Entscheidungsstichwort (Thema)

Kriegsopferversorgung. Pflegezulage. Hilflosigkeit

 

Orientierungssatz

Zum Vorliegen von Hilflosigkeit iS des § 35 BVG (hier: Fehlen der linken Hand und des 4. und 5. Fingers der rechten Hand).

 

Normenkette

BVG § 35

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 18.07.1956)

SG Köln (Urteil vom 27.04.1955)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1956 wird aufgehoben, die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Durch Umanerkennungsbescheid vom 2. Januar 1952 erhielt der Kläger wegen "Verlust des linken Unterarms, Verlust des 4. und 5. Fingers einschließlich des Mittelhandknochens der rechten Hand, Sehminderung des linken Auges durch Hornhautnarben und zahllose Narben im Gesicht und an beiden Beinen durch Minensplitterverwundung, belanglose Narbe am rechten Knie und linken Fuß durch Weichteilverwundung" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und beantragte neben einer Ergänzung der Leidensbezeichnung auch die Gewährung einer Pflegezulage. Der Beschwerdeausschuß II des Versorgungsamts Aachen entschied am 13. März 1952: "Der Einspruch gegen den Bescheid vom 2. Januar 1952 wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, daß die Leidensbezeichnung wie folgt zu ergänzen ist: Beugebehinderung des rechten Mittelfingers." In den Gründen der Entscheidung wurde ausgeführt, weshalb dem Kläger eine Pflegezulage nicht zustehe. Dementsprechend ergänzte das Versorgungsamt A... mit dem Ausführungsbescheid vom 15. April 1952 die Leidensbezeichnung, erwähnte darin aber nichts von einer Pflegezulage. Der Kläger legte Berufung bei dem Oberversicherungsamt ein, nahm die Berufung aber zurück.

Am 19. August 1953 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Pflegezulage, da er hilflos sei. Das Versorgungsamt veranlaßte eine neue ärztliche Untersuchung des Klägers. Der Facharzt für Chirurgie Dr. S... vertrat die Auffassung, der Kläger sei durch seine Schädigungsfolgen um 80 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert, er sei jedoch nicht hilflos im Sinne des Gesetzes. Durch Bescheid vom 5. Oktober 1953 - "Neufeststellung" -, in dem zunächst der Wortlaut des § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wiedergegeben ist, gewährte das Versorgungsamt dem Kläger ab 1. August 1953 Rente nach einer MdE um 80 v.H., lehnte jedoch die Gewährung einer Pflegezulage ab, weil der Kläger für die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens nicht in erheblichem Umfang dauernd auf fremde Hilfe angewiesen sei. Den Einspruch (Widerspruch) gegen diesen Bescheid wies das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen am 18. März 1954 zurück. Der Kläger erhob Klage bei dem Sozialgericht (SG) Köln. Das SG wies die Klage durch Urteil vom 27. April 1955 ab. Es führte aus, der Kläger könne, wie der Augenschein ergeben habe, die Verrichtungen des täglichen Lebens selbst vornehmen, er sei daher nicht hilf los. Der Kläger legte Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen ein. Das LSG holte ein Gutachten des Prof. Dr. R... von der orthopädischen Landesklinik in S... ein. Prof. Dr. R... vertrat die Auffassung, der Kläger sei nicht hilflos im Sinne des § 35 BVG. Durch Urteil vom 18. Juli 1956 hob das LSG das Urteil des SG vom 27. April 1955 und den Bescheid des Versorgungsamts A... vom 5. Oktober 1953 sowie den Widerspruchsbescheid, vom 18. März 1954 insoweit auf, als in ihnen die Pflegezulage abgelehnt wird; es erklärte den Beklagten für verpflichtet, dem Kläger ab 1. August 1953 Pflegezulage zu gewähren. An der Verhandlung, auf Grund der dieses Urteil erging, wirkten als Berufsrichter Senatspräsident Dr. Dr. N... und die Sozialgerichtsräte H... und F... mit. Zur Begründung führte das LSG aus: Die Berufung sei zulässig, es handele sich nicht um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge im Sinne von § 148 Nr. 3 SGG, denn über den Anspruch auf Pflegezulage sei bisher noch nicht entschieden gewesen; zwar habe der Kläger in seinem Einspruch gegen den Bescheid vom 2. Januar 1952 Pflegezulage beantragt; hierüber sei jedoch nicht entschieden worden, lediglich in der Begründung der Entscheidung des Beschwerdeausschusses sei ausgeführt, daß Pflegezulage nicht gewährt werden könne; die Berufung sei auch begründet, der Kläger sei hilflos im Sinne von § 35 BVG; entscheidend hierfür sei das Fehlen der linken Hand und das Fehlen des 4. und 5. Fingers der rechten Hand nebst hochgradiger Bewegungseinschränkung im Grund - gelenk des dritten Fingers; infolge dieser Körperschäden bedürfe der Kläger ständig einer Hilfe für Körperpflege, für das Instandhalten seiner Kleidung und für gewisse Verrichtungen des An- und Auskleidens; er könne wohl ohne fremde Hilfe essen, könne sich jedoch sein Essen nicht selbst zubereiten; die Voraussetzungen des § 35 BVG seien damit erfüllt. Die Revision ließ das LSG zu.

