Leitsatz (amtlich)

Eine Krankenkasse darf Krankenhauspflege nicht mit der Begründung versagen, der Versicherte habe sich die Krankheit durch durch eigenes vorwerfbares Verhalten (Verursachung eines Verkehrsunfalls infolge übermäßigen Alkoholgenusses) zugezogen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Für die Ermessensentscheidung der Krankenkasse nach RVO § 184 bleibt stets das Bedürfnis nach sachgemäßer ärztlicher Versorgung und Pflege des Versicherten ausschlaggebend. Mit diesem Zweck der Krankenversicherung ist es unvereinbar, die Leistung davon abhängig zu machen, auf welche Ursache eine Erkrankung zurückzuführen ist. Für die Gewährung von Krankenhauspflege kann grundsätzlich nur die Art und Schwere einer Krankheit entscheidend sein.

 

Normenkette

RVO § 184 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. August 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der bei der beklagten Innungskrankenkasse (IKK) versicherte Arbeiter S (S.) erlitt am 25. Juli 1958 als Radfahrer infolge übermäßigen Alkoholgenusses auf dem Wege von der Arbeitsstätte in seine Wohnung bei einem Zusammenstoß mit einem Mopedfahrer Verletzungen, die vom 25. Juli 1958 bis zum 1. September 1958, vom 23. September 1958 bis zum 3. Oktober 1958 und vom 24. Oktober 1958 bis zum 3. November 1958 stationäre Krankenhausbehandlung erforderlich machten. Das Amtsgericht B verurteilte S. am 13. November 1958 wegen fahrlässiger Verkehrsgefährdung zu zwei Wochen Gefängnis; sein Blutalkoholgehalt bei dem Unfall hatte 2,15 0 / 00 betragen. Die Beklagte lehnte die Übernahme der Kosten der Krankhauspflege sowohl dem Krankenhaus als auch gegenüber S. ab, weil er den Unfall selbst verschuldet habe. Daher übernahm der Landkreis B - Bezirksfürsorgeverband - die Kosten der Krankenhausbehandlung, deren Übernahme die Beklagte gleichfalls ablehnte.

Mit der vorliegenden Klage fordert der Bezirksfürsorgeverband von der Beklagten die Erstattung seiner Aufwendungen in Höhe von 902,80 DM. Das Sozialgericht (SG) gab ihr statt: Die Ursache der Erkrankung des S. sei unerheblich; die Ablehnung der Krankenhauspflege beruhe auf pflichtwidrigem Gebrauch des Ermessens.

Die Beklagte, die gegen das Urteil des SG Berufung einlegte, bestritt nicht, daß die Art der Verletzungen Krankenhauspflege erforderlich gemacht habe. Die Gewährung von Krankenhauspflege habe trotzdem in ihrem pflichtgemäßen Ermessen gestanden. Sie habe bei der Ablehnung berücksichtigt, daß der Versicherte den Unfall durch übermäßigen Alkoholgenuß verursacht habe, daher sei es der Versichertengemeinschaft nicht zuzumuten, die Kosten zu tragen; sie - die beklagte Krankenkasse - sei nur bereit, dem klagenden Fürsorgeverband das dem Versicherten zustehende Krankengeld sowie einen Abgeltungsbetrag von 1,- DM für jeden Tag der Krankenhausbehandlung zu zahlen.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung zurück: Wenn eine Krankenkasse bei der Gewährung von Krankenhauspflege mit Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Lage eine Auswahl unter den Versicherten treffen müsse, so könne dafür allein der Grad des medizinischen Bedürfnisses maßgebend sein. Die Krankenkasse sei zwar berechtigt, eine vielleicht angezeigte, aber nicht unbedingt gebotene Krankenhauspflege zu versagen, sie dürfe aber den Kreis der Leistungsberechtigten nicht danach abgrenzen, auf welche Umstände der Versicherungsfall zurückzuführen sei und ob ihn der Versicherte durch eine strafbare Handlung verschuldet habe. Eine Berücksichtigung der Ursache, die zu der Krankheit geführt habe, beruhe auf sachfremden Erwägungen. Der Vorschrift des § 192 der Reichsversicherungsordnung (RVO) liege nicht der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, daß außer dem Krankengeld auch andere Leistungen versagt werden könnten, wenn der Versicherungsfall schuldhaft durch eine strafbare Handlung herbeigeführt worden sei; daraus, daß in den Fällen des § 192 RVO nur das Krankengeld versagt werden dürfe, sei zu folgern, daß andere Leistungen der Krankenversicherung ohne Rücksicht auf ihre Verursachung in jedem Falle gewährt werden müßten; Krankenpflege dürfe nicht ausgeschlossen werden, mithin auch nicht die an ihre Stelle tretende Krankenhauspflege. Danach sei der Ersatzanspruch des Klägers begründet (§§ 1531 ff RVO). Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das Urteil des LSG, das ihr am 29. August 1960 zugestellt worden ist, am 19. September 1960 Revision eingelegt mit dem Antrag,

die Urteile der Vordergerichte aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Mit einem beim Bundessozialgericht (BSG) am 10. Oktober 1960 eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte die Revision begründet: Die Rechtsprechung bejahe einhellig, daß der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung durch Fahruntüchtigkeit infolge Alkoholgenusses verloren gehe; die Grenze liege bei einem Blutalkoholwert von 1,5 0 / 00 . Da der Blutalkoholgehalt bei dem Versicherten zur Zeit des Unfalls 2,15 0 / 00 betragen habe, sei die Krankheit zumindest grob fahrlässig herbeigeführt worden. Die Krankenkasse handele nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie unter diesen Umständen es ablehne, dem Versicherten Krankenhauspflege zu gewähren.

