Leitsatz (amtlich)
Die Zeit des Dienstes in der SS-Verfügungstruppe vor Ausbruch des 2. Weltkrieges kann eine Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 sein, soweit die Angehörigen dieser Verbände für die Kriegsführung oder ihre unmittelbare Vorbereitung militärisch eingesetzt wurden und dabei einem Wehrmachtsbefehlshaber unterstanden.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; BVG § 2 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 7. Juli 1970 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beklagte lehnt es ab, die Dienstzeit des - 1920 geborenen - Klägers in der SS-Standarte "Deutschland", soweit sie vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges liegt (1. April 1939 bis zum 25. August 1939), als Ersatzzeit im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuerkennen (Bescheide vom 5. Juni 1969 und 7. August 1969).
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Hamburg vom 18. Dezember 1969; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Hamburg vom 7. Juli 1970). Das LSG hat auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. Februar 1957 (BSG 4, 276) und 25. Juni 1957 (SozR Nr. 9 zu § 3 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) hingewiesen und die Ausführungen von Absolon (Wehrgesetz und Wehrdienst 1935-1945 - Das Personalwesen in der Wehrmacht, 1960) berücksichtigt. Der Dienst in der SS-Verfügungstruppe im Frieden sei - so hat das LSG geschlossen - kein militärischer oder militärähnlicher Dienst im Sinne der §§ 2 und 3 BVG aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht gewesen. Für die Behauptung des Klägers, wenigstens die Angehörigen der SS-Standarte "Deutschland", die schon vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges in Ostpreußen bereitgestellt worden sei, hätten nicht dem Reichsführer-SS, sondern einem militärischen Befehlshaber unterstanden, seien keine Unterlagen ersichtlich. - Obwohl dieses Ergebnis mit dem Sinn und Zweck der Ersatzzeitenregelung schwer zu vereinbaren sei, stehe der eindeutige Gesetzeswortlaut einer anderen Entscheidung entgegen.
Mit der Revision trägt der Kläger vor, sein Dienst in der SS-Verfügungstruppe sei schon vor Kriegsbeginn Dienst nach deutschem Wehrrecht gewesen. Die SS-Standarte "Deutschland" sei schon damals der Wehrmacht unterstellt gewesen und habe mit dieser in Ostpreußen operiert. Zwar habe er sich freiwillig zu dieser Truppe gemeldet; er habe aber unter einem inneren Zwang gehandelt, um seinen -politisch gefährdeten - Vater zu schützen. In Wahrheit sei er nur einer Einberufung zur Wehrmacht zuvorgekommen.
Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG und des SG sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, die Zeit vom 1. April 1939 bis zum 25. August 1939 als Ersatzzeit anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) in B hat dem Kläger unter dem 20. August 1970 folgende Auszüge aus der von Klietmann herausgegebenen Dokumentation,
Die Waffen-SS, zur Kenntnis gebracht:
"Der Oberbefehlshaber des Heeres - 2. Abt.
(III A) Gen St d H - Nr. 1580/38 g. Kdos. "Der Führer und Reichskanzler hat den Ob. d. H. mit der Vorbereitung der SS-Verf.-Truppe auf ihre Verwendung im Rahmen des Kriegsheeres beauftragt und folgende Truppenteile der SS-Verf.-Truppe dem OKH im X- bzw. Mob.-Fall zur Verfügung gestellt:
u. a. die SS-Standarte Deutschland."
Mit dem 10. Oktober 1939 begann auf dem Truppen-Übungsplatz B bei P die Aufstellung der ersten Division der Waffen-SS. Hierzu wurden die bisher im Verbande des Heeres stehenden Einheiten der SS-Verfügungstruppe aus dem Kriegsheer herausgezogen und die Division durch den Reichsführer-SS - SS-Hauptamt bzw. Inspektion SS-V. T. - aufgestellt.
Zur Bildung dieser Division stand u. a. die SS-Standarte Deutschland zur Verfügung.
Einzelheiten über die Truppenbewegung und das unmittelbare Unterstellungsverhältnis der Standarte bis Oktober 1939 sind nicht bekannt. Diesbezügliche Ermittlungsmöglichkeiten bestehen nicht mehr."
Das Bundesarchiv - Militärarchiv -, F, hat dem Kläger mit Schreiben vom 31. August 1970 mitgeteilt:
"Aktenmäßige Unterlagen der SS-Standarte "Deutschland" (auch SS-Regiment "Deutschland" genannt) über die Mobilmachungszeit und über den Einsatz im Polenfeldzug sind hier nicht vorhanden, jedoch konnte aus anderen amtlichen Unterlagen und aus Zweitquellen folgendes festgestellt werden: Das SS-Rgt. "Deutschland" wurde am 15. Juli 1939 im Eisenbahntransport nach Stettin verbracht und dort auf Frachtschiffe verladen. Die Frachter wurden ab 19. Juli 1939 in P entladen; das Rgt. "D" erreichte auf dem Marschwege den Truppenübungplatz S. Hier erfolgte ab 10. August 1939 die Eingliederung des SS-Rgt. "D" in den "Panzerverband Ostpreußen" (genannt: Panzerdivision Kempf).