Das Urteil wurde dem Beklagten am 6. Februar 1957 zugestellt. Am 18. Februar 1957 legte er Revision ein und beantragte,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1956 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Köln als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1956 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Am 3. Mai 1957 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 6. Mai 1957 begründete er die Revision: Die Berufung sei unzulässig gewesen, in dem angefochtenen Bescheid sei nicht erstmalig über den Antrag auf Pflegezulage entschieden; der Anspruch auf Pflegezulage sei bereits in dem Bescheid vom 2. Januar 1952, spätestens aber in der Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 13. Mai 1952 abgelehnt worden; der jetzt angefochtene Bescheid betreffe deshalb eine Neufeststellung im Sinne vom § 149 Nr. SGG; das Urteil des LSG sei aber auch in der Sache selbst unrichtig, dem Kläger stehe kein Anspruch auf Pflegezulage zu; das ärztliche Gutachten, welches das LSG eingeholt habe, sei zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger nicht hilflos sei; der Kläger bedürfe allenfalls für einzelne Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens fremder Hilfe; dies begründe keinen Anspruch auf Pflegezulage.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach. § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Der Beklagte hat die Revision auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist daher zulässig; sie ist auch begründet.

An der mündlichen Verhandlung, auf die das angefochtene Urteil ergangen ist, haben als Berufsrichter außer dem Senatspräsidenten als Vorsitzenden zwei Sozialgerichtsräte mitgewirkt; der Senat ist damit nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (BSG 9, 137; 11, 22). Der Beklagte hat diesen Verfahrensmangel jedoch nicht gerügt. Ohne Rüge hat das Bundessozialgericht (BSG) die unvorschriftsmäßige Besetzung des Berufungsgerichts nicht zu berücksichtigen, weil es sich nicht um einen Verfahrensmangel handelt, der in der Revisionsinstanz "fortwirkt" (vgl. Urt. des BSG vom 28. Juli 1961 - 8 RV 637/58 -).

Das LSG hat die Berufung im Ergebnis zu Recht für statthaft gehalten. Der angefochtene Bescheid vom 5. Oktober 1953 enthält nicht eine "Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse" im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG, sondern eine neue Entscheidung über den Anspruch auf Pflegezulage; der Bescheid ist ein Verwaltungsakt; daß der Beklagte den Anspruch auf Pflegezulage damit erneut abgelehnt hat, ändert hieran nichts (BSG 10, 248). Zwar ist in dem Bescheid vorgedruckt ua auch auf § 62 Abs. 1 BVG verwiesen, der sonstige Inhalt des Bescheides sowie die Umstände, die ergänzend zur Auslegung des Bescheides heranzuziehen sind, insbesondere das ärztliche Gutachten, das dem Bescheid zugrunde liegt, lassen jedoch eindeutig erkennen, daß nicht die Frage, ob sich die Verhältnisse geändert haben oder nicht, Gegenstand der Prüfung und Entscheidung gewesen ist, daß vielmehr unabhängig von dieser Frage auf Grund neuer Ermittlungsergebnisse erneut über den Anspruch auf Pflegezulage entschieden worden ist. Auch den Einspruch des Klägers hat der Beklagte zurückgewiesen, weil "nach dem Ergebnis des bisherigen Verfahrens und der vorliegenden Unterlagen die Voraussetzungen zur Bewilligung einer Pflegezulage im Sinne des § 35 BVG nicht vorliegen." Das SG hat wohl in seinem Urteil erwähnt, daß die Voraussetzungen einer Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG nicht vorlägen, es hat aber auch entschieden, daß - unabhängig von einer Änderung der Verhältnisse - die Voraussetzungen für eine Pflegezulage nach § 35 BVG nicht gegeben seien, da - wie der gerichtliche Augenschein ergeben habe -, der Kläger die notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens selbst vornehmen könne.

Unter diesen Umständen ist die Berufung nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen gewesen.

Nach § 35 Abs. 1 BVG idF vor dem Inkrafttreten des Ersten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 27. Juni 1960 (aF) hat der Beschädigte einen Anspruch auf Pflegezulage gehabt, solange er infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege hat bestehen können. Hilflos in diesem Sinne ist der Beschädigte, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf, wobei nicht erforderlich ist, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, sondern es genügt, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG 8, 97, 99). Die Neufassung des § 35 BVG durch das Erste Neuordnungsgesetz hat insoweit nichts geändert. In § 35 BVG nF heißt es nunmehr, der Beschädigte erhalte eine Pflegezulage, solange er infolge der Schädigung so hilflos sei, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedürfe. Damit sind lediglich die Grundsätze, die bisher schon für die Gewährung der Pflegezulage maßgebend gewesen sind, in den Gesetzestext aufgenommen worden; der Begriff "Hilflosigkeit" ist gesetzlich definiert worden. Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger in der Lage ist, zB sich allein an- und auszukleiden, die Speisen zu zerkleinern und zu sich zu nehmen, sich zu waschen, sich zu rasieren und die Notdurft zu verrichten, denn hierbei handelt es sich um die tatsächlich regelmäßig wiederkehrenden und notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens; auf sie kommt es an, wenn zu entscheiden ist, ob ein im Gebrauch seiner Hände behinderter Beschädigter einen Anspruch auf Pflegezulage hat (Urteil des BSG vom 11. Juni 1959, SozR Nr. 7 zu § 35 BVG). Nicht entscheidend ist dagegen, ob der Beschädigte verheiratet ist oder nicht (BSG 8, 97, 100). Dies hat das LSG an sich nicht verkannt, seine Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um beurteilen zu können, ob der Kläger in diesem Umfang hilflos ist und sonach einen Anspruch auf Pflegezulage hat.