II

Die vom LSG nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet.

Zu Recht ist das LSG bei der Beurteilung des vorliegenden Ersatzanspruchs (§§ 1531 bis 1533 RVO) von den Grundsätzen ausgegangen, die das BSG bereits zur Frage der Leistungspflicht bei Sportunfällen aufgestellt hat (vgl. BSG 9, 232). Zwar handelt es sich bei der Krankenhauspflege (§ 184 RVO) um eine Ermessensleistung. Die Ablehnung einer Ermessensleistung ist aber dann rechtswidrig, wenn der Versicherungsträger die gesetzlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. § 54 Abs. 2 SGG). Ausschlaggebend für die Ermessensentscheidung der Krankenkasse nach § 184 RVO bleibt stets das Bedürfnis nach sachgemäßer ärztlicher Versorgung und Pflege des Versicherten. Mit diesem Zweck der Krankenversicherung ist es aber unvereinbar, die Leistung davon abhängig zu machen, auf welche Ursachen eine Krankheit zurückzuführen ist. Vielmehr kann für die Gewährung von Krankenhauspflege grundsätzlich nur die Art und Schwere einer Krankheit entscheidend sein.

Eine Einschränkung der Leistungspflicht der Kasse kann insbesondere nicht aus § 192 RVO entnommen werden, auf den sich die Beklagte zu Unrecht beruft. Die hier vorgesehene Ermächtigung, durch die Satzung in genau umschriebenen Fällen das Krankengeld ganz oder teilweise zu versagen, rechtfertigt es nicht, eine medizinisch notwendige Krankenhausbehandlung über die in § 192 RVO genannten Fälle hinaus mit der Begründung zu verweigern, der Versicherte habe den behandlungsbedürftigen Zustand durch grobes Verschulden selbst herbeigeführt. Abgesehen davon, daß die Satzung nach § 192 RVO nur das Krankengeld unter ganz bestimmten Voraussetzungen versagen darf, läßt gerade die Aufzählung einzelner genau umgrenzter Sachverhalte in dieser Vorschrift erkennen, daß die Leistungen der Krankenversicherung im übrigen nicht von der Ursache der Erkrankung abhängig gemacht werden dürfen. Dies würde auch mit dem Zweck der Krankenversicherung, die Arbeitsfähigkeit des Versicherten durch die am besten geeignete Behandlung alsbald wiederherzustellen, nicht vereinbar sein. Die Unzulässigkeit der entsprechenden Anwendung des § 192 RVO auf Sachverhalte, die in dieser Vorschrift nicht genannt sind - wie Trunkenheit am Steuer - ergibt sich auch überzeugend aus der in der Grundsätzlichen Entscheidung des Reichsversicherungsamts Nr. 1988 (AN 1915 S. 426, hier 428) dargelegten Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift.

Auch die Erwägungen der Beklagten über den Wegfall des Schutzes der gesetzlichen Unfallversicherung bei einem durch Alkoholeinwirkung herbeigeführten Unfall (vgl. BSG 12, 242) können zu keinem anderen Ergebnis führen. Denn die Versicherten sind in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht gegen alle Unfälle versichert, von denen sie betroffen werden können, sondern nur unter der Voraussetzung, daß sie einen Unfall bei einer versicherten Tätigkeit erleiden (§ 542 Abs. 1, § 543 RVO). Während also in der gesetzlichen Unfallversicherung nur in bestimmter Weise verursachte Unfälle einen Anspruch auf Leistungen begründen, ist in der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich bei allen den Versicherten treffenden Krankheiten Versicherungsschutz gegeben. Für diese gesetzliche Regelung spricht auch die Erwägung, daß die Verwaltungsaufgaben der Krankenkassen in einer für die notwendig schnelle Leistungsgewährung unerträglichen Weise vermehrt würden, wenn die Krankenkasse vor jeder Leistungsgewährung klären müßte, ob der Versicherte die Krankheit schuldhaft herbeigeführt hat. Eine solche Prüfung aber auf die Frage zu beschränken, ob die Krankheit durch Alkoholgenuß verursacht worden ist, fände im geltenden Recht keinerlei Grundlage.

Das LSG hat somit - gleich dem SG - zutreffend entschieden, daß die Beklagte den vom Kläger erhobenen Ersatzanspruch zu erfüllen hat. Da über die Höhe des Ersatzanspruchs kein Streit besteht, ist die Berufung der Beklagten mit Recht zurückgewiesen worden. Mithin konnte auch ihre Revision keinen Erfolg haben; sie war nach § 170 Abs. 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324089

BSGE, 240

NJW 1961, 1278

MDR 1961, 632

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