Leitsatz (amtlich)
1. Eine als gerichtsbekannte angesehene Tatsache darf der Urteilsfindung nur dann zugrunde gelegt werden, wenn das Gericht zuvor unmißverständlich darauf hingewiesen hat, daß ihm diese Tatsache gerichtsbekannt ist; den Beteiligten muß Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden sein.
2. Zum Begriff der Allgemeinkunde.
Normenkette
SGG §§ 62, 128 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. November 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die 1910 geborene Klägerin, die seit 1. November 1971 Altersruhegeld erhält, bezog vom 1. Dezember 1968 bis 31. Oktober 1971 von der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsrente; sie erstrebt statt dessen eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision nicht zugelassen.
Die Klägerin hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur neuen Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Neben der Rüge eines Verstoßes gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (Verletzung der Sachaufklärungspflicht) macht sie geltend, das LSG habe seine Feststellung, für die Klägerin in Betracht kommende Teilzeitbeschäftigungen seien auf dem Arbeitsmarkt im Bereich von K in ausreichender Zahl vorhanden, nicht lediglich auf die Annahme stützen dürfen, dies sei allgemeinkundig und gerichtsbekannt. Offenkundigkeit mache zwar eine weitere Beweiserhebung grundsätzlich überflüssig; offenkundige Tatsachen könnten aber nur dann verwertet werden, wenn sie zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden seien. Das sei nicht geschehen. Die vom LSG als offenkundig angesehene Tatsache sei aber auch gar nicht allgemeinkundig. Was für das LSG "gerichtsbekannt" sei, könne die Klägerin nicht wissen, da sie in der mündlichen Verhandlung nicht darüber belehrt worden sei. Zum Beweis der Richtigkeit ihres Vorbringens hat sich die Klägerin auf das Zeugnis der Prozeßbeteiligten berufen. Der Senat hat die Berufsrichter, die in der mündlichen Verhandlung vom 23. November 1971 mitgewirkt haben, zu dienstlichen Äußerungen veranlaßt, die den Beteiligten mitgeteilt wurden.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die nicht zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Die Klägerin hat in der gesetzlich gebotenen Form (§ 164 Abs. 2 SGG) einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG, nämlich einen Verstoß gegen § 128 SGG, gerügt (BSG 1, 150).
Wie die Gründe des angefochtenen Urteils ergeben, ist das LSG davon ausgegangen, daß die Klägerin imstande sei, für die Dauer von drei bis vier Stunden täglich einer vorwiegend sitzenden Tätigkeit nachzugehen; es hat dazu ausgeführt: "Solche Teilzeitbeschäftigungen wie beispielsweise die als Kontoristin, Schreib- oder Bürohilfskraft sind auf dem Arbeitsmarkt im Bereich von K in ausreichender Zahl vorhanden". Die Begründung hierfür lautet: "Das ist allgemeinkundig und gerichtsbekannt". Diese sowohl auf Allgemeinkunde als auch auf Gerichtskunde gestützte Begründung hält der Revision nicht stand.
Allgemeinkundige Tatsachen müssen entgegen der Meinung der Revision zwar nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden sein; sie bedürfen auch keiner weiteren Begründung im Urteil. Die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache muß jedoch unzweifelhaft gegeben sein. Die Revision macht zu Recht geltend, daß die vom LSG festgestellte Tatsache nicht allgemeinkundig sei. Allgemeinkundige Tatsachen sind in der Regel nur bestimmte konkrete Tatsachen wie beispielsweise historische Ereignisse, allgemein anerkannte wissenschaftliche Wahrheiten und dergl. (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilrechts, 8. Aufl., S. 552). Die hier getroffene Feststellung ist demgegenüber in mehrfacher Hinsicht viel zu unbestimmt, um als allgemeinkundige Tatsache angesehen werden zu können. Das gilt insbesondere für den Begriff "in ausreichender Zahl", weil hieraus nicht deutlich wird, ob das LSG die im Verweisungsgebiet vorhandenen, für die Klägerin in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze und die Interessenten für solche Beschäftigungen zahlenmäßig miteinander verglichen und dabei die in den Entscheidungen des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 (GS 2/68 und 4/69) festgelegte Verhältniszahl 75 : 100 zugrunde gelegt hat. Aber auch die Begriffe "solche Teilzeitbeschäftigungen wie beispielsweise die als Kontoristin, Schreib- oder Bürohilfskraft" und "der Bereich von Krefeld" enthalten zu viele Unbestimmtheiten, die es ausschließen, hier eine jederzeit feststellbare Allgemeinkundigkeit zu bejahen.
Auch die zusätzliche Begründung des LSG, die von ihm getroffene Feststellung sei "gerichtsbekannt", macht das angefochtene Urteil nicht unangreifbar. Gerichtskundig ist eine Tatsache, die der Richter kraft seines Amtes kennt. In der Regel ist zwar davon auszugehen, daß die in der Rentenversicherung tätigen Berufsrichter auf Grund ihrer richterlichen Praxis Erfahrungen und Sachkunde für die Beurteilung der Frage, ob Teilzeitarbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden sind, gewinnen. Eine gerichtskundige Tatsache muß jedoch zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden; andernfalls liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs - § 62 SGG - vor (BSG 22, 19, 20, Beschluß des BVerwG vom 11. April 1972, ZLA 1972, 145). Sieht das Gericht eine Tatsache als gerichtskundig an, so muß es also die Beteiligten darauf hinweisen. Dabei genügt es nicht, nur zu sagen, was das Gericht als festgestellt ansehen will; vielmehr muß das Gericht auch unmißverständlich deutlich machen, daß ihm die festzustellende Tatsache gerichtsbekannt ist. Das Unterlassen eines solchen Hinweises wird von der Klägerin mit Recht gerügt. Die dienstlichen Äußerungen der beiden LSG-Räte lassen nicht erkennen, daß ein derartig unmißverständlicher Hinweis gegeben worden ist. Die Klägerin konnte aus den Erklärungen des Gerichts allenfalls schließen, das LSG wolle möglicherweise das Vorhandensein von für sie in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätzen im Bereich Krefeld als gerichtsbekannt ansehen. Das reicht aber nicht aus. Die Beteiligten müssen sich darüber im klaren sein, daß sich das Gericht tatsächlich auf eine Gerichtskunde stützen will. Dann erst können sie prüfen, wie die Gerichtskunde zustande gekommen ist, auf welche konkrete Tatsache sie sich bezieht, ob etwa der Begriff Gerichtskunde verkannt worden ist usw.. Im vorliegenden Fall war ein Hinweis des Gerichts um so mehr erforderlich, weil - wie schon dargelegt - das LSG bei seiner Feststellung von äußerst unbestimmten Merkmalen ("Solche Teilzeitbeschäftigungen wie beispielsweise ..." und "in ausreichender Zahl") ausgegangen ist. Dadurch, daß es jene von ihm als gerichtskundig angesehene Tatsache nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hat, hat das LSG den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt und damit zugleich auch gegen § 128 Abs. 2 SGG verstoßen, weil das Urteil nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich haben äußern können.
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob auch das weitere Revisionsvorbringen die Revision hätte statthaft machen können.
Die Revision ist auch begründet; denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei richtiger Verfahrensweise zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Weil der Senat die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, ist somit das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei seiner abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
NJW 1973, 392 |
MDR 1973, 346 |