Das LSG hat ausgeführt, der Kläger bedürfe ständig einer Hilfe für Körperpflege, für das Instandhalten seiner Kleidung und für gewisse Verrichtungen des An- und Auskleidens; er könne wohl ohne fremde Hilfe essen, könne sich jedoch sein Essen nicht selbständig zubereiten. Es ist nicht ersichtlich, was das LSG hat feststellen wollen, wenn es den Kläger als hilfsbedürftig für "gewisse" Verrichtungen des An- und Auskleidens angesehen hat. Wenn damit im wesentlichen nur - wovon auch der Sachverständige in seinem Gutachten vom 30. Dezember 1955 ausgegangen ist - das Anlegen der Krawatte und das Zubinden der Schuhe gemeint sind, so handelt es sich insoweit nur um einzelne Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, es kann aber noch nicht davon gesprochen werden, daß der Kläger in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Es ist auch nicht hinreichend deutlich, weshalb der Kläger, wie das LSG meint, nicht in der Lage sein soll, sich allein zu waschen. Zwar fehlen dem Kläger auch der 4. und 5. Finger der ihm noch verbliebenen rechten Hand. Mangels einer gegenteiligen Feststellung des LSG muß jedoch davon ausgegangen werden, daß mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand - unbeschadet der Bewegungseinschränkung des Mittelfingers - eine zwar herabgesetzte, aber doch noch ausreichende Greiffähigkeit besteht. Bei dieser Sachlage entspricht es nicht ohne weiteres der allgemeinen Lebenserfahrung, daß der Kläger, der nach seinen eigenen Angaben allein die Speisen zu sich nehmen kann, nicht in der Lage ist, sich allein zu waschen. Daß dies für ihn - wie übrigens für jeden einseitig Armamputierten - naturgemäß beschwerlich ist, bedeutet noch nicht, daß er deswegen notwendig fremder Hilfe bedarf. Das LSG hätte deshalb darlegen müssen, aus welchen besonderen Gründen es die Überzeugung gewonnen hat, der Kläger könne sich nicht allein waschen, zumal auch in den ärztlichen Gutachten insoweit keine wesentliche Behinderung des Klägers angenommen worden ist. Entsprechendes gilt für die Feststellung des LSG, daß der Kläger sich seine Speisen nicht allein zubereiten könne, soweit dies überhaupt als zu seinem Aufgabenbereich gehörend angesehen werden kann (vgl. auch Urteil des BSG vom 25. August 1960 - 11 RV 444/60 -). Das LSG hat zwar erwähnt, der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung die "Verwendungsmöglichkeiten seiner Hand vorgeführt", es hat aber nicht im einzelnen angegeben, welches Ergebnis diese Beweiserhebung (durch Augenschein) gehabt hat. Das wäre geboten gewesen, um dem BSG die Nachprüfung zu ermöglichen, ob der Kläger hilflos im Sinne von § 35 BVG ist.

Das LSG hat zwar zutreffend angenommen, daß die Frage, ob Hilflosigkeit vorliegt, nicht allein nach ärztlichen Schlußfolgerungen beantwortet werden darf; das ändert jedoch nichts daran, daß die ärztlichen Gutachten bei der Feststellung des Sachverhalts auszuwerten sind; daran hat es das LSG fehlen lassen. Aus den Angaben des Klägers und den von ihm - ohne ärztliche Kontrolle - vorgeführten Verwendungsmöglichkeiten seiner Hand hat das LSG keine sicheren Feststellungen über die tatsächlichen Behinderungen des Klägers treffen können, zumal das SG, ebenfalls auf Grund einer Augenscheinsaufnahme, zu einem anderen Ergebnis gekommen ist als das LSG. Das LSG hat unter diesen Umständen die naheliegende Möglichkeit ausnützen müssen; durch Anhörung von Personen aus der Umgebung des Klägers (Ehefrau, Arbeitskameraden) als Zeugen den Sachverhalt weiter aufzuklären und daraus ein umfassenderes Bild darüber zu gewinnen, inwieweit der Kläger auf fremde Hilfe angewiesen ist (§ 103 SGG).

Das Urteil ist unter diesen Umständen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2308589

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