Zum ersten Mal wurde hier eine Panzer-Division aufgestellt die aus Verbänden des Heeres und der SS-Verfügungstruppe zusammengesetzt war."
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Der Kläger ist durch das angefochtene Urteil und durch die Bescheide der Beklagten beschwert. Er hat ein Rechtsschutzbedürfnis auf die genaue Feststellung seines "Versicherungsverlaufs", selbst wenn nur einige Tage (etwa des Monats August 1939) zusätzlich als Ersatzzeit anzuerkennen sein sollten. Bei der Berechnung einer Leistung aus der Rentenversicherung brauchen sich Teile eines Kalendermonats nicht immer auszuwirken; hier handelt es sich jedoch nicht um einen Leistungsstreit, sondern um einen Streit über die tatsächliche Dauer einer Ersatzzeit mit dem Ziel, sie in den Versicherungsunterlagen festzuhalten.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Kläger auch in der Zeit vom 1. April 1939 bis zum 25. August 1939 - wenigstens zeitweilig - eine Ersatzzeit im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO zurücklegte. Sein Dienst in der SS-Standarte "Deutschland", die zur SS-Verfügungstruppe gehörte, kann anrechenbar sein, soweit er als Angehöriger dieses Verbandes für die Kriegsführung oder ihre unmittelbare Vorbereitung militärisch eingesetzt wurde und dabei einem Wehrmachtsbefehlshaber unterstand.
Für die Erfüllung der Wartezeit werden Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG, der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht geleistet worden ist, als Ersatzzeiten angerechnet. Als militärischer Dienst kommt "jeder nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat" (§ 2 Abs. 1 Buchst. a BVG), als militärähnlicher Dienst kommt der "auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht geleistete freiwillige und unfreiwillige Dienst" (§ 3 Abs. 1 Buchst. b BVG) in Betracht. Die weiteren Tatbestände der genannten Vorschriften scheiden für die Beurteilung des vorliegenden Falles aus.
Die Frage, ob der Dienst in der nach Kriegsausbruch gebildeten Waffen-SS militärischer Dienst war, ist umstritten (vgl. dazu BSG in SozR Nr. 8 zu § 2 BVG); sie braucht auch in diesem Rechtsstreit nicht abschließend entschieden zu werden. Während seiner Zugehörigkeit zur SS-Verfügungstruppe, einer Vorgängerin der Waffen-SS, leistete der Kläger jedenfalls vor Kriegsausbruch keinen Dienst nach deutschem Wehrrecht als Soldat im Sinne des § 2 Abs. 1 Buchst. a BVG (vgl. dazu BVerwGE 9, 23, 25). Die SS-Verfügungstruppe war nach der Anordnung Hitlers vom 17. August 1938 ("Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg", Band XXVI S. 190, Dokument 647-PS) kein Teil der Wehrmacht, sondern eine Gliederung der NSDAP. Die genannte Anordnung charakterisiert die Stellung der SS-Verfügungstruppe, auch wenn sie ihren Angehörigen selbst nicht bekannt und dazu bestimmt gewesen sein sollte, das Mißtrauen der Wehrmacht gegen die SS zu beseitigen (vgl. Reitlinger, Die SS, Tragödie einer deutschen Epoche, 1957, S. 89). Sie steht in Einklang mit der Gesetzgebung jener Zeit. Gerade der Umstand, daß die gesetzliche aktive Dienstpflicht (§ 8 des Wehrgesetzes - WG -) durch einen Dienst von gleicher Dauer in der SS-Verfügungstruppe nicht erfüllt wurde, sondern - nur - als erfüllt galt, bestätigt die Auffassung des Senats.
