klägers vom Antragsmonat an zu bejahen.

Gegen das der Beklagten am 16. Februar 1959 zugestellte Urteil legte diese am 4. März 1959 unter Antragstellung die vom LSG zugelassene Revision ein und begründete sie am 14. April 1959.

§ 1251 RVO nF sei entgegen der Ansicht des LSG auf zurückliegende Versicherungsfälle nicht anwendbar, da es an jeder entsprechenden ausweitenden Bestimmung fehle.

Eine Anwendung des § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF entfalle einmal, weil der Kläger im Zeitpunkt der Feindeinwirkung nicht Versicherter gewesen sei, was der Wortlaut jener Vorschrift eindeutig fordere, zum andern deshalb, weil mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. Juli 1957 (SozR § 1263 a RVO aF Aa 1 Nr. 1) anzunehmen sei, daß die Feindeinwirkung stets ein aktives Handeln des Feindes voraussetze; daran fehle es jedoch bei der Kriegsgefangenschaft und den durch sie hervorgerufenen gesundheitlichen Schädigungen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das sozialgerichtliche Urteil zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt kostenpflichtige Zurückweisung der Revision.

Er bezieht sich im wesentlichen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden; sie ist zulässig und daher statthaft.

Die Revision ist begründet.

Wie das BSG in jetzt ständiger Rechtsprechung (BSG 9, 92; 10, 151) entschieden hat, findet § 1251 RVO nF keine rückwirkende Anwendung auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind. Der erkennende Senat hat in dem zweiten angeführten Urteil dargelegt, daß sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn des Art. 2 § 8 ArVNG dessen Verweisung auf § 1249 RVO nF auch auf die folgenden §§ 1250 und 1251 nF ausdehnen läßt. Auch die anders geartete Regelung im KnVNG vermag diese Auffassung nach jenem Urteil nicht zu entkräften. Es besteht kein Anlaß für den Senat, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Das angefochtene Urteil ist daher fehlerhaft, soweit es die Verurteilung der Beklagten auf § 1251 RVO stützt.

Auch § 1263 a RVO aF trifft entgegen der Auffassung des LSG im vorliegenden Fall nicht zu.

Eine Anwendung des Abs. 1 Nr. 2 aaO scheitert bereits daran, daß diese Vorschrift den Eintritt der Invalidität während der Zeit der Ableistung der in Frage kommenden Dienste voraussetzt, es hier jedoch gerade an einem derartigen zeitlichen Zusammenhang fehlt.

Auch Nr. 3 aaO ist beim Kläger nicht anwendbar; zwar bezieht sich diese Bestimmung, wie der erkennende Senat klargestellt hat (BSG 10 S. 149), auch auf Kriegsteilnehmer; die Vorschrift verlangt - anders als Nr. 2 aaO - keine zeitliche Bindung; sie läßt die Anwendung der Wartezeitfiktion jedoch nur dann zu, wenn die Invalidität des Versicherten "infolge Feindeinwirkung" eingetreten ist.

Mit dem 1. und dem 3. Senat des BSG (Urteil vom 17. Juli 1957, - s. o. - und BSG 7,159, [162]) ist der Begriff der Feindeinwirkung eng auszulegen. Es muß sich dabei jedenfalls um Maßnahmen handeln, die im Rahmen des Kriegsplanes bewußt und gezielt zur Schädigung des Gegners getroffen worden sind, die also ein aktives Verhalten des Feindes voraussetzen. Dieser gezielte Wille, durch die getroffenen Maßnahmen selbst den Angehörigen des bekämpften Gegners einen körperlichen Schaden zuzufügen, liegt nicht etwa nur dann nicht vor, wenn diese Schädigung durch Ereignisse hervorgerufen wird, die - wie Naturereignisse - gänzlich außerhalb der menschlichen Einflußsphäre liegen. Feindeinwirkung im Sinne der Nr. 3 aaO ist vielmehr auch dann nicht anzunehmen, wenn ein nicht bewußt auf schädigende Einwirkungen ausgerichtetes passives Verhalten des Gegners, also auch ein Unterlassen, die Ursache für die Invalidität bzw. den Tod des Versicherten darstellt, wie z. B. ungenügende Gesundheitsfürsorge, Nahrungsmangel und andere schwächende Einwirkungen während der Kriegsgefangenschaft. Dadurch fallen zwar die durch die Gefangennahme selbst entstandenen Schäden, nicht aber die mittelbaren Folgen dieser Gefangennahme - die während der Dauer der Kriegsgefangenschaft als solche eingetretenen Störungen - unter die Feindeinwirkung im Sinne der Nr. 3 aaO. Anders würde es liegen, wenn während der Kriegsgefangenschaft nachweislich noch besonders gezielte Maßnahmen zum Zwecke der persönlichen Schädigung des Gefangenen vorgenommen werden (zB Mißhandlungen, ungerechtfertigte oder zu harte Strafmaßnahmen u. a. m.); für die Annahme eines derartigen besonderen Sachverhalts geben die vom LSG getroffenen, insoweit mit der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen jedoch keinen Anhalt.

Bereits aus der Klarstellung des Begriffs "Feindeinwirkung" ergibt sich demnach, daß 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Dieses Ergebnis wird noch bekräftigt durch eine einbeziehende Betrachtung der Personenschädenverordnung vom 10. November 1940, die vor dem Jahre 1945 auf Grund ministerieller Anweisung der Begriffsbestimmung der "Feindeinwirkung" zugrunde gelegt wurde, um im Verwaltungswege schon vor gesetzlicher Festlegung der späteren Wartezeitfiktion des § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF aus Billigkeitsgründen - allerdings nach § 1 Abs. 2 der genannten Verordnung damals ausdrücklich auf die Zivilbevölkerung beschränkt - entsprechend verfahren zu können. Wie in dem insoweit einen ähnlich liegenden Fall betreffenden, unveröffentlichten Urteil des 1. Senats des BSG vom 30. Oktober 1958, 1 RA 182/57, eingehend dargelegt ist, stellen Schädigungen durch eine Kriegsgefangenschaft keine Feindeinwirkung im Sinne jener Verordnung dar. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat grundsätzlich an.

Schließlich wird die hier vertretene Ansicht auch noch dadurch gestützt, daß selbst nach der Neufassung der Bestimmungen über die Wartezeitfiktion (§ 1252 Nr. 3 RVO nF), in der der Begriff der "Feindeinwirkung" bewußt ausgeweitet werden sollte, die Folgen der Kriegsgefangenschaft als solche nicht unter den jetzt an Stelle der "Feindeinwirkung" getretenen Begriff der "unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 BVG" fallen, da die Kriegsgefangenschaft in § 1 Abs. 2 b BVG ausdrücklich als besonderer Tatbestand neben der unmittelbaren Kriegseinwirkung - Abs. 2 a aaO - aufgeführt ist.

Da somit der Anspruch des Klägers auf Rentengewährung bereits daran scheitert, daß für ihn weder die Wartezeit erfüllt ist noch nach § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF als erfüllt gilt, bedurfte es keiner Prüfung der Frage, ob der Kläger, obwohl für ihn vor der die spätere Invalidität herbeiführenden Schädigung keine Beiträge zur JV entrichtet waren, als Versicherter im Sinne des § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF angesehen werden kann.

Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils war daher die Berufung des Klägers gegen das seine Klage abweisende Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304788

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