Der Kläger kann aber militärähnlichen Dienst geleistet haben. § 3 Abs. 1 Buchst. b BVG setzt voraus, daß es sich um einen Dienst - und zwar unabhängig davon, ob er als militärischer angesehen werden kann oder nicht - auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht handelte. Hierunter fällt grundsätzlich der Dienst in den bewaffneten Verbänden der SS insoweit, als er im Kriegseinsatz und unter dem Befehl der Wehrmacht geleistet wurde; es genügt aber bereits, daß die Angehörigen der bewaffneten SS-Verbände zusammen mit der Wehrmacht und unter ihrem Befehl für die gleichen Zwecke und Aufgaben eingesetzt waren (BSG aaO). Ein solcher Einsatz der SS-Verfügungstruppe war für den "Mob. Fall" bereits in der Anordnung Hitlers vorgesehen. Soweit die SS-Verfügungstruppe nicht im Innern des Reiches benötigt würde, sollte sie durch den Oberbefehlshaber des Heeres im Rahmen des Kriegsheeres verwendet werden und dann ausschließlich den militärischen Gesetzen und Bestimmungen unterstehen, wenn sie auch politisch eine Gliederung der NSDAP blieb. Die Entscheidung über Zeitpunkt, Stärke und Form der Eingliederung der SS-Verfügungstruppe in das Kriegsheer behielt sich Hitler nach Maßgabe der innenpolitischen Lage persönlich vor. Sofern nicht besondere Umstände zu einer anderen Beurteilung führen, ist anzunehmen, daß die tatsächliche Unterstellung von Verbänden der SS-Verfügungstruppe unter Wehrmachtsbefehl die Eingliederung in das Kriegsheer darstellte, wie sie in der Anordnung Hitlers vorgesehen war. Ohne Bedeutung ist dabei der Zeitpunkt des Kriegsausbruches oder der der allgemeinen Mobilmachung (26. August 1939). Wie die Wehrmacht selbst konnte auch die SS-Verfügungstruppe militärische Aufgaben schon vorher erfüllen. So stand z. B. der Aufmarsch der Truppen in die Bereitstellungsräume in unmittelbarer Beziehung zu dem eigentlichen Kriegseinsatz. Die Bildung gemeinsamer Kampfeinheiten aus Verbänden der Wehrmacht und der SS-Verfügungstruppe stand mit dem Kriegseinsatz in noch engerem Zusammenhang. Der Kläger macht demnach - wovon auch das LSG ausgegangen ist mit Recht geltend, daß es für die Entscheidung darauf ankommt, ob er schon vor dem 26. August 1939 für Zwecke der Wehrmacht einem Wehrmachtsbefehlshaber unterstellt war.
Nach der Auffassung des Senats sind in diesem Fall auch die übrigen Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO erfüllt. Der militärähnliche Dienst vor Kriegsausbruch mußte auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht geleistet worden sein. Nach den §§ 1, 2 WG war die Dienstpflicht in der Wehrmacht abzuleisten; dazu gehörte der Dienst in der SS-Verfügungstruppe bis zum Kriegsausbruch grundsätzlich nicht (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S 674 e und 674 f mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BSG). Die SS-Verfügungstruppe ergänzte sich zwar aus der Zahl der Wehrpflichtigen, dies jedoch durch eigene Werbung von längerdienenden Freiwilligen (vgl. Absolon, Wehrgesetz und Wehrdienst 1935-1945, Das Personalwesen der Wehrmacht, 1960 S. 159). Der Wehrpflichtige, der sich vor der Einberufung freiwillig zum Wehrdienst meldete, leistete allerdings auf Grund der gesetzlichen Wehrpflicht Dienst; er bestimmte durch seine Meldung nur den früheren Beginn seiner Dienstleistung (vgl. BSG in SozR Nr. 54 zu § 1251 RVO). Ein Wehrpflichtiger, dessen Dienst in einer bewaffneten Truppe als Erfüllung der gesetzlichen aktiven Dienstpflicht galt, kann nicht anders behandelt werden. Er unterlag der gesetzlichen Dienstpflicht jedenfalls von dem Zeitpunkt an, in dem er für militärische Aufgaben - nicht nur für allgemeine Zwecke der Wehrmacht - einem Wehrmachtsbefehlshaber unterstellt wurde. Tatsächliche Grundlage dieser Dienstleistung war dann wohl noch sein freiwilliger Eintritt in die bewaffnete Truppe; rechtlich wer er aber zum militärischen Dienst im Rahmen der Wehrmacht in erster Linie durch die Vorschriften des WG verpflichtet, ohne daß er sich etwa unter Berufung auf sein Dienstverhältnis zu einem anderen Verband der Verpflichtung zum echten Wehrdienst entziehen konnte.
Der Kläger war in der Zeit, auf die es ankommt, 19 Jahre alt und damit wehrpflichtig. Sein Dienst in der SS-Standarte "Deutschland" galt als Dienst zur Erfüllung der gesetzlichen aktiven Dienstpflicht. Sollte sein Vorbringen richtig sein, daß er schon vor dem 26. August 1939 militärischen Dienst unter dem Oberbefehl der Wehrmacht verrichtete, so ist die entsprechende Zeit als Ersatzzeit anzurechnen.
Das LSG hat in dieser Richtung die notwendigen Beweise zu erheben. Es kann sich nicht mit der Bemerkung begnügen, daß Beweismittel nicht ersichtlich seien. Das Gegenteil ergibt sich aus den Schriftstücken, die der Kläger im Revisionsverfahren vorgelegt hat. Im übrigen kommt auch ein Beweis durch Zeugen in Betracht.
Hiernach ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Pflicht